
„Schaut nur”, sagte eine weibliche Stimme, „sie wacht auf.”
„Seid geduldig, Herrin.” Das war der bedachtsame Tonfall des Rotgewandeten. „Erschreckt sie nicht.”
Ich öffnete die Augen. Die Person, die sich über mich beugte, war keine Frau. Das war unmöglich. So makellos konnte ein echter Mensch nicht aussehen. Oder doch?
Ihr Gesicht war absolut ebenmäßig, ihr Teint sehr hell und ohne jegliche Unreinheit. Ausdrucksvoll geschwungene Brauen wölbten sich über eisblauen Augen mit langen, dichten Wimpern. Sie hatte eine schmale Nase und sinnliche Lippen. Über ihre Schultern waren mehrere kunstvoll geflochtene, silberblonde Zöpfe drapiert.
Ich schrak hoch und setzte mich rasch auf. Die junge Frau strahlte.
„Du bist wieder bei dir! Wie schön! Ich bin Kíaná von Wijdlant”, sagte sie und nahm wieder an Gor Lucegaths Seite Platz.
Offensichtlich befanden wir uns innerhalb des Wagens, doch hinaus schauen konnte ich nicht. Die Kutsche war keine geschlossene Konstruktion, eher ein Karren, der an den schmalen Enden massive Seitenwände und ein festes Dach hatte. Die Einstiege waren mit grauen Schleiern verhängt, die blickdicht waren und dennoch Tageslicht durchließen. Der Boden und die aus stabil geflochtenem Korbwerk bestehenden Sitze waren mit Matten und schlichten Kissen auslegt. Das gesamte Fahrzeuginnere war etwa so lang, aber weniger breit wie ein Eisenbahnabteil.
Der Wagen fuhr zügig, ich spürte die Bewegung und hörte von draußen Hufschlag und ab und zu ein Schnauben im Schritt gehender Pferde.
Die teiranda lächelte. Ihr vornehm graues Kleid war körperbetont, aber nicht aufreizend, der glänzende Goldschmuck dazu geschmackvoll gewählt. Sie trug kostbare Ringe an ihren feingliedrigen Händen und eine schmale, mit rauchigen und klaren Edelsteinen besetzte Krone.
Mir wurde bewusst, dass ich sie anstarrte. Möglicherweise sogar mit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Ich rief mich zur Ordnung. „Guten Tag … Majestät. Ich hoffe, das ist die korrekte Anrede”, stammelte ich los.
Sie lächelte beständig. „Wie es dir gefällt und es in deiner Welt Gebrauch ist. Du bist unter Freunden. Wie heißt du?”
„Ujora.”
Über das Gesicht der teiranda zuckte ganz kurz Verwirrung hinweg. Gor Lucegath lächelte amüsiert. Er saß unbeeindruckt neben ihr. Sein Schwert hatte er zwischen seine Füße gestellt. Griffbereit. Ich schauderte.
„Nun gut … Ujora. Wir sind auf dem Weg in mein teirandon“, fuhr die teiranda fort. „Dort bist du in Sicherheit, als unser Gast. Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, weit gereiste Ujora aus einem anderen Weltenspiel.”
„Danke”, entgegnete ich verdutzt. Um Himmels willen, wie redete man mit einer Monarchin?
„Die teiranda“, unterbrach der Rotgewandete hilfreich, „ist hocherfreut, dich zu sehen. Ich muss zugeben, wir waren besorgt, als du zur Begrüßung die Besinnung verloren hast. Das muss übergroße Nervosität gewesen sein. Aber nun geziemt es sich, wenn du auch Platz nimmst.”
„Ja”, strahlte sie. „Du darfst jederzeit in meiner Gegenwart sitzen.”
War das ein Privileg? Wahrscheinlich. Ich tastete nach dem Korbsitz hinter mir und stemmte mich wenig elegant hinein, ohne die beiden aus den Augen zu lassen. Der goala’ay erschien mir vorerst – so sehr ich mich dagegen sträubte – vertrauenswürdiger als die Schönheitskönigin neben ihm. Nicht, dass Kíaná von Wijdlant unsympathisch gewesen wäre, das nicht. Sie war auch sicher harmlos, freundlich. Aber sie wirkte so seltsam … unnatürlich.
