Yalomiro schwieg und rührte sich nicht.

Sein Schweigen erschreckte mich zutiefst. Ich hatte das fürchterliche Gefühl, in einer Weise übergriffig geworden zu sein, die an Dummheit nicht zu überbieten war.

Das war eine beschämende Ernüchterung. Was hatte ich mir eingebildet? Wie hatte ich nur annehmen können, dass er Gefühle teilte, die mich einnahmen?

Hatte ich das gewollt? Geahnt? Ich weiß es nicht. Nie zuvor hatte ich bei einem Menschen ein ähnliches Charisma gespürt, und nie zuvor ein solches Bedürfnis nach Nähe. Eine Innigkeit, die mir nicht unerreichbar vorgekommen war, aus dem trivialen Grund, dass nur er und ich anwesend waren. Es gab niemanden, der mir dieses Gefühl wegnehmen, mich von ihm abdrängen konnte.

Und da stand er nun, reglos als sei er nach wie vor eine Steinstatue, und schaute mich so bestürzt an, dass ich mich am liebsten versteckt hätte.

Was war überhaupt in mich gefahren? Wer war ich denn schon, aus seiner Sicht? Ein planloses, lächerliches Etwas, das ihm Umstände bereitete und sich blamabel benahm!

Hatte er nicht wiederholt diese Arámaú erwähnt? Musste der Umstand, dass er nicht ständig von ihr redete, unbedingt bedeuten, dass sie nicht mehr da war? Oder, noch schlimmer: Dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich tot war und er im Stillen um seine Gefährtin trauerte?

Wie unglaublich taktlos, wie eigensüchtig von mir!

„Das war dumm”, flüsterte ich. „Ich hätte das nicht fragen sollen.”

„Warum hast du es dann getan?”

„Ich weiß nicht”, behauptete ich. Das war zumindest nicht ganz gelogen.

Ich wandte mich beschämt von ihm ab, ging weiter und versuchte, die Tränen zu stoppen, die aus mir herausplatzen wollten, wie Wasser aus einem unter Druck stehenden Schlauch. Es geschah mir recht. Ich hatte es verdorben. Ganz und gar und für alle Zeiten. Ein paar Schritte weit konnte ich mich noch beherrschen. Dann rannte ich los. Weg, nur weg! Schnell Distanz zwischen mich und diese peinliche Blamage bringen. Das Echo meiner Füße klang trotz Gummisohlen erschreckend laut zwischen den hohen Felswänden.

Weinen und rennen zugleich war keine gute Kombination. Schon bald bekam ich keine Luft mehr, wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Es war zwecklos. Der Weg durch die Schlucht führte schnurgrade vorwärts. Weglaufen war sinnlos.

Kurz darauf war er wieder neben mir. Er wirkte verwundert.

„Was habe ich getan, das dich nun so traurig macht, Ujora?”

„Du? Du hast gar nichts getan. Ich hätte nichts erwarten dürfen.”

Hätte ich etwas tun sollen? Was hast du erwartet?”

„Gar nichts.”

„Bitte. Ich will verstehen, wozu mir die Einsicht fehlt.”

„Es gibt nichts …”

„Du bist nicht wegen nichts so aufgewühlt!” Er fasste sacht meinen Arm und hielt mich fest. Sein sanfter silberbrauner Blick traf mich mit einer Intensität, die mir keine Wahl ließ. Ich musste mich dazu durchringen, ihm zu antworten, und war mir sicher, dass ich es im selben Moment noch viel unreifer und peinlicher machen würde.

„Ich hatte irgendwie gehofft, dass du mich vielleicht … gern hast.”

So. Jetzt war es gesagt.

Warum antwortete er nicht oder lachte mich aus? Stattdessen schwieg er und schaute mich auffordernd an, als erwarte er, dass ich weiter spräche. Ich plapperte konfus drauflos.

„Ich meine … natürlich, du hast Recht. Ich kenne dich noch keine zwei Tage, und da ist es natürlich völlig unangemessen, dass ich dir so auf die Pelle rücke. Das war echt niveaulos von mir. Und natürlich habe ich gar keine Ahnung, ob du nicht schon … also, falls du eine feste Freundin hast, dann wollte ich nicht … ” Ich verhaspelte mich und wusste nicht weiter. „Bitte … lass uns darüber nicht mehr reden. Es tut mir so leid.”

„Es tut dir leid, dass du mich gern hast?”

„Ja. Nein! Es… es tut mir leid, dass ich … dass ich in meinen Träumen zu weit gehe.”

„Ich verstehe dich immer noch nicht.”

Ich seufzte auf. Das Missverhältnis zwischen dem, was ich so ungeschickt versuchte zu sagen und dem, was er in seiner verstörenden Arglosigkeit daraus machte, war anstrengend.

„Ich wünschte, ich wäre dir in meiner Welt begegnet. Unter normalen Umständen. Es ist alles so … kompliziert.”

