
Etwa zur selben Stunde, als sich dieses Gespräch zwischen dem Rotgewandeten und yarl Grootplen zutrug, kam in Valvivant der teirand wieder zu sich. Verta atmete auf. Endlich hatte das rätselhafte Wundermittel gewirkt. Verta hörte ihren Herrn stöhnen und eilte an das Bett hinüber. Die alte doayra hatte an der Seite des Monarchen ausgeharrt und war dabei eingenickt.
„Nein!”, wimmerte Benjus von Valvivant fiebrig. „Nein…”
„Alles ist gut, Majestät”, beschwichtigte Verta ihn. „Ihr seid in Sicherheit!”
„Wer ist da?”, wisperte der teirand panisch.
„Ich bin es, Verta, die doayra. Wisst Ihr, wer und wo Ihr seid?”
Der teirand blinzelte. Die alte Frau zog das Nachtlicht näher an ihn heran, so dass er besser schauen konnte. Sie strich ihm beruhigend über die Stirn.
„Ist er fort?”, flüsterte er mit trockener Kehle.
„Wer soll fort sein, Majestät?”
Der teirand stöhnte und versuchte, sich aufzurichten. Verta ließ ihn gewähren. Mit kundigem Blick schloss sie, dass er langsam wieder zu Kräften kam.
„Mir ist schwindelig”, sagte er. „Wie… wie spät ist es?”
„Ihr wart einen ganzen Tag ohne Besinnung.”
Er saß nun in seinen Kissen und schaute sich verunsichert in seinem Gemach um. Verta nahm mit einem Kienholz von der Flamme der Nachtlaterne und zündete mehrere Kerzen an. Je heller das Zimmer erleuchtet wurde, desto mehr schien der Regent sich zu beruhigen.
„Entsinnt Ihr Euch, was geschehen ist, Majestät?”
„Der Magier…”, raunte der teirand. „Bei den Mächten….”
„Ein Magier?” Verta schüttelte das Feuer aus und warf ihrem Herrn einen raschen Blick zu. „Etwa … der Schattensänger?”
Benjus von Valvivant starrte ins Leere. Er antwortete nicht sofort. Aber dann nickte er langsam. „Ja … der Schwarzmantel…”
„Der Schwarzmantel war hier?”
„Erinnerst du dich nicht? Abends, beim Essen… der báchorkor… und dann…”
„Ich gehe und hole den mynstir!”
„Nein!”, begehrte der teirand panisch auf. „Lass mich nicht allein!”
Verta war schon bei der Tür. „Isan!”, rief sie. Und noch einmal „Isan!”
Doch das Mädchen war nicht in Hörweite. Die alte doayra ärgerte sich. Sie hatte ihrer Gehilfin ausdrücklich auferlegt, sich nicht zu weit zu entfernen. Vermutlich trieb das junge Ding sich wieder in der Nähe der Gastgemächer herum, wo yarl Althopian unter Arrest stand. Wo sollte das nur hinführen?
Dafür hatte yarl Tjiergroen Vertas Rufe gehört und eilte herbei. Offenbar hatte der Ritter, für alle Eventualitäten gerüstete, unaufgefordert in der Nähe des Audienzgemachs ausgeharrt. Die alte Frau machte dem mynstir Platz.
„Tjiergroen”, rief Benjus von Valvivant und schickte sich unbeholfen an, von seiner Liegestatt aufzustehen. „Auf! Auf die Pferde! Nehmt alle Männer mit, die Ihr finden könnt! Er darf uns nicht entkommen!”
„Wer darf nicht entkommen?”, fragte der Ritter und bekam den teirand gerade noch zu fassen, bevor dieser, verheddert in seinen Betttüchern, zu Fall kam.
„Der Schattensänger!”, fauchte der teirand ungeduldig. „Noch ist es nicht zu spät! Noch… was steht Ihr hier herum? Ihr sollt …”
„Majestät!”, verschaffte Verta sich in ihrem strengsten Ton Gehör. „Nun besinnt Euch doch erst einmal!”
„Bitte!” Von einem Augenblick zum anderen wandelte sich Benjus von Valvivants Zorn zum jämmerlichen Flehen. „Es ist noch nicht zu spät! Wenn wir den Schwarzmantel lebend ergreifen, dann…”
Er unterbrach sich, wie einer, der sich gerade noch rechtzeitig besinnt.