„Wo ist Yalomiro?”, fragte ich zögerlich.
„In guter Verwahrung. Ich achte sorgfältig darauf, dass er mir nicht irgendwie abhandenkommt.”
Dass ich nicht weiter fragen sollte, musste er nicht gesondert aussprechen. Ich biss mir auf die Lippe.
Die junge teiranda kicherte. Sie wirkte überdreht. Stand sie womöglich unter irgendwelchen Drogen?
„Oh ja, der Schattensänger. Ja, ich verstehe dich gut, auch, wenn Meister Gor mahnend dagegen spricht. Doch der Schattensänger ist weder ein geeigneter Freund noch ein zuverlässiger Begleiter. Es ist gefährlich, sich mit den camat’ay einzulassen. Sie sind skrupellos, haben ein eiskaltes Herz. Aber woher solltest du das wissen? Welch ein Pech, dass du ausgerechnet einem der schrecklichen Schwarzgewandeten begegnen musstest. Doch nun bist du bei uns. Du bist sicher.”
Ich war verblüfft. „Ja, Majestät, ungefähr das hat Meister Gor mir auch schon gesagt. Zu mir war Yalomiro allerdings sehr freundlich und hilfreich.”
Die teiranda nickte verständnisvoll. „Ich weiß. Doch es ist pure Tücke, die von den Schattensängern ausgeht. Ich bin in all der Zeit vielen von ihnen begegnet und weiß um ihren Fluch.”
Was? Sie hatte andere Schattensänger gesehen? Wo? Wann? Was für ein Fluch? Ich wartete gespannt, aber sie wechselte das Thema.
„Was weißt du über das Artefakt?”, erkundigte die teiranda sich neugierig. „Hat der Schattensänger dir davon erzählt?”
„Nicht viel”, gestand ich. „Er meinte, es sei besser, wenn ich möglichst wenig darüber weiß, und dass es keinem Magier in die Hände fallen sollte.”
„Genaugenommen hat er dir wahrscheinlich gesagt, dass es mir nicht in die Hände fallen solle”, äußerte der Rotgewandete belustigt. Die Situation schien ihm Spaß zu machen. Das verunsicherte mich.
Auch die teiranda schmunzelte. Wie alt mochte sie sein? Ich konnte es beim besten Willen nicht sagen. Sie wirkte erwachsen und kindlich zugleich. Möglicherweise war sie etwas jünger als ich.
„Du glaubst, es sei Zufall, dass du in diese Welt geraten bist?”
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, ob ich gerade hemmungslos gegen alle Formen der Etikette verstieß. „Nun ja. Yalomiro konnte diesen verzauberten Schlüssel irgendwie in meine Welt befördern. Er scheint zu glauben, dass ein Wesen namens Noktáma mich hierher versetzt hat. Aber ich denke, er hat erwartet, dass jemand … anderes erscheint.”
„Nun”, sagte Meister Gor sarkastisch, „so etwas passiert, wenn ein überheblicher Schüler seine Fertigkeiten überschätzt.”
„Ich denke, es war Zufall. Aber ich verstehe nicht einmal, wie es überhaupt verschiedene Welten geben kann und wie das alles funktionieren soll. Das ist alles so absurd. Vielleicht träume ich all das hier doch.”
„Oh”, machte die teiranda und schaute hilfesuchend zu dem Rotgewandeten hinüber.
„Das Nebeneinander von Sphären ist ein Wissen, das deinen unkundigen Verstand überfordern würde”, sagte Gor Lucegath milde. „Vor allem, wenn man in deiner Welt in anderer Weise denkt. Für den Moment solltest du es einfach hinnehmen. Und es mag tatsächlich das Allerbeste für dich sein, wenn du nicht weißt, was es mit dem ay’cha’ree auf sich hat.” Fast belustigt fügte er hinzu: „So bist du in der Tat nichts weiter als eine arglose fánjula, die sich verlaufen hat und ein Obdach sucht. Nichts, was für mich interessant wäre.”
