Einige Schritte vom Feuer entfernt war es zwar finster und es war Nebel aufgezogen. Doch da das Plateau eine völlig ebene Wiesenfläche war, bestand nicht die Gefahr, dass ich in Hindernisse hineinlief. Außerdem war da noch der zwischenzeitlich sehr hoch am Himmel stehende Mond. Der Dunst schien sein Licht zu bündeln und es wie einen Spot auf Yalomiro zu legen. Es war natürlich nicht hell wie eine Leuchte, aber genug, um den reglos hängenden Körper zu erkennen.

„Yalomiro?”

Er hob den Kopf. Seine Augen waren verbunden. Warum hatte der Rotgewandete das getan? Vielleicht, um arglose Menschen wie mich vor Todesblicken zu schützen?

„Du hättest es vielleicht doch versuchen sollen”, sagte er müde.

„Was?”

„Wegzulaufen. Aber wahrscheinlich hat er dich bereits zu fest in der Hand. Es tut mir leid, dich in diese Angelegenheit hineingezogen zu haben. Ich …”

„Hör zu”, fiel ich ihm ins Wort, während ich mich nervös umschaute. Aber das Gefolge der teiranda war am weit genug entfernt mit den Pferden beschäftigt. „Wenn ich dich losbinde, hättest du eine realistische Chance, dich in Sicherheit zu bringen?”

„Die Riemen sind nicht das Problem. Wenn ich das verfluchte Gold los wäre, sähe die Sache anders aus. Diesen Ring kann diesmal nur er selbst lösen.”

Ich suchte nach einer Möglichkeit, zu ihm hinaufzureichen. Die hinteren Räder des Wagens hatten ihre Nabe etwa auf Höhe der unteren Ecke des Kutschkastens. Ich konnte die Speichen als Tritt nutzen und zu ihm hinüberklettern. Also versuchte ich es. „Du hättest mir die Wahrheit sagen sollen.”

Welche Wahrheit?”

„Nun, all diese Dinge, die ich jetzt von Dritten erfahren habe? Von Blicken, die einem den Verstand auslöschen und alldem?”

„Hätte ich dich in deiner Lage damit in irgendeiner Weise beruhigen können?”

„War ich gestern Nacht in Gefahr, als du mich … angeschaut hast?”

„Ja.”

Ich zog den Stoffstreifen weg. Seine Augen waren trüb wie Blei.

„Du streitest es also nicht ab?”

„Nein.”

Einen kurzen Augenblick spürte ich wieder dieses scheußliche Gefühl im Herzen, das ich nie wieder an mich heranlassen wollte. Ich knüllte das Tuch zusammen. Vielleicht brauchte ich es später, wenn ich so richtig heulen würde.

„Ich hatte dir vertraut!”

„Wenn du mir nicht vertraut hättest, wäre das Risiko es mir nicht wert gewesen. Ich habe es getan, um dir nahe sein zu können.”

„Was?”, fragte ich irritiert.

„Ich hätte es dir zu einem angemessenen Zeitpunkt erklärt. Es ist alles nicht so, wie es für dich klingen mag. Ich ahne, was sie dir erzählt haben und was jetzt in deinem Kopf vorgehen mag. Es ist alles viel … komplizierter.”

Ich war bestürzt. Aber die Zeit reichte nicht, um darüber nachzudenken. Ich begann mit dem Messerchen, an dem Seil zu sägen. Er bemerkte, was ich als Werkzeug benutzte und seufzte.

„Meister Gor will mich heimbringen – sagt er.”

„Das will ich auch.”

„Aber ihr macht es beide nicht.”

„Dann hat er wohl … Prioritäten.”

„Jedenfalls hat er den Weltenschlüssel aus deiner Tasche genommen.”

„Das dachte ich mir.”

Ich ritzte verbissen weiter. „Ich weiß gar nicht mehr, was richtig ist. Ich weiß nur, dass dies alles mich eigentlich nichts angehen sollte. Und dass ich deinetwegen hier bin.”

„Ich hätte niemals unüberlegt tun sollen, was ich tat. In unbedachter Panik einen Weltenschlüssel zu verwenden, wie ein Angler einen Köder auswirft – ich habe leichtsinnig gehandelt. Ich konnte nicht ahnen, was aus den Tiefen einer anderen Welt herkommen würde, was Noktáma mir zur Hilfe schicken würde.”