„Ja. Die Weise, auf die wir uns getroffen haben, ist ziemlich ungewöhnlich.”

„Ich hätte nie damit anfangen dürfen.”

„Dann hättest du die ganze Zeit an mir vorbeigeschwiegen. Es ist alles gut.”

Ich wischte mir die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht.

„Da, wo ich herkomme”, schniefte ich, „da gibt es so jemanden wie dich einfach nicht.”

„Nun, ich bin zuvor auch noch niemandem wie dir begegnet.”

Wir standen eine Weile einfach einander gegenüber. Ich nahm wieder den zarten Pflanzenduft wahr und dieses seltsame Sonnenstrahlgefühl auf meiner Haut und kam langsam zur Ruhe.

„Ujora”, sagte er schließlich ernst, „es gibt Dinge, die du über meinesgleichen wissen solltest.”

„Was meinst du damit?”

„Ich wünschte, ich könnte dir begreiflich zu machen, wie sich all das für mich anfühlt.”

„Wie drollig!”

Ich zuckte zusammen. Yalomiro drehte sich um und erstarrte.

Auf dem schnurgeraden Weg, den ich gerade noch entlang gerannt war, stand im Zwielicht der schmalen Schlucht ein Mann hoch zu Ross. Wo war er hergekommen? Wir hätten ihn sehen müssen! Weit und breit waren keine Abzweigungen im Fels!

Der Ankömmling ließ sein Pferd auf uns zutrotten. „Nun, Yalomiro Lagoscyre? Willst du mich deiner unkundigen Begleiterin nicht vorstellen?”

Das war nicht nötig. Ich ahnte, nein: Ich wusste, wer das war. Angst wallte in mir auf. Mich überkam erneut der Impuls, wegzurennen. Aber Yalomiro hielt mich fest.

„Nicht”, flüsterte er. „Niemals vor einem Lichtwächter davonlaufen! Lass mich reden. Sag nichts, was ihn auf irgendwelche Ideen bringen könnte.”

Der Fremde umzirkelte uns nun. „Hat es dir die Sprache verschlagen, camat’ay? Hätte ich mich anmelden sollen?”

Der Reiter trug einen weiten Mantel, ein ebenso schlicht wie nobel wirkendes Gewand darunter und einen ähnlichen Hut wie Yalomiro. Doch jedes seiner Kleidungsstücke war rot. Auf seinem Nasenrücken saß eine schmale, kupferfarbene Halbmaske. Sie war geformt wie ein aufgeklapptes Flügelpaar, verdeckte sein Gesicht jedoch kaum und wirkte daher eher wie eine seltsame Brille denn wie eine Maskierung. Die Augen darunter waren grau wie Marmor. Sein Haar und gepflegter Bart waren wohl einmal ebenfalls rot gewesen, aber stark angegraut. Die Zügel seines fuchsfarbenen Reittiers hielt er locker in der Hand. Er hatte ein langes schmales Schwert umgegürtet.

„Yalomiro Lagoscyre”, sagte er. Seine Stimme klang souverän, sehr höflich, ungeachtet des leisen Spottes in seinen Worten. „Du bist zurückgekehrt zu den beweglichen Wesen? War dir der Kragen zu eng geworden?”

„Ihr habt mich schnell aufgespürt. Ihr seht mich erstaunt, dass Ihr noch auf dieser Seite der Träume weilt. Aber wie konntet Ihr so plötzlich herankommen?”

„Dich zu finden war kein Kunststück. Du trampelst tölpelhaft und laut durch das Weltenspiel. Da ist es nicht schwer, sich anzupirschen. Außerdem kenne auch ich … Abkürzungen.”

Yalomiro schwieg, als habe er einen Tadel erhalten. Der Reiter brachte sein Pferd zum Stehen.

„Darf ich annehmen, dass du unterwegs bist, um etwas zu aufzutreiben, das du vor langer Zeit vor mir versteckt hast?”

„Vor ein paar Augenblicken war ich das in der Tat. Nun, da ich Euch in Person vor mir sehe, habe ich meine Absichten kurzfristig geändert.”

„Bedauerlich.” Der Rotgewandete wandte sich mir zu und musterte mich prüfend.

„Eine Unkundige also”, stellte er dann fest, „Wo hast du sie aufgelesen, Schattensänger? Und wie heißt du, fremde fánjula?”

Yalomiro räusperte sich warnend.

„Ujora”, antwortete ich eingeschüchtert.

„Den Namen hat er dir gegeben, nicht wahr? Wie originell!” Der Rotgewandete lächelte.

Dieses Lächeln verwirrte mich. Es wirkte so sonderbar wohlwollend.

„Nun gut. Es steht dir frei, auf diesen Namen zu hören. Doch nun zu dir, Schattensänger. Erinnerst du dich noch an das, was ich dir bei unserer letzten Begegnung angeboten habe?”