Ich schauderte bei dem Gedanken, interessant für ihn zu sein.
„Und diese Leute da draußen …”
Kíaná strahlte. „Meine engsten Untergebenen.”
„Ja, aber was ist mit ihren Gesichtern?”
Meister Gor richtete sich so jäh auf, dass ich zusammenzuckte.
„Ihre Gesichter?”
„Ja. Was ist mit ihren Gesichtern geschehen? Warum sehen sie so grausig aus?”
Die teiranda legte verwirrt ihre makellose Stirn in Falten. „Grausig? Nun, yarl Altabete hatte einst diesen Turnierunfall, der Arme. Eine wirklich unschöne Narbe auf seiner Wange. Den Mächten sei Dank blieb sein Auge verschont.”
„Verstöre meine Herrin nicht”, unterbrach der goala’ay sie. Dabei blickte er mich so scharf an, dass ich zusammenzuckte und eingeschüchtert schwieg.
Wieso wirkte die teiranda verwirrt? Sie musste doch wissen, dass ihre Gefolgsleute keinerlei Gesichtszüge hatten? Oder war das in dieser Welt etwa normal? Der Rotgewandete ließ mich nicht aus den Augen, offenbar bereit, mich erneut zu unterbrechen, sollte ich etwas sagen.
Sie wartete eine Weile. Dann wurde ihr das Schweigen wohl langweilig.
„Du bist müde und erschöpft, Ujora. Meister Gor und ich werden dich allein lassen und mit meinen Getreuen reiten, damit du in Ruhe etwas schlafen kannst.” Sie klopfte gegen die Holzwand, und der Wagen hielt an.
„Aber ich will nicht schon wieder …”
„Möglicherweise”, erstickte der Rotgewandete in meinen Protest, „gelingt dir dein nächstes Erwachen dort, wohin du dich sehnst, Ujora.”
Er schaute mich mahnend an, und die teiranda lachte ihr gurrendes Lachen. Jemand zog den Schleier vor der Tür auf. Die schöne Frau stieg aus. Meister Gor folgte ihr, nicht ohne mir unter seiner Maske einen letzten, warnenden Blick zuzuwerfen.
Kaum war der Vorhang geschlossen, erfassten mich ein sachtes Schwindelgefühl und erneut bleierne Müdigkeit. Das ging so schnell, dass mir keine Zeit blieb, über die Worte der teiranda und des Rotgewandeten nachzudenken. Ich war mir ziemlich sicher, dass er irgendeinen dezenten Zauber gewirkt hatte, um mich von weiterem unbedachtem Gerede abzuhalten. Aber das war mir fast gleich, ich konnte nicht mehr zusammenhängend denken. Ich zog die Beine an und ließ mich vom Gerumpel des Wagens und dem Hufgetrappel ringsum einlullen. Ich dämmerte hinüber in einen tiefen Schlaf ohne Träume. Nur ein bitterer Geschmack, vielleicht ein Überrest des Wassers aus Meister Gors Trinkflasche, haftete noch einige Zeit auf meinen Lippen.
***
Der Schattensänger schreckte im selben Moment keuchend aus seiner Ohnmacht hoch.
Neben und vor ihm trotteten Pferde, auch er selbst bewegte sich, rückwärts. Dabei hing er vornübergebeugt an straff um seine Armbeugen gezurrten Gurten, eine stabile Holzwand im Rücken. Seine Füße pendelten haltlos ein Stück über dem Boden. Mit jeder Unebenheit schnellte Schmerz durch seine Schultern. Wahrscheinlich hatte das ihn wieder zu Bewusstsein gebracht.
Die teiranda und Gor Lucegath ritten hinter dem Wagen her. Aber es waren noch mehr Menschen in der Nähe. Er hörte die Tritte weiterer Pferde, knarrendes Leder und Metall, das klimperte. Aber die Reiter schwiegen. Keiner sagte ein Wort, nicht einmal, um sein Ross anzuspornen.