Das Messerchen mochte als Essbesteck taugen, aber zum Durchtrennen der Fesseln war es kaum zu gebrauchen. Mein Plan, Yalomiro schnell loszuschneiden und dann wieder unauffällig zum Feuer zurückzukehren, versprach mit jeder Sekunde weniger Erfolg. Er schaute einen Moment unverwandt zu, wie ich verbissen an den Schnüren herumsäbelte.

„Warum hilfst du mir?”

„Meister Gor deutete an, dass er fürchterliche Dinge mit dir anstellen wird.”

„Geschähe mir das nicht ganz recht, nach all dem, was du nun von mir denkst?”

Endlich gaben die ersten Fasern nach. Ich hielt kurz inne. „Vielleicht bin ich ganz einfach dumm. Es muss schließlich einen Grund haben, dass ich mein Leben lang, egal was ich gemacht habe, am Ende immer das Nachsehen habe. Es wäre nicht das erste Mal, dass man meine Ahnungslosigkeit ausgenutzt hat. Ich werde wohl merken, was ich davon habe.” Ich schnitt weiter, ohne ihn anzuschauen. „Vielleicht bist du wenigstens so taktvoll, mich nicht auszulachen.”

„Ujora …”

„Vielleicht kannst du dich ja irgendwo verstecken und später jemanden suchen, der den Ring durchtrennen kann.”

„Ujora, so hör mir doch zu! Solange ich den Reif trage, gibt es kein Versteck. Um von hier und aus dieser Lage zu entkommen, muss ich zaubern. Um zu zaubern, benötige ich deutlich mehr Kraft, als derzeit durch meine maghiscal strömt. “

„Wie meinst du das?”

Er suchte nach Worten. „Stell es dir vor wie einen halb zugefrorenen Bach. Das Gold hat meine Kraft gerinnen lassen. Selbst wenn ich es los wäre, müsste meine Magie erst wieder … auftauen.”

„Es dürfte jedenfalls nicht schaden, wenn du dich wieder bewegen kannst”, zischte ich, und ein weiterer Strang gab seinen Widerstand auf.

„Warum hintergehst du Meister Gor?”, beharrte er. „Warum bringst du dich in Gefahr?”

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich bin ich einfach dumm.”

„Es ist Mitleid, Schattensänger. Oder treibt dich blanke Torheit dazu,, dein Verderben wieder von der Kette zu lassen, Ujora?”

Ich erschrak so sehr, dass mir das Messerchen abrutschte und einen tiefen Kratzer im Holz hinterließ. Yalomiro erstarrte. Der Rotgewandete kam von der anderen Seite hinter dem Fuhrwerk hervor.

„Lass mich dir zur Hand gehen.” Er zog beiläufig sein Schwert und durchtrennte mit einem Streich die Fesseln an Yalomiros anderem Arm. Schlagartig durch das Gewicht belastet, rissen die letzten verbliebenen Fasern auf meiner Seite. Der Schattensänger stürzte zu Boden und keuchte erstickt. Wahrscheinlich hatte er rasende Schmerzen in Schultern und Sehnen.

Ich ließ das Messer fallen und kletterte langsam herab, ohne Gor Lucegath aus den Augen zu lassen. Wo war er schon wieder so lautlos hergekommen? Er war doch gerade noch auf der anderen Seite des Feuers gewesen! Das war … unheimlich.

„Wolltest du stehlen, Ujora?” Der Rotgewandete deutete mit seiner Klinge auf den Beutel, den ich mir umgehängt hatte und steckte das Schwert dann zurück in die Scheide. „Was willst du mit dem Kram?”

„Ich wollte es zurückbringen”, murmelte ich schuldbewusst. „Es sind seine Sachen.”

„Artig. Und doch betrübt es mich, dass du der teiranda ihre Gastfreundschaft so vergiltst.” Er hob die Hand in meine Richtung. „Sehr bedauerlich.”

Yalomiro rappelte sich hastig auf. Er versuchte, sich am Wagenrad emporziehen, und als er schließlich aufrecht stand, schwankte er. „Lasst sie in Frieden”, brachte er zornig hervor, während er die Überreste der Fesseln abstreifte.