„Ich habe ein gutes Gedächtnis. Und ich ändere nicht leichtfertig meine Meinung. Ich werde weder auf Eure Seite wechseln noch Euch das ay’cha’ree bringen!”

„Das habe ich mir fast gedacht.”

Nun schwang der ältere Magier sich aus dem Sattel. Er bewegte sich mit einer Respekt einflößenden Grazie; jemand, dem man besser nicht den Weg versperrte. Aus einem Reflex heraus trat ich einige Schritte zurück. Seinem Blick entging sicher nicht das kleinste Detail.

„Ujora”, fragte er, „bist du im Bilde, wer ich bin?”

„Ja. Sie sind … Ihr seid Gor Lucegath.”

„Bestimmt hat Yalomiro Lagoscyre dir furchtbare Dinge über mich erzählt, nicht wahr?”

Erwartete er darauf etwa eine Antwort? Ich biss mir auf die Lippen.

„Du kannst es mir ruhig sagen. Ich erwarte schließlich nichts anderes. Schattensänger sind geschickt darin, mit verwirrender Rede die Dinge in ein Licht zu rücken, das ihren Augen gefällig ist.”

„Ich glaube nicht, dass Yalomiro lügt”, brachte ich hervor.

„Gut möglich. In der Tat ist viel wahrscheinlicher, dass er dir nicht die ganze Wahrheit sagt.”

„Aber …”

„Bei Noktáma, sei still”, wisperte Yalomiro beschwörend.

„Nun, ich nehme an, er ist bislang die einzige Person, der du in dieser Welt begegnet bist. Lass es mich erraten: Bestimmt hat er dich davon abhalten wollen, andere Menschen aufzusuchen, als die Gelegenheit bestand. Menschen, die dir aufschlussreiche Dinge über die Schattensänger hätten erzählen können. Nicht wahr?”

Ich zuckte zusammen und dachte an das Bergarbeiterdorf.

„Nun, du kennst also nur seine Meinung, und von seiner Warte aus mag er sogar Recht haben. Ich bin sein Widerpart, das bestreite ich überhaupt nicht. Du weißt bestimmt auch, worum es zwischen uns geht, stimmt es nicht? Ich bin auf der Suche nach einem magischen Werkzeug, das er mir unterschlägt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Und sie hat zwei Perspektiven. Seine und meine.”

Ich sah mich verunsichert nach Yalomiro um. Noch bevor sich unsere Blicke begegnen konnten, fügte der Rotgewandete hinzu: „Warum nimmt er dich auf seine gefährliche Reise mit, wohl wissend, dass ich ihm unerbittlich nachjage? Warum bedankt er sich nicht artig bei dir und schickt dich flugs zurück nach Hause, wo du in Sicherheit bist? Was fällt ihm so schwer daran, dich aufzuwecken, wo du doch glaubst, in einem Traum umherzuirren?”

Woher konnte der Rotgewandete all das wissen?

„Er kann es noch nicht.”

„Ach? Aber dich hierher bringen, das hat er fertiggebracht? Wie hat es das bloß angestellt, frage ich mich? Mit welcher verantwortungslosen Zauberei hat er einen Weg in eine äußere Welt geöffnet? Mit einem Werkzeug wohl, einem, das sogar von einem nichtmagischen Wesen benutzt werden kann. Ganz so wie ein Angelhaken, so scheint es mir. Man sollte Magie nicht an Materie heften. Magische Bücher, Spiegel oder auch Weltenschlüssel führen letztlich doch nur zu vielen Unannehmlichkeiten.”

Von dem Schlüssel wusste er also auch. „Das mag sein, ” stotterte ich, „aber ich kann trotzdem nicht nach Hause …”

„Ein Magier, der mit Weltentüren hantiert, aber keine öffnen kann, wie es ihm beliebt? Wie kurios. Ist er nun ein großtuerischer Nichtsnutz oder ein schamloser Lügner, der in Wahrheit anderes mit dir im Schilde führt?”

Er stand nun ganz dicht vor mir. Yalomiro hatte bislang noch nicht versucht, ihm ins Wort zu fallen, aber ich sah ihm an, wie viel Beherrschung ihn das kostete.

Ich kenne den wirklichen Grund für sein Zögern, und ich werde ihn dir nennen. Er tut es nicht, weil er dich benutzen will. Er benötigt deine Kraft. Mir scheint, ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen, um dich vor einem schlimmen Schicksal zu bewahren.”

Wie meinte er das?

Ich könnte es”, fuhr Meister Gor beiläufig fort. „Ich könnte dich von hier fortbringen, und ich habe kein Interesse daran, dass du dich in diesem Weltenspiel umhertreibst. Du möchtest doch … aufwachen? Aus diesem schrecklichen Traum auftauchen, der dich in eine Welt geführt hat, die so fremd und ängstigend für dich ist?”