Er versuchte, die Hände zu bewegen, aber der Goldreif blieb unerreichbar für seine Fingerspitzen, ein Maulkorb für seine maghiscal. Wo das Metall ihn nun schon so lange berührte, war sein Fleisch längst taub geworden.
Der camat’ay spähte an Gor Lucegath vorbei in die Weite. Der Weg führte nun über einen Hochstieg hinauf. Unterhalb des Pfades, das erkannte er mit einem Blick seitlich an dem Pferd neben ihm vorbei, erstreckte sich bereits eine schleierzarte Wolkendecke. Darüber spannte sich leuchtende Abenddämmerung.
Sie befanden sich nun in einer Gegend voller schlafender Magie, ein Ort, der wartete, ganz und gar jenseits des Weltenspiels, über das man von hier aus hinweg schaute. Es war das zentrale Gipfelplateau des Montazíel. Eine Domäne, über die Noktáma und Pataghíu gleichermaßen wachten. Für camat’ay und arcaval’ay war dies ein heiliger Ort. Ujoray hatten hier nichts zu suchen.
Wieso beförderte der Rotgewandete ihn mit so viel Aufwand hierher, an den Mittelpunkt der Welt? Und wie lange hatte man ihn besinnungslos gehalten? Dem Stand der Sonne nach war mehr als ein halber Tag vergangen.
Links und rechts neben ihm saßen zwei yarlay auf ihren Rössern und blickten stoisch auf den Weg vor sich, ohne ihn zu beachten. An den bedauernswerten Rittern klebte ein Bann wie giftiger Schleim. Der eine, ein gestandener Recke mit einer Kampfnarbe im Gesicht, trug einen tannengrünen, der andere, etwas behäbiger und mit altmodischem Schnauzbart, einen weizenhellen Waffenrock. Beide yarlay wirkten wie betäubt.
„Schattensänger”, sagte die teiranda, als sie bemerkte, dass er aufgewacht war, „so begegnen wir uns also doch noch wieder.”
Er senkte höflich den Blick. „Majestät, die vergangenen Sommer haben Euch nicht verändern können”, antwortete er ebenso galant wie mehrdeutig.
Sie lächelte. „Ein schönes Kompliment, artig bist du. Das gefällt mir.”
„Wo ist meine Unkundige, Meister Gor?”, fragte Yalomiro, ohne ihr weiter Aufmerksamkeit zu schenken. „Habt Ihr sie laufen lassen?”
„Sie im Wagen, unmittelbar hinter dir. Ich habe mir erlaubt, ihr etwas Ruhe zuteilwerden zu lassen. Sie ist lange genug gelaufen. Du hast das arme Ding überanstrengt mit eurem unbedachten Marsch. Wir sind unter uns.”
„Unter uns? Mit all diesen Leuten hier?”
„Beachte sie nicht weiter. Sie machen nur eine Landpartie mit ihrer Herrin. Sie sind Staffage. Keiner von ihnen wird sich morgen daran erinnern, was heute geschieht.”
Die teiranda betrachte ihn mit geistesabwesender Freundlichkeit. Sie bewegte sich sacht, träumerisch. Offensichtlich sank sie nach und nach wieder in einen Zauberbann ein.
Eines der Räder rollte jäh über einen Stein. Yalomiro schnappte nach Luft und schluckte einen Wehlaut. Ohne den Blick von Gor Lucegath zu wenden, tastete er mit der Ferse nach irgendetwas, worauf er Halt finden konnte. Aber es gab nichts dergleichen.
Der Rotgewandete schaute ihm einen Moment ungerührt dabei zu. Dann besann er sich. „Nun, lass uns über sie reden, über deine Unkundige. Ich frage mich immer noch, wie sie deine Gegenwart erträgt. Sie müsste längst zumindest wahnsinnig geworden sein.”
„Ehrlich gesagt – das ist auch mir ein Rätsel.”
„Aber du findest Gefallen daran.”
„Es ist … angenehm, das ist wahr.”
„Und wo hast du die Unkundige wirklich gefunden?”