„Natürlich. Vor mir hat die Unkundige nach wie vor nichts zu befürchten, solange sie nichts Unbedachtes tut. Schließlich warst du es, der sie dazu getrieben hat.” Die Hand des Rotgewandeten schwenkte zu ihm hinüber.

„Hat er nicht! Ich… ich…” Ich stockte, als mir bewusst wurde, wie albern das klingen musste. Gor Lucegath wartete auffordernd.

„Bitte, tut ihm nichts an”, beendete ich lahm den Satz.

„Bei den Mächten, Schattensänger, ist das nicht allerliebst? Eine Unkundige bittet mich um Gnade für den Meisterschüler von Askýn Lagoscyre, den mächtigsten Schattensänger dieser Tage?”

„Hört auf zu spotten”, sagte Yalomiro finster „Es ist unter Eurer Würde, Euch über Unkundige lustig zu machen.”

Der Rotgewandete vollführte eine knappe Geste mit seinen Fingern. Der Goldreif zersprang in zwei Teile und prallte mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden. Im selben Moment ballte der goala’ay die Faust seiner anderen Hand. Yalomiro ging mit einem heftigen Keuchen in die Knie und krümmte sich zusammen, als habe man ihm brutal in den Leib geschlagen.

„Gut, Schattensänger.” Meister Gor kam einen Schritt näher. „Dann fahre ich eben damit fort, mich über dich lustig zu machen. Lass uns kämpfen. Hier und jetzt. Das wolltest du doch die ganze Zeit? Nun, es könnte amüsant werden.”

Eine weitere Handbewegung, weit ausholend, blitzschnell. Etwas Unsichtbares traf Yalomiro wie ein Tritt und schleuderte ihn ein Stück weit durch die Luft, fort aus dem dunstigen Mondlicht.

Ich zögerte, einen winzigen, hauchdünnen Moment nur. Dieser Kampf war unfair. Ich musste eingreifen, und ich wusste später wirklich nicht zu sagen, woher ich den Mut dazu nahm.

Ich eilte hinterher und fiel neben dem wimmernden Magier auf die Knie. In seinen bleistumpfen Augen zuckten nun glitzernde Silberpunkte. Ich nahm das als Zeichen, dass seine magischen Kräfte zwar wieder frei, aber noch gehemmt waren.

„Beiseite, ujora“, sagte Meister Gor gelassen hinter mir. Ich wandte mich um und spürte etwas Schneidendes an mir vorbeizischen, was für einen Sekundenbruchteil die Luft auflud, dazu führte, dass sich die Härchen auf meiner Haut aufstellten, dann neben mir in Yalomiros Köper fuhr und ihn so heftig zusammenkrampfen ließ, dass seine Füße Gras beiseite scharrten. In seinem Körper tobte offenkundig ein Tumult von Schmerz.

Ich dachte nicht nach und warf mich über ihn. Vielleicht gewannen wir so Sekunden.

„Geh aus dem Weg, Ujora. Lass ihn sich selbst verteidigen.”

„Aber dazu hat er noch keine Kraft!”

„Das ist sein Problem.”

„Das ist gemein!”

„Gemein? Ich verstehe. Man greift keinen Gegner an, der bereits am Boden ist, das meinst du wohl? Aber ich bin kein ehrenhafter Krieger, Ujora. Ich bin nicht so töricht, zu warten, bis es ihm gelingt, seine Kräfte auf irgendeine Weise wieder aufzufüllen. Und ich habe noch gar nicht damit begonnen, gemein zu sein.”

Auffüllen?

Die Eingebung kam mir ganz plötzlich. Was wäre, wenn all das, was man mir über Schattensänger erzählt hatte, der Wahrheit entsprach? Wenn Schattensänger die Lebenskraft anderer … ausschöpfen konnten? So, wie er den Pflanzen das Wasser entzogen hatte?

Und was, wenn Lebenskraft so etwas wäre wie … heißes Wasser? Heißes Wasser auf starres Eis?

„Nimm dir meine Energie”, zischte ich Yalomiro zu.

„Ujora!”, rief Meister Gor vorwurfsvoll. „Sei keine Närrin!”