„Tjiergroen”, wiederholte er dann, nun etwas beherrschter, „ruft Eure Leute zusammen und bringt den Schattensänger mitsamt seiner verfluchten Dirne augenblicklich herbei!”
„Majestät”, entgegnete der mynstir eindringlich, „das hat doch keinen Sinn! Wenn es der camat’ay war, der es wagte, Euch so zuzusetzen, dann ist er längst über alle Berge! Es ist Zeit vergangen!”
„Dann müsst Ihr Euch eben beeilen!”
„Herr! Wem sollten wir nachsetzen? Einem Schatten etwa?”
„Wollt Ihr einem Befehl verweigern?”, fauchte der teirand. „Ist das ein Verrat?”
„Herr Léur hat Recht”, schaltete Verta sich ein. „Denkt selbst darüber nach und erzürnt Euch nicht. Es muss einen anderen Weg geben! Der Schattensänger hat das teirandon sicher längst verlassen. Magier müssen sich nicht an den Erdboden halten!”
Der teirand schluchzte auf. Der Ritter wandte sich peinlich berührt ab. Verta trat an seine Seite.
„Es wird ihm guttun, wenn er sich ausweint”, raunte sie yarl Tjiergroen zu. „Offenbar wurden wir alle Opfer einer üblen Zauberei! Oder erinnert Ihr Euch etwa, dass ein Schattensänger gestern Nacht hier war? Als báchorkor verkleidet, wie es scheint?”
Léur Tjiergroen erstarrte. Die Erwähnung eines fahrenden Musikanten löste offenbar etwas in seinen Gedanken los. Den Fetzen einer Erinnerung, aber das reichte aus.
„Da war etwas”, murmelte er. „Ja. Einer der Torposten kam herein und sagte, es stünde einer draußen auf der Brücke. Aber was weiter geschah … seltsam. Es ist, als fehle mir Zeit in meinem Verstand.”
„Wer auch immer ihn eingelassen hat”, sagte der teirand finster, „wird es bitter zu verantworten haben.”
„Herr”, sagte Tjiergroen vorsichtig, „Ihr selbst habt erlaubt, dass jener báchorkor die Burg betritt. Eure Worte sind mir noch klar im Ohr. Entsinnt Euch. Euch war nach Zerstreuung nach der erfolglosen Jagd.”
Der teirand kniff die Lippen zusammen. Er konnte seinem mynstir nicht widersprechen.
„Das wird er mir bezahlen”, zürnte er. „Dreistigkeit! Des Tags verbirgt er sich vor mir, nachts kommt er unverfroren ins Haus hinein!”
„Wenigstens wissen wir nun, das yarl Althopian unschuldig ist an dem, was unserem teirand zugestoßen ist.” Verta schickte sich an, das schweißnasse Bettlaken zusammenzulegen, aber Benjus von Valvivant hielt daran fest. In seine unruhig flackernden Augen trat ein berauschter Glanz, der den Ritter und die doayra beunruhigte.
„Althopian!” Der teirand haschte nach dem neuen Ziel für seine Wut. „Er war es! Der hat den Schwarzmantel hergebracht! Bringt mir den Kerl her! Auf Knien will ich ihn hier vor mir sehen! Ich …” Der heiße Wutanfall ging wieder in weinerliches Schluchzen über.
„In der Tat hat Althopian gelogen, wenn er behauptet, nichts von einem camat’ay in der Halle zu wissen”, sagte Tjiergroen nachdenklich in Vertas Richtung.
„Natürlich hat er gelogen!”, schnappte der teirand. „Die beiden haben miteinander geredet! Miteinander Ränke geschmiedet! Und all das, während mein gesamtes Gesinde und meine Ritter mich im Stich gelassen haben! Euch eingeschlossen, Tjiergroen!”
„Wenn das so geschehen ist”, sagte Verta, „dann muss es ein schrecklicher Zauber gewesen sein, der uns alle betäubt hat. Eine unverzeihliche Schandtat, wie man es von den Schwarzmänteln erwartet.”
„Was steht Ihr untätig herum, Tjiergroen! Mach Euer Versagen ungeschehen! Nehmt den Verräter gefangen!”
„Majestät! Sagt mir nur eine Sache, damit ich weiter handeln kann, bis Ihr Euch selbst wieder dazu in der Lage fühlt! War es Waýreth Althopian mit eigener Hand, der Euch so übel zugerichtet hat?”