„Noktámas Laune hat sie aus einer Welt jenseits des Chaos in unsere Angelegenheiten verwickelt. Aus einer Welt übrigens, der jegliche Magie absolut unbekannt zu sein scheint.”
„Ach? Tatsächlich?”
„Sie glaubt, dass ihr Verstand ihr Dinge vorgaukelt. Sie hat gelernt, dass Magie nichts weiter ist als Taschenspielerei.”
„Wie demütigend das für dich sein muss.”
„Es ist zutiefst verwirrend.”
„Aber wie kommt es dann, dass sie sieht?“
Yalomiro stutzte. „Was sieht sie denn?”
„Sie sieht hinter die Dinge, camat’ay. Zugegeben, noch sehr unklar, so als höbe sie den Zipfel eines Vorhanges an und spähe darunter hindurch. Ein wirklich erstaunliches Wesen, das du mir da mitgebracht hast.”
„Wovon redet Ihr?”
Meister Gor zögerte einen Moment und warf der teiranda einen Seitenblick zu. Aber die junge Frau war in ihren Gedanken nun offenbar an einen ganz anderen Ort abgedriftet. „Deine Unkundige, Yalomiro Lagoscyre, hat einen meiner Zauber bemerkt, von dem sie unmöglich wissen konnte”, zischte er dann.
„Dann”, antwortete Yalomiro ebenso gedämpft, „ist sie wohl besonders empfindsam für unsere Kunst. Oder derjenige, der die Magie wirkte, hat damit geschludert, was ich für wahrscheinlicher halte.”
„Du bist in keiner Situation, in der du dir Frechheiten erlauben solltest.”
„Möglich. Aber warum erzählt Ihr mir das? Seid Ihr eifersüchtig, dass mir die Mächte eine Begleiterin an die Seite gegeben haben, die Eurem”, er senkte taktvoll die Stimme, „armen Geschöpf dort überlegen ist?”
„Warum sollte ich? Es ist keine Sache von dein und mein, Schattensänger. Warum sollte ich am Ende nicht beides bekommen?”
„Seid Ihr habgierig, Meister Gor? Reicht es euch nicht, nach dem ay’cha’ree zu trachten?”
Wieder ein Schlagloch. Der Schattensänger biss die Zähne zusammen.
„Gut. Wechseln wir das Thema”, sagte der Rotgewandete mitleidlos. „Wenn du über das ay’cha’ree sprechen willst, ist es nur recht und billig, wenn wir beraten, wie es mit uns beiden in dieser Sache weiter geht.”
„Meine Entscheidung kennt Ihr. Ich werde Euch nicht entgegenkommen, und Ihr könnt mich nicht zwingen.”
„Vielleicht kann ich dich überzeugen?”
„Ihr könntet mich nicht einmal erpressen!”
„Das steht abzuwarten, Yalomiro Lagoscyre. Deine Unkundige war ursprünglich nicht Teil deines schlauen Plans. Das ändert die Voraussetzungen.”
„Im selben Moment, in dem Ihr Eure Hand an sie legt, ist das ay’cha’ree für Euch verloren.”
„Wieso sollte ich dann dieses Risiko eingehen? Warum sollte ich etwas beschädigen, von dem noch herauszufinden ist, ob es mir möglicherweise von Nutzen ist? Das ist doch viel interessanter.”
Einen Augenblick lang schauten die beiden Magier einander lauernd in die Augen. Dann holperte das Gefährt wieder über eine Bodenwelle. Das unterbrach den Blickkontakt. Der Schattensänger keuchte beherrscht auf und der Lichtwächter schüttelte milde den Kopf darüber.
Für die nächste Zeit schwiegen sie einander feindselig an.
Der Tross erreichte schließlich das Plateau. Yalomiro war als Junge mit seinem Meister schon einmal hier gewesen. Hier hatte Askýn Lagoscyre ihn in viele Geheimnisse eingeweiht.
Die Kuppe des zentralen Berges glich einer grünen, grasbewachsenen Klippe, die sich über den Wolken erhob. An klaren Tagen, so hieß es, konnte man von hier aus das Meer im Norden und die Wüste im Süden erahnen. Auf dem weichen Gras fuhr der Wagen endlich sachter.