Mir war, als gerieten meine Gedanken ins Rutschen und würden sich zu einer neuen Idee anordnen. Das gefiel mir nicht!

Der Lichtwächter hielt mir seine Hand entgegen. „Komm, Ujora”, forderte er mich auf. „Ich kann dich aufwecken.”

Das war nun offenbar endgültig zu viel für Yalomiro. Seine Stimme war erschreckend scharf.

Lasst sie in Ruhe.

Der Rotgewandete lächelte, ohne seine einladende Geste zurückzunehmen. „Hörst du es, Ujora? Er will dich behalten, nicht zulassen, dass du in deine Domäne zurückfindest.”

„Glaub ihm kein Wort! Er hat nichts Gutes mit dir vor!”

„Was für eine gewagte Unterstellung, Yalomiro Lagoscyre, ausgerechnet aus deinem Mund.”

„Ich werde nicht zulassen, dass Ihr diese unkundige fánjula verlockt, die Euer Angebot nicht entschlüsseln kann.”

„Was geht dich das an, was ich ihr anzubieten habe? Ist sie nicht frei, für sich selbst zu entscheiden? Was uns beide und unseren ursprünglichen Disput betrifft, habe ich die Ewigkeit zur Verfügung. Es macht mir nichts aus, zu warten bis du mit mir kooperierst. Aber was soll sie dabei stehen und sich langweilen? Und welches Interesse hätte ich daran, ihr etwas zuleide zu tun? Wäre es nicht für uns alle besser, wenn sie wieder in ihr eigenes Leben zurückkehrt, wo es bei weitem nicht so … riskant für sie ist?”

„Ich lasse nicht zu, dass Ihr dieser Unkundigen zu nahe kommt. Ihr habt genug Kurzweil mit der teiranda gehabt!”, zischte Yalomiro.

Der Rotgewandete hob die Augenbrauen. „Lass die teiranda aus der Sache und geh beiseite. Ich rate es dir im Guten”, sagte er so gelassen, dass es gefährlich klang.

„Ihr werdet keine Macht über diese Unkundige erlangen, solange ich es verhindern kann!”

Gor Lucegath zuckte die Achseln. „Schau, Ujora: Er will um jeden Preis dich von mir fernhalten. Dafür muss er wohl einen triftigen Grund haben, denkst du nicht auch? Es erinnert mich ein wenig an einen Hund, der einen Knochen nicht hergeben will.”

„Mit meinem Leben werde ich sie verteidigen!”

„Ah, das Hündchen bellt den Wolf an.” Der ältere Mann war sichtlich belustigt.

Ich hingegen war ratlos. Auf beschämende Weise fühlte es sich an, als rückte ich ins Zentrum dieses Streits.

„Ujora, du musst wissen, Yalomiro Lagoscyre ist ein camat’ay, Diebsgesindel. Er sieht folglich auch in dir nichts als eine kuriose Beute!”

„Das ist Unsinn! Er will dich verwirren!”

„Sei aufrichtig, Ujora”, lockte Gor Lucegath. „Du gehörst zurück in deine Welt. Hier kann es dir nicht gut ergehen, schon gar nicht, solange er in der Nähe ist und dich mit seinem unseligen Bann einlullt. Oder dich schlafen und wachen lässt, wie es ihm in den Kram passt. Dich an Orte verschleppt, an denen du nicht sein solltest. Wer weiß, was ihm als Nächstes einfällt.”

Ich schaute konfus zwischen dem Rotgewandeten und Yalomiro hin und her. Es wurde immer schwieriger, klare Gedanken zu fassen.

„Vertraue mir, Ujora. Erliege nicht der Verlockung des camat’ay. Er will dich behalten, weil er dich ausnutzen kann. Schattensänger sind wie Parasiten: Sie zehren von der Kraft anderer Wesen. Wenn du bei ihm bleibst, wirst du es bald bereuen.”

„Meister Gor”, fuhr Yalomiro ihm scharf ins Wort, „warum versucht Ihr dermaßen verbissen, ein unkundiges Wesen auf Eure Seite zu ziehen?”

„Willst du denn leugnen, dass deinesgleichen fremde Lebenskraft ausschöpfen kann, wie Wasser aus einem Brunnen – oder den Saft aus den Adern von Pflanzen?”

Ich zuckte zusammen.

„Natürlich leugne ich das nicht. Aber das tut hier nichts zur Sache.”

„Dann lass sie selbst entscheiden”, antwortete der Rotgewandete. „Mir scheint, du hast ihr wissentlich vorenthalten, wie gefährlich deinesgleichen ist.”

Was war hier los? Und hatten die beiden jetzt etwa ernsthaft begonnen, um mich zu streiten? Und was hatte das zu bedeuten … Lebenskraft ausschöpfen?