„Nein”, ächzte Yalomiro. „Das darf ich nicht tun!”

„Bitte”, beschwor ich ihn. „Nimm, soviel du brauchst, und bring uns hier weg.”

„Ujora! Denke daran, ich habe den Schlüssel!”

Einen winzigen Moment dachte ich an meine Welt, an mein Zuhause, die Sicherheit, den Komfort und die Einsamkeit. An all die Dinge, die wichtig waren und so unendlich weit weg. Der Rotgewandete kam ohne Eile näher. Yalomiro stöhnte und versuchte, sich aufzusetzen.

„Meister Gor?”

Das war die teiranda. Offenbar hatten die Geräusche dieser Auseinandersetzung sie zum Ort des Geschehens gezogen. Für einen Wimpernschlag nur war Gor Lucegath abgelenkt und wandte sich ab.

„Schnell! Jetzt!”

„Es ist zu gefährlich!”

„Ich vertraue dir! Tu es! Schnell!”

Er schaute mich bestürzt an. Dann ich spürte seine ausgespreizte Hand, die sich auf mein Herz legte. Die andere griff nach meiner Stirn.

Dann wurde es schlagartig schwarz, warm und friedlich. Und still.

Blankes Chaos brach aus, und vom Hochplateau des Montazíel klangen Schreie in die Schluchten, die als leises Heulen noch im yarlmálon Valfrontír zu hören waren und dort nächtliche Wanderer schaudern machten.

Am herzzerreißendsten war der Angstschrei der teiranda. Andriér Altabete, ein furchtloser Haudegen und kampferprobtester ihrer Ritter, stürzte mit blankem Schwert auf Yalomiro zu, um seiner Herrin zu Hilfe zu kommen. Der Schattensänger wischte ihn so vorsichtig mit einem Streich beiseite wie möglich. Es lag ihm fern, ujoray zu verletzen. Etwas Unordnung jedoch, die würde ihm nützen.

Ein weiterer Schlag fegte die Kutsche hinfort. Das Gefährt schlitterte auf das Lagerfeuer zu, zerrieb es unter sich und fing dabei selbst Feuer. Yarl Grootplen brachte es gerade noch fertig, beiseite zu hechten. Yalomiro tat einen Schritt in seine Richtung, und der Ritter ergriff verängstigt die Flucht.

Auch die Pferde waren in heller Panik. Yalomiro schnellte über das Plateau zu den Tieren hinüber, riss den improvisierten Zaun weg und glitt mit seinem Körper zwischen die rasenden Rösser und den Abgrund. Die unschuldigen Tiere sollten weglaufen. Je länger die ujoray brauchen würden, ihre Reittiere wieder einzufangen, je weiter sie sich im Montazíel verstreuten, umso besser.

Ein Teil von Kíaná von Wijdlants Entourage nutzte die Gelegenheit, den Pferden nachzulaufen. Andere flohen bis an den Rand des Plateaus, waren dort in der Falle, warfen sich nieder und begannen, zu den Mächten zu flehen. Im lodernden Schein der brennenden Kutsche blieb Yalomiro allein mit der nun erstarrten teiranda, dem benommenen Ritter und Gor Lucegath, der gänzlich unbeeindruckt inmitten der Konfusion stand, zu ihm aufschaute und befriedigt lächelte.

„Ich war mir fast sicher, dass du es tatsächlich tun würdest”, sagte der Rotgewandete, ohne sich um die verstörte Frau an seiner Seite zu kümmern. „Und dass du es gleich wieder auf die Spitze treibst in deinem Übermut.”

Yalomiro fauchte. Sprechen konnte er mit diesem Körper nicht.

„Du wirst nicht weit kommen”, fuhr der Rotgewandete fort. „Sei dir deiner Sache nicht zu sicher.”

Der Schattensänger warf der teiranda einen letzten Blick zu. Er hatte Mitleid mit ihr. Aber er konnte im Augenblick nichts für sie tun.

„Du könntest mich nun möglicherweise töten, Yalomiro Lagoscyre, um die Sache zu entscheiden. Willst du es denn nicht wenigstens versuchen, nun, da du so groß und mächtig geworden bist?”