Die teiranda kam zu sich und blickte vom einen zum anderen.
„Schattensänger”, lockte sie, als wäre gar keine Zeit seit ihrer letzten Äußerung vergangen, „willige in Meister Gors Begehr ein, bring ihm sein Artefakt. Für uns alle wäre es das Beste, wenn er sein Werk endlich beenden kann.”
Yalomiro wandte sich ihr zu. „Edle teiranda, Ihr gebt Euch einer Täuschung hin. Was immer Ihr annehmt, was Meister Gor im Schilde führt und so sehr es Euch vielleicht behagt – es soll und darf nicht sein.”
„Aber was bringt es dir, das ay’cha’ree für dich zu behalten? Was willst du damit?”
„Ich will es gar nicht haben. Meinetwegen kann es bis zum Ende aller Zeiten verschwunden bleiben. Meinesgleichen strebt nicht nach Macht.”
Gor Lucegath lachte bitter auf, „Nicht? Und niemals? Keiner von euch Diebsgesindel? Da weiß ich von anderen Geschichten.”
Yalomiro schwieg. Auf diesen Vorwurf des Rotgewandeten fiel ihm keine Widerrede ein. Er wollte dieses Thema nicht vertiefen.
„Und Ihr? Es scheint, als sei das Spiel zwischen uns unentschieden und unmöglich weiterzuführen. Was glaubt Ihr, was Ihr am Ende von alledem hier habt?”
„Ich weiß nicht recht”, antwortete der Rotgewandete ruhig. „Minderenfalls ein wenig Belustigung. Womöglich auch mehr. Ich werde sehen, wie es sich entwickelt. Für den Anfang, anmaßender Schattensänger, solltest du dich gut darauf besinnen, auf was du dich eingelassen hast.” Er hob die Hand. Augenblicklich kam die Eskorte zum Stillstand. Der Wagen ruckte.
„Warum sind wir hier?”, stöhnte Yalomiro schmerzhaft. „Warum habt Ihr all diese armen ujoray wirklich hierher gebracht? Braucht Ihr Publikum?”
Gor Lucegath stieg ab und half auch der teiranda aus dem Sattel. Ein Bediensteter kam herbei und nahm sich der Pferde an.
„Ich möchte an diesem Ort an dir etwas … erproben. Falls es mir hier nicht glückt, werde ich in meiner Domäne in aller Ruhe damit fortfahren. Du solltest zu Noktáma flehen, dass es dazu nicht kommt. Aber zuerst weckst du nun deine Unkundige auf.”
***
Hatte jemand geschrien?
Ich schreckte hoch und benötigte einen Moment, um mich zurechtzufinden.
Schon wieder hatte das Erwachen nicht funktioniert. Ich lag weder in meinem Bett noch mit einer Beule am Kopf im Keller, sondern in einen kissengepolsterten Sitz geschmiegt im Inneren dieser sonderbaren Kutsche. Ich richtete mich auf, schob die Schleier beiseite und sah die Hinterköpfe zweier Männer, die das Fahrzeug bewachten. Einer von ihnen drehte sich um. Ich wandte mich rasch ab, um sein substanzloses Gesicht nicht sehen zu müssen.
„Darf ich bitte aussteigen?”, fragte ich vorsichtig.
Der Gesichtslose antwortete und hielt den Vorhang für mich offen. Aber seine Stimme war kaum zu hören. Sein Tonfall war gedämpft und weit entfernt, wie ein Flüstern hinter einer Wand. Ich kletterte umständlich ins Freie, ignorierte die Hand, die mir angeboten wurde, und schaute mich um.
Ich befand mich auf einer weitläufigen Wiese auf einem Hochplateau, die zur einen Seite in einen Abgrund überging.
Es war spät geworden. Die zweite Nacht in dieser Welt brach an. Der Himmel strahlte dort, wo die Sonne unterging, nun in einem unwirklichen Rosarot. In der entgegengesetzten Himmelsrichtung zog Dunkelheit aus der Ferne heran wie ein nachtblaues Band, am Horizont ein wenig heller. Offenbar ging dort der Mond auf. Eine warme Dämmerstunde lag über dem Ort.