Ängstlich zog ich mich einen weiteren Schritt zurück, stieß dabei mit dem Rücken an den Felsen. Ich war überfordert. „Bitte … hört auf! Ich weiß nicht mehr, was richtig ist!”, kam es irgendwie über mein Lippen.

„Deine Zutraulichkeit hast du ihn in aller Unschuld kosten lassen. Darauf hat er gewartet, Geschmack daran gefunden, und er sinnt jetzt darüber nach, wie er deine Kraft ganz an sich reißen kann.”

„Woher wisst Ihr, dass …”

„Dass sie bereit war, dir ihre … Freundschaft anzubieten? Dass du dich dazu hinreißen lassen hast, sie mit deiner maghiscal zu umarmen, sobald du bemerkt hast, dass sie deiner Verlockung widersteht? Was glaubst du eigentlich, Yalomiro Lagoscyre, wie lange ich euch beide schon beobachte?”

Yalomiro wirkte sichtlich alarmiert … ertappt?

„Ich habe nicht vor, ihr Leid zuzufügen!”

„Dann hast du ihr nicht vorsätzlich in die Augen geschaut?”

„Das wisst Ihr auch?”

„Selbstverständlich. Ich frage mich nur, was du getan hättest, wenn dein Blick seine natürliche Wirkung erfüllt hätte!”

„Ich wusste, dass es gut ausgehen würde.”

„Woher?”

„Noktáma hätte es nicht anders gefügt!”

„Das, Yalomiro Lagoscyre, ist unfassbare Anmaßung. Darf ein Schüler sich herausnehmen, den Willen der Schutzmacht nach seinem Gutdünken auszulegen?”

„Was soll der Schüler anderes tun, wenn der Meister ermordet wurde?”

Gor Lucegath wandte sich mir zu. „Es ist mir wirklich ein Rätsel, was du an ihm findest, Ujora. Er ist arrogant, eitel und eigennützig.”

„Und euersgleichen ist von der eigenen Schutzmacht verstoßen.”

„Ist das stets die letzte Rechtfertigung, die euersgleichen einfällt? Etwas Besseres weißt du nicht vorzubringen?”

„Und Ihr? Was erhofft Ihr Euch? Amüsiert Euch die Zerbrechlichkeit eines unkundigen Verstandes? Habt Ihr nicht schon genug an der teiranda gehabt, Euch nicht ausreichend daran erfreut, wie Eure Magie Unkundige zurichtet? Euersgleichen ist zu Recht verstoßen vom Licht!”

„Was kümmert es dich? Du hast genügend eigene Unannehmlichkeiten, wenn ich erst damit beginne, mich ernsthaft mit dir zu befassen.”

Ich gab auf. Ich konnte nicht mehr folgen. Die beiden Magier hatten sich nun auf eine persönliche Ebene begeben. Doch aus irgendeinem Grund ging es bei diesem Zank zunehmend um mich. Nicht um das wundersame Artefakt, nicht um Yalomiros Entkommen aus der Weihestätte. Sie sprachen über mich.

„So redet Ihr gleich in ganz anderem Ton. Es ist wahr, ich möchte sie bei mir behalten, solange bis ich ihr helfen kann. Aber ich will, dass sie freiwillig bei mir bleibt.”

„Glaubst du, eine Unkundige, ein unwissendes, unschuldiges Wesen sei in der Lage, eine freiwillige Wahl zu treffen, wie du sie verlangst?”

„Nein. Aber eines sehe ich ganz deutlich: Ihr wollt sie mir wegnehmen. Warum verschwendet Ihr so viele Worte? Warum gebt Ihr Euch diese Mühe? Das, Meister Gor, erweckt wiederum mein Interesse. Die Unkundige ist wertvoll. Und ich werde nicht kampflos zulassen, dass Ihr Euch erneut an etwas Kostbaren bemächtigt.”

War ihnen nicht klar, dass ich jedes Wort hörte, das sie einander entgegenwarfen? Ich fühlte mich auf eine sehr unangenehme Weise berührt, übergangen. Ich war es nicht gewohnt, dass sich jemand für mich auf eine solche Weise interessierte.

„Kampflos?” Meister Gor lachte spöttisch. „Du nimmst mir gegenüber das Wort Kampf in den Mund? Ich …”

„Yal!”

Yalomiro stieß ihm die Hand entgegen. Der Rotgewandete wurde von einem Puls aus unsichtbarer Energie erfasst und strauchelte gegen die gegenüber liegende Felswand. Sein Pferd wieherte erschrocken und tänzelte ein Stück beiseite, lief aber nicht weg.

Im selben Moment hatte Yalomiro mich gepackt. Er drückte mich an sich, zog mich unter seinen Mantel und richtete eine abwehrende Geste in die Richtung seines Gegners. Seine Augen glommen, strahlten wieder in klarem Silber. Wie immer dieser Zauber funktionierte, es war derselbe gewesen, mit dem er im Wald den Baum umgerissen hatte. Einer, der sein Ziel fällen konnte.