Der Schattensänger schnaubte. Der goala’ay kam unerschrocken einen Schritt näher und zog dabei sein Schwert. Die Unkundige lag reglos zwischen ihnen. Yalomiro schnellte vor und griff nach ihr.

„Du brauchst sie nicht mehr”, sagte Gor Lucegath milde. „Sie hat dir alles gegeben, was sie hatte. Lass es gut sein. Alles Weitere betrifft nur dich und mich.”

Yalomiro drückte den schlaffen Körper fest an sich. Zwischen seinen Krallen war sie sicher geborgen, aber ein schlaffes Bündel. Er spürte, dass sie noch lebte. Aber er durfte nicht zu viel Zeit verlieren.

Geschmeidig wie eine Eidechse schnellte er auf den Rand des Abgrunds zu und darüber hinaus. Der schreckliche, imposante Körper stürzte in die Tiefe. Der camat’ay ließ sich fallen und breitete seine Schwingen aus. Der Wind stieß darunter wie in die Segel eines großen Schiffes und trug ihn wieder empor.

Der Rotgewandete versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Aber den Wind trug dem Schattensänger noch eine Weile sein Gelächter hinterher.

Im Norden wies ihm der Mond den Weg. Er nutzte die Thermik, die durch die Schluchten strich und ihn trug und wusste doch, dass es nur ein Entweichen auf kurze Frist sein würde.

Der Rotgewandete hatte ihn willentlich entkommen lassen. Das stand außer Frage. Regelrecht inszeniert hatte der goala’ay die Situation.

Yalomiro flog durch die Nacht, auf den Mond zu. Die Zeit drängte. Die Lebenskraft, die die Unkundige ihm geschenkt hatte, ohne zu wissen, in welche Gefahr sie sich damit brachte, wäre schnell aufgebraucht. Er durfte sie keinen Moment länger benutzen als nötig.

Wenn es nur ausreichte, um die Berge hinter sich zu lassen!

Yalomiro ahnte, welche Überlegungen Gor Lucegath angestellt haben mochte. Von seiner Warte aus waren die Züge in dem Spiel um das ay’cha’ree ausgeschöpft gewesen. Vermutlich war es die ganze Zeit die Absicht des Rotgewandeten gewesen, aus einem Stillstand heraus eine neue Partie zu beginnen. Selbst die kostbare Geisel, dieses Wesen von außerhalb des Weltenspiels, hatte er dafür fahren lassen.

Was hatte der Lichtwächter vor?

Der camat’ay klappte seine mächtigen ledrigen Flügel an und schoss wie ein Pfeil steil über die immer niedriger werdenden Gipfel und Grate hinweg. Hinter ihm am Himmel dämmerte im Süden der neue Morgen wie ein schmales, weißlich graues Band. Die Sonne stieg aus der Wüste von Soldesér auf, weit, weit weg am Ende der Welt.

Wenn er sich nicht täuschte, führte sein Flug ihn geradewegs gen Valvivant. Wenn seine Magie, befeuert und potenziert von ihrer kostbaren Lebenskraft, nur solange vorhalten würde!

Oder wollte Gor Lucegath erreichen, dass er mit einem Zauber, den er, der camat’ay, der Schüler nur aus den verbotenen Lehren kannte und womöglich stümperhaft anwandte, die Unkundige umbrachte? Dass er mit Leichtsinn ein Menschenleben raubte, um seine eigene Haut zu retten und damit seiner Seele noch mehr Schaden zufügte, als sie sich ohnehin schon zugezogen hatte?

Nein. Das sähe dem goala’ay nicht ähnlich. Ein solcher Plan barg zu viele Unsicherheiten.

Aus den Bergen wurden Hügelketten. Montazíel, im Süden ein Tafelgebirge, senkte sich im Norden sacht ab, bildete Täler, Hänge und Plateaus, fruchtbar und dicht bewachsen. Die Morgendämmerung folgte ihm immer schneller.

Der Schattensänger setzte alles auf eine Karte. Er legte die Flügel an und wurde zu einem Geschoss aus Schuppen, Schwingen und Klauen, das aus den Resten der Nacht hervorbrach und dem Erdboden entgegen stürzte, einen letzten Rest Menschenleben fest an sein Herz gepresst.