Die Männer machten mir Platz, schienen sogar eine Verneigung anzudeuten. Ihre Kleidung war schmucklos, sehr ordentlich und mit einem so seltsamen Grauschleier bedeckt, dass ich die Farben nur erahnen konnte. Ich schaute mich um. Etwas abseits waren andere damit beschäftigt, ein Feuer zu entzünden. Holz dafür hatten sie offenbar mitgebracht, denn Bäume gab es hier nicht.
Die Szene mutete gespenstisch an. Der eindrucksvolle Sonnenuntergang war ein krasser Kontrast zu der düsteren Stimmung. Ein Zischeln und Wispern ging von Kíanás Getreuen aus. Vermutlich sprachen sie ganz normal miteinander, aber ihre Stimmen erreichten mein Gehör ebenso verzerrt, wie ihre Gesichter aussahen. Die schöne Frau unter ihnen wirkte umso irritierender. Sie stand mitten auf der Wiese, blickte um sich und sah aus, als habe sie vergessen, wie sie hergekommen war und was sie hier tat.
Ich wagte mich ein paar Schritte hinaus auf das Gras, wandte mich um und zuckte zusammen.
Yalomiro war wieder bei Bewusstsein. Man hatte ihn an seinen Ellenbogen an der Rückseite des Wagens aufgehängt. Sein Atem pumpte stoßweise, seine Füße zuckten ein Stück über dem Boden.
Der Rotgewandete ließ die Hände sinken. Er stand einige Schritte vom Wagen entfernt. Was immer er Yalomiro soeben angetan hatte, er hatte ihn nicht einmal berührt.
Nun wurde auch die teiranda auf mich aufmerksam. Nach und nach gingen die Blicke aller Anwesenden in meine Richtung. Es war ein extrem unbehagliches Gefühl, das mehr Ähnlichkeit mit einem Alptraum hatte als alles, was zuvor geschehen war. Wenn ich darüber nachdenke: Ich glaube, es war dieser sonderbare Hauch von Verfremdung, der über der ganzen Szene lag. An allem, was ich sah, stimmte eine Kleinigkeit nicht, auch wenn es so subtil war, dass ich es nicht hätte benennen können. Zusammengenommen war es … unangenehm. Ich fühlte Beklemmung; zugleich war mir klar, dass ich mich selbst nicht in Gefahr befand.
Yalomiro schaute zu Boden, als schäme er sich, dass ich ihn in dieser Lage sah.
„Was geschieht hier?”
„Wahrscheinlich gar nichts”, antwortete Meister Gor munter. „Es sei denn, Noktáma nimmt sich ihres jämmerlichen Dieners an und entscheidet, wie das Weltenspiel für ihn weitergehen wird.”
„Noktáma erscheint nicht, wenn man sie zu zwingen versucht”, murmelte Yalomiro gepresst. „So banal ist es nicht, die Dunkelheit zu beschwören!”
„Nein”, gab der Rotgewandete zurück. „Natürlich nicht. Warum sollte irgendeine Macht etwas darauf geben, was im Weltenspiel geschieht?”
„Meister Gor”, sagte die teiranda, „wie könnt Ihr so reden?”
„Ich allein bin es, der mit Fug und Recht so reden darf!”, rief der Rotgewandete jäh aus. Die teiranda zuckte zusammen. Sie wirkte für einen ganz kurzen Augenblick … wach.
Ich hatte mich ebenfalls unter diesem Ausbruch geduckt und war verwirrt. Ich hatte nicht erwartet, dass der goala’ay jemals seine Selbstbeherrschung verlieren konnte. Da mir der Bezug fehlte, hatte ich jedoch keine Ahnung, was ihn nun so wütend gemacht haben mochte.
Kíaná von Wijdlant wechselte einen kurzen Blick mit mir und lächelte entschuldigend. Dann wandte sie sich würdevoll ab. Einige ihrer Gefolgsleute folgten ihr, als sie zum Feuer ging. Andere zögerten und schlossen sich an. Schließlich war ich allein mit dem Rotgewandeten und Yalomiro.