Der teirand warf seinem Ritter einen verdutzten Blick zu und begann dann, hysterisch zu prusten. „Was? Waýreth Althopian? Mich?” Er musste husten vor Lachen, besann sich und fügte unheilvoll hinzu: „Nein. Aber das soll ihn nicht retten!”
„Bei den Mächten”, murmelte Verta. Tjiergroen seufzte.
„Majestät, es wird Euch gefallen zu hören, dass Waýreth Althopian sich selbst als Arrestant ausgeliefert hat, bis diese Sache geklärt ist. Wenn Ihr darauf besteht, sorge ich umgehend dafür, dass er schimpflich in Eisen gelegt wird und Asgaý Spagor über die Untat seines Gefolgsmanns informiert wird.”
„Beeilt Euch damit!” Der teirand knüllte sein nassgeweintes Betttuch zusammen und es gelang ihm endlich, auf die Füße zu kommen. Tjiergroen verneigte sich und eilte gehorsam fort, bevor sein Herr ihn einholen und womöglich auf unselige Ideen kommen konnte. Verta versuchte, den teirand aufzuhalten, bevor der im Nachthemd ebenfalls auf den Flur laufen konnte, aber etwas beflügelte ihn, trieb ihn so stark, dass er gar nicht bemerkte, was er tat.
Es war allerdings kein glühender Zorn, das spürte die alte Frau überdeutlich, denn sie kannte dieses Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Sie kannte es sehr gut. Sie hatte es zuletzt empfunden, als der rotgewandete Magier im Morgengrauen in ihrer Stube aufgetaucht war, um ihr ein Bündchen Kräuter zu bringen und über die Unversehrtheit ihrer Schülerin zu sprechen.
***
Es pochte an der Tür. Gundald Lebréoka schreckte auf, war er doch von der langen Wacht müde geworden und eingenickt. Abgesehen von den wenigen Nachtlaternen entlang des kurzen Flures war es ringsum schummrig und dunkel. Durch die Fenster drang das monotone Zirpen der Grillen. Wer konnte unter diesen Umständen schon wach bleiben?
Gähnend erhob er sich und öffnete die Tür, um zu sehen, was der Gefangene von ihm wollte.
„Was gibt es, Waýreth?”, fragte der Ritter und lugte in das nur spärlich mit einem Öllicht erleuchtete Zimmer.
„Ich habe ein dringliches Anliegen, Gundald”, sagte der yarl. „Komm bitte einmal näher.”
Lebréoka und ging intuitiv einen Schritt in die Stube hinein. „Was willst du?”
„Wir kennen einander seit Ewigkeiten”, sagte Waýreth Althopian. „Mehr noch. Wir haben bereits miteinander gefochten, als wir beide noch keine echten Schwerter in Händen halten durften. Ich habe dich meinen Leben lang als einen treuen Freund im Herzen gehalten.”
Lebréoka stutzte. „Ja, und?”
„Ich wünsche nur, dass du mir später vergibst, was ich jetzt tue”, fügte Waýreth Althopian hinzu und versetzte dem yarl einen wohlgezielten Kinnhaken.
Gundald Lebréoka ging zu Boden wie ein gefällter Baum. Der Schlag war so unerwartet gekommen, dass er nicht darauf hatte reagieren können.
Waýreth Althopian verlor keine Zeit. Mit einem weiten Schritt war er über Lebréoka hinweg gestiegen, bereits draußen auf dem Flur und stieß die Tür zu. Sein Schwert hatte unter den Augen des anderen Ritters neben der Tür gestanden. Er packte es und rannte zur Treppe hinüber.
Es war ihm zuwider gewesen, seinen Freund mit einem bäurischen Trick zu übertölpeln. Andererseits würde dieses unritterliche Handeln Lebréokas Ehre und Ruf weit weniger schaden als ein standesgemäßer Kampf mit scharfen Klingen, in dem der Ritter des Regenten als Unterlegener endete und womöglich ernsthaft verletzt würde. Denn es wäre ihm, Waýreth Althopian, zu dieser Stunde nichts anderes übrig geblieben, als sich um Heil und Leben den Weg freizukämpfen.
Althopian erreichte die schmale Wendeltreppe, die am Seitenflügel des Palastgebäudes nach unten führte. Auch hier war nur eine sehr notdürftige Nachtbeleuchtung angebracht, gerade genug, dass jemand, der zu dieser Stunde hier hinab stieg, sich nicht den Hals brach. Doch kaum hatte er einige Stufen genommen, tauchte in der Gegenrichtung urplötzlich der mynstir auf.