Die maghiscal umschloss uns beide. Ich umklammerte Yalomiro mit beiden Armen. Meine Wange lag an seiner Schulter. Ich spürte seine Hand auf meinem Rücken. So nah war ich ihm zuvor nie gewesen.

Der Rotgewandete rappelte sich auf. Er schien unverletzt.

„Was sagt Ihr nun, Meister Gor?”, fragte Yalomiro herausfordernd. „Habt Ihr bemerkt, dass ich zu kämpfen weiß?”

„Hervorragend, camat’ay. Du bist flink und bereits wieder erstaunlich stark. Allerdings hättest du ernsthaft versuchen müssen, mich zu töten. Wie befremdlich, dass du es nicht getan und dabei Magie verschwendet hast. Und wie tragisch, dass du nun keine zweite Gelegenheit dazu bekommen wirst.”

„Ich bin weit mächtiger, als Euch lieb sein sollte. Doch will mir meine maghiscal nicht mit Blut besudeln, und erst recht nicht mit dem Euren!”

Meister Gor seufzte. „Wie sehr mich diese eitle Rede anwidert. Wer bist du, dass du dir einbildest, deine Magie im Weltenspiel dauerhaft unschuldig halten zu können, wie ein Knabe, den man ermahnt, sein Festtagsgewand nicht zu beschmutzen? Du bist wie ein Kind, Yalomiro Lagoscyre, ein aufsässiger Flegel, der früher oder später über seine eigene Impertinenz stolpern und seine Macht verderben wird, nun, da du den Schutz des Etaímalon verlassen hast. Es sollte dich ehren, dass ein Meister wie ich überhaupt mit dir spricht.”

„Was nützt es mir, wenn ein Meister mit mir spricht, der nicht weiß, wovon er redet?”

„Und nun beginnst du auch noch, mich zu langweilen. Das ist feuergefährlich, für dich und deine Unkundige.”

Ich wäre am liebsten gänzlich unter Yalomiros Mantel gekrochen, wie ein Kleinkind, das sich hinter einem Erwachsenen versteckt. So unangenehm wurde mir die Szene. Mir blieb nichts anderes übrig als stumm zuzuhören und in Panik zu geraten. Ich spürte, wie seine maghiscal vor Anspannung knisterte.

„Und wenn es mein Ende ist”, sagte Yalomiro, „ich werde sie vor Euch beschützen!”

Der Rotgewandete seufzte. „Warum sollte ein Schattensänger eine Unkundige um den Preis seines Lebens verteidigen?”

„Weil sie meine Freundin ist!”

Hatte Yalomiro das gerade tatsächlich gesagt? Oder war es mein Wunschdenken, meine Panik angesichts der bedrohlichen Situation? Ich hielt den Atem an, spürte seine Hand sanft auf meinem Rücken.

„Wir kommen so nicht weiter. Du kannst nicht ewig dort stehen bleiben, wo du gerade bist. Früher oder später wirst du sie loslassen müssen, spätestens, wenn sie in deinen Armen erneut zu verdursten beginnt. Übrigens, Ujora, nur am Rande bemerkt: Ich habe Trinkwasser bei mir. Reines Wasser ohne darin gelösten Schlaf.”

Schlagartig spürte ich den Durst wieder, so als hätte die pure Erwähnung von Wasser ihn erneut entfacht. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, aber es gelang mir nicht. Mir war klar, dass Meister Gor irgendetwas mit meinen Gedanken anstellte, ohne dazu zaubern zu müssen.

„Zieht Ihr ernsthaft in Betracht, dass sie mich für einen Schluck Wasser verraten könnte?”

„Noch nicht. Wie gesagt, ich habe Zeit. Und ich habe Unkundige unter den passenden Umständen schon für weit Geringeres Verrat begehen sehen.”

„Ich werde sie Euch nicht kampflos überlassen.”

„Dann willst du riskieren, dass deine unkundige … Freundin zu Schaden kommt, nur weil du nicht einsiehst, dass du in der Falle sitzt?”, gab Meister Gor leichthin zurück. „Es ist meines Erachtens nur noch zu klären, ob du sie mit ins Verderben reißt oder nicht.”

Yalomiro gab einen erschöpften Seufzer von sich. Einen Moment schien er nachzudenken.

„Ich wäre bereit, mit dir zu handeln”, fügte der Rotgewandete hinzu.

„Handeln?”

„Ich bin kein Narr, Yalomiro Lagoscyre. Und mir ist nicht danach, hier aus Sturheit Zeit zu vergeuden. Was verlangst du?”

„Gebt Ihr der fánjula freies Geleit und haltet sie aus unseren Angelegenheiten heraus?”