„Geh mit ihnen”, sagte der Gor Lucegath schroff. „Es ist besser, wenn du dich an ihre Gesellschaft gewöhnst.”
„Und wenn ich hierbleiben will?”
„Das, Unkundige, wäre keine gute Idee. Und es würde mich auch keinesfalls von dem abhalten, was ich vorhabe.”
„Geh, Ujora”, sagte Yalomiro matt. „Es wäre zu peinlich für ihn, wenn sein Gerede sich als ebenso großspurig erweisen würde wie seine sogar von Unkundigen durchschaubaren Zauber.”
Der Rotgewandete richtete eine beiläufige Geste auf Yalomiro. Der Schattensänger keuchte und ballte die Fäuste.
Geh! Lass mich mit ihm allein!
Das war Yalomiros Stimme gewesen – aber sie war direkt in meinem Kopf erklungen, ohne den Umweg über seine Zunge und meine Ohren. Genauso wie gestern, als er sich in ein Pferd verwandelt hatte.
„Deine Frechheiten”, sagte Meister Gor beunruhigend ruhig, „können mich nicht provozieren. Nicht, dass sie deswegen ungestraft blieben.” Er bewegte die andere Hand, als winke er etwas an sich heran. Zuerst erkannte ich nicht, was das bewirkte, aber Yalomiro begann, panisch zu japsen. Die Seile, die ihn hielten, wurden kürzer.
„Nicht!”, entfuhr es mir.
Aber der goala’ay war konzentriert auf seinen Zauber. Yalomiro keuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht und wand sich. Seine Füße kickten hart gegen die Kutsche, seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen. Wenn es nicht aufhörte, würden ihm beide Arme ausgerenkt, vielleicht Schlimmeres.
Ich hätte es nicht ertragen, ihn schreien zu hören.
„Nein!”, rief ich hastig aus. „Hört auf damit!”
Der Rotgewandete wartete einen Moment.
„Bitte!”, flehte ich leise.
Gor Lucegath senkte die Hände. Yalomiro sackte zusammen und wimmerte.
Geh weg! Schau dir das hier nicht an!
„Lass uns alleine, Ujora. Das ist eine Sache zwischen uns und den Mächten. Außerdem beschämst du ihn in seiner Eitelkeit, wenn du Zeugin seiner Machtlosigkeit wirst. Geh zur teiranda und lass dir erklären, wie es bei ihr bei Hofe zugeht.”
Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Einer der mutmaßlichen Ritter kam heran. Er trug über seiner dunkelgrünen, mit dieser sonderbar grauen Beifarbe versehenen Kleidung ein mit Metallschuppen besetztes Wams. Auch seine Stiefel waren mit Eisenplatten bestückt. Er hatte leichte Armschienen angelegt, und unter seinem Mantel schienen auch seine Schultern gepanzert zu sein. Es war, als sei Rüstzeug mit Kleidung verschmolzen. Das sah wesentlich praktischer und eleganter aus als die klobigen Ritterrüstungen, die ich von Bildern und aus Museen kannte. Er verneigte sich und streckte mir seine auf ihrem Rücken metallbehandschuhte Hand entgegen.
„Geh”, sagte Meister Gor. „Geh mit yarl Altabete, wenn die teiranda ihn schon schickt, um dich zu holen.”
Yarl Altabete? Der Ritter mit dem Narbengesicht? Ich überwand mich, den Mann anzuschauen. Im Halbdunkel war sein Anblick zwar erträglicher. Aber dass er entstellt war, war trotzdem nicht zu erkennen. Es hätte ihn menschlicher gemacht.
Geh. Der hochedle Herr ist freundlich zu dir!
Ich gab mir einen Ruck und ergriff die mir dargebotene Hand. Der Ritter ergriff sie höflich und führte mich dennoch energisch weg vom Wagen, hin zum Feuer.
Die beiden Magier blieben in der einbrechenden Nacht zurück.
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