Léur Tjiergroen sah sich Althopians blanker Waffe gegenüber. Seine eigene konnte er in der Enge der Stiege nicht ziehen. Von unten, das war nicht zu überhören, hetzten weitere Personen hinterdrein, viele davon mit Metall ausgerüstet.
Und so endete die Flucht von Waýreth Althopian bereits nach wenigen Schritten. Der Ritter seufzte beschämt. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Würde zu bewahren.
„Bleibt zurück!”, rief Althopian die Treppe hinab. „Wenn Ihr nachdrängt, wird der ehrenwerte mynstir aufgespießt.”
„Althopian! Was soll das? Ist das ein Fluchtversuch?”
„Nein”, antwortete der Ritter, während der Weg nach unten von einander anrempelnden Bewaffneten verstopft wurde. Einige von ihnen hatten Lampen dabei. Mitten unter den Burgmannen erschien der teirand, barfuß, im Nachtgewand und mit zornesrotem Gesicht. „Fliehen müsste ich, wenn ich ein Verbrechen begangen hätte. Sagen wir, ich muss zu einem dringenden Treffen.”
„Mit dem Schattensänger wohl!”, rief Benjus von Valvivant aus. „Elender Verräter!”
„Was?”
„Tut nicht so! Nichts Eiligeres habt Ihr zu tun, als dem Schwarzmantel nachzueilen!”
Althopian zog sich verwirrt zwei Stufen nach oben zurück. Was immer hier vorging, in dieser Lage würde es sich nicht klären lassen. Abgesehen davon würde Lebréoka jeden Moment wieder zu sich kommen.
„Majestät”, sagte er gelassen, „Ihr wisst sehr genau, dass das Unfug ist!”
„Wollt Ihr mich einen Lügner nennen?”
„Warum sollte ich?”
„Ihr müsst zugeben”, mischte sich der mynstir ein und versuchte mit flacher Hand, Althopians Schwertspitze sachte von seiner Brust weg beiseitezuschieben, „dass Ihr Euch verdächtig macht, wenn Ihr just in dem Moment, in dem die Mächte unseren Herrn wieder herbeigebracht haben, Euch der Gerechtigkeit entziehen wollt!”
„Wäre es da nicht viel klüger gewesen, ich hätte mich spornstreichs abgesetzt, anstatt mich in diese Misslichkeit hier zu bringen?”
Oben klimperten metallische Schritte näher. Lebréoka erschien am Treppenabsatz, hielt sich das Kinn und hatte ebenfalls sein Schwert in der Hand.
„Das war sehr dumm, Waýreth”, brachte er hervor.
„Es hätte gelingen können, wenn nicht wider alle Vernunft so viel Volk zu dieser Stunde ausgerechnet diese Treppe ersteigen wollte.”
Der mynstir blickte sich zu seinem teirand um. Benjus von Valvivant funkelte den tollkühnen Ritter mit unheildrohender Miene an.
„Dafür werdet Ihr büßen, Althopian!”
„Wofür? Ich habe niemandem etwas zuleide getan. Und es liegt mir fern, einem der hier anwesenden Herren schaden zu wollen. Ich habe in der Kammer ein Schreiben zurückgelassen, das all dies hier erklären soll.”
„Holt dieses Schreiben her, Lebréoka”, befahl der teirand. „Und Ihr, Althopian, rührt Euch nicht vom Fleck.”
Der Ritter war rasch wieder zurück. Doch diesmal war er nicht allein. Ihm auf dem Fuße folgten, herbeigelockt vom Lärm, allerlei Gesinde, das seine Kammern in diesem Teil des Gebäudes hatte. Auch am oberen Treppenabsatz bildete sich so eine Menge, die jeglichen Fluchtversuch in die Gegenrichtung vereitelt hätte. Natürlich war Isan dabei.
Lebréoka reichte den Brief an Althopian vorbei. Tjiergroen nahm ihn entgegen und übergab ihn dem teirand. Jemand bot eine Laterne dar, und der teirand begann, zu lesen. Unangenehmes Schweigen lag über der Menschenmenge auf der Treppe. Niemand wagte es, etwas zu sagen.
Als er damit fertig war, rollte er das Schriftstück zusammen. „Kommt mit, Althopian”, sagte er dann, zur allgemeinen Überraschung beinahe launig. „Wir haben etwas zu besprechen.”
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