„Das klingt schon einsichtiger!” Meister Gor kam näher. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als er nur einen Schritt vor mir stehen blieb. „Lass sie los, Yalomiro. Ich werde ihr nichts antun. Das verspreche ich. Nur du und ich – und unsere Angelegenheiten. Die Unkundige ist – unwichtig.”

Garantiert Ihr mir das?”

„Ja. Ich werde die Unkundige nicht behelligen. In unserem Spiel ist sie nicht mehr als eine kleine Fliege, die sich in eine Stube verirrt hat. Ich könnte sie erschlagen, die Fliege, aber ebenso wenig Mühe würde es mir machen, einfach das Fenster zu öffnen und sie hinaus zu lassen. Ich werde sie nicht anrühren, nicht mit Magie und nicht mit meinen Händen. Ich gelobe es bei den Mächten.”

Yalomiro runzelte misstrauisch die Stirn. „Bei den … Mächten?”

„Bei den Mächten, denen du und ich gleichermaßen dienen.”

Einen Augenblick schien Yalomiro unentschlossen. Offenbar hatte der Rotgewandete soeben etwas so Bedeutsames gesagt, dass es all seine Einsprüche und Bedenken entkräftete.

Dann ließ er mich zu meinem allergrößten Entsetzen tatsächlich los.

„Yalomiro”, wimmerte ich. „Was tust du?”

„Lauf, Ujora”, sagte Yalomiro, ohne den anderen aus den Augen zu lassen. „Lauf, so schnell du kannst. Wenn ich ihn besiege, werde ich dir folgen. Wenn nicht … lauf nach Norden, immer nach Norden. Dort sind hilfreiche Menschen.”

„Norden”, fügte der goala’ay hilfreich hinzu, „ist dort, wo die Sonne abends im Meer versinkt. Pataghíu, der Vater des Hellen Tages, wird dir den Weg weisen.”

„Aber …”

Der ältere Magier tat einen Schritt beiseite und bedeutete mir mit einer galanten und zugleich nachdrücklichen Geste, an ihm vorbeizugehen. Ich war so perplex, dass ich es tat.

Kaum war ich außer Reichweite, geschah alles Weitere blitzartig. Gor Lucegath zog in einer fließenden Bewegung sein Schwert aus der Scheide und setzte es Yalomiro auf die Brust. Es ging so schnell, dass ich erst begriff, was geschah, als es bereits passiert war. Die Klinge der Waffe schimmerte bläulich wie ein Insektenpanzer. Wahrscheinlich bestand sie nicht aus Eisen.

„Das ist Betrug!”, keuchte Yalomiro auf.

„Im Gegenteil. Du hast deinen Willen bekommen. Nun fordere ich mein Recht.” Gor Lucegath hielt ihn mit der sonderbaren Waffe in Schach. Der lotrecht aufragende Fels hinter Yalomiros Rücken vereitelte ein Ausweichen.

Ich hätte rennen und mich in Sicherheit bringen sollen. Stattdessen stand ich da wie angewurzelt und war fassungslos.

„Warum klopft dein Herz so wild, Yalomiro Lagoscyre? Ich spüre, wie es unter meinem Schwert zappelt wie ein Vogel im Netz. Dabei sollte dir klar sein, dass es in meinem eigenen Interesse liegt, dass es weiterhin brav schlägt. Notfalls bis ans Zeitenende. Lass mich das regeln.”

Im Nachhinein betrachtet war es ein irrsinniger Impuls, aber vielleicht konnte ich ihm das Schwert irgendwie entwinden, oder ihm in den Arm fallen …

„Nicht!”, rief Yalomiro aus, bevor ich den Gedanken fassen konnte. „Geh weg von ihm!”

„Bleib zurück, Ujora”, sagte Meister Gor beiläufig. „Was ich jetzt tue, ist nicht mehr als eine Formalität. Und es wäre jammerschade, wenn du aus eigener Unachtsamkeit meiner Klinge zu nahe kommst.” Er bewegte die Schwertspitze abwärts, zerschlitzte Yalomiros Hemd dabei.

Die Klinge hinterließ lediglich einen zarten Kratzer auf seiner Haut, aus dem in stecknadelkopfkleinen Perlen eine Flüssigkeit hervortrat, die aussah wie Quecksilber. Yalomiro ächzte auf, weniger vor Schmerz als vor übergroßem Entsetzen. Der Rotgewandete streckte fordernd die Hand in meine Richtung aus. „Du hast etwas bei dir, das mir gehört, ujora. Ich hätte es gern zurück.”

Ich suchte kopflos Yalomiros Blick.

„Er meint sein Gold. Gib es ihm, bevor er es sich nimmt”, wisperte er erstickt.

Ich holte den Ring aus der Jackentasche hervor. Er war zuletzt bis auf den Durchmesser eines Bierdeckels geschrumpft. Der Rotgewandete nahm ihn mir sacht aus der Hand. Der Reif verformte sich, als griffe er plötzlich eine sich windende Schlange.

„Wie nett, dass du so umsichtig warst, ihn mitzunehmen, Ujora”, sagte der goala’ay. Das sich schlängelnde Gold wuchs. „Und du, Yalomiro Lagoscyre, hatte ich dir nicht vorhergesagt, dass du vor mir nicht weglaufen kannst? Dass ich dich immer wieder einfangen werde, solange ich lebe? Das war keine leere Drohung, sondern ein völlig ernst gemeinter Bann. Doch jeden Fluchtversuch wirst du ein bisschen mehr bedauern. Diesmal sollst du es spüren.”

Er warf den Goldstrang in Yalomiros Richtung, aus dem Handgelenk, lässig als sei es eine Frisbeescheibe. Das Metall traf Yalomiros Hals und schnappte wieder in seine Ringform zurück, fügte sich nahtlos zusammen.

Im selben Moment überflutete mich wieder Kälte wie ein Schwall Eiswasser, obwohl ich nur zwei Schritte von ihm entfernt stand. Es war allerdings nicht so heftig wie in der Nacht zuvor. Es war, als hielte sie … Abstand.

Yalomiro rang nach Luft. Er ging in die Knie und griff sich an den Hals, schien aber das Halsband nicht anfassen zu können. Seine Finger erreichten es einfach nicht. Die silbrige Flüssigkeit, wahrscheinlich Blut, änderte ihre Farbe, erstarrte und wurde stumpf und bleigrau.

„Muss das sein?”, kam es mir stockend über die Lippen.

„Es ist notwendig. Nur das Gold bändigt seine Magie”, erklärte Meister Gor gelassen. „Du kannst allerdings nicht mehr unter seine maghiscal schlüpfen, solange er Gold am Körper trägt. Wenn du vernünftig bist, ob du mir nun traust oder nicht – komm nun zu mir. Ich kann dich in diesem … Alptraum … beschützen.”

„Ihr wolltet sie gehen lassen”, stieß Yalomiro jämmerlich zwischen seinen Fingern hervor.

„Wollte ich das?”, gab der Rotgewandete zurück. „Ich habe dir versprochen, ihr nichts anzutun. Natürlich kann sie gehen, wohin es ihr beliebt. Ich werde sie nicht zurückhalten. Die Frage ist, wie weit sie käme, allein und planlos. Und du, Ujora, du hast mich gehört. Geh fort, ohne dich noch einmal umzusehen, oder begleite mich. Wenn du vernünftig bist, vertraust du dich mir an. Ich kann dir in der Tat helfen kann, den Weg zu finden, den du wirklich suchst. Solltest du mir misstrauen, habe ich vollstes Verständnis dafür. Dann kannst du meinetwegen allein weiter durch den Montazíel stolpern, dich hoffnungslos verirren, verdursten und darauf warten, dass ein Wanderer in ferner Zukunft deine Gebeine findet, um sie zu bestatten. Allerdings – das wäre schade um dich. Ausgesprochen schade. Dann hätte deine weite Reise niemandem genützt.”

Hatte ich eine Wahl?

„Dann komme ich wohl besser mit”, murmelte ich.

„Sehr vernünftig. Ich werde ich dich an einen Ort führen, an dem du in guter Gesellschaft bist, deine menschlichen Bedürfnisse befriedigen und vorerst zur Ruhe kommen kannst. Aber ich darf dabei nicht riskieren, dass er mir wieder erwischt. Sie sind unglaublich flink, die camat’ay. Es ist eine Kunst, sie zu packen.”

Er warf eine elegante Geste nach Yalomiro. Dessen Augen wurden blank und pechschwarz, das Schimmern darin verlosch wie ausgeknipst. Einen Moment lang schwankte er. Dann erschlaffte sein Körper und sackte zusammen. Der Rotgewandete fing ihn auf, bevor er stürzte.

Ich erschrak. „Ist er … tot?”

„Nein. So kommt er mir vorerst nicht davon.” Der Rotgewandete packte den Bewusstlosen unter den Achseln, zerrte ihn hoch und schleifte ihn hinüber zu seinem Pferd, das die ganze Zeit reglos gewartet hatte. Der Magier wuchtete den leblosen Körper über den Sattel. Dann holte er ohne Eile etwas aus einer daran befestigten Tasche hervor und wandte sich wieder mir zu. Es war eine kleine Tonflasche. Gor Lucegath löste den Korken und hielt sie mir hin.

„Trink. Es war unverantwortlich von ihm, mit dir loszuziehen, ohne zumindest etwas Wasser mitzunehmen. Wozu hat das Pack diesen bodenlosen großen See in seiner Domäne?”

Ich zögerte. Der Durst war überwältigend.

„Nimm schon. Es ist einfach nur frisches Wasser.”

Ich griff zu und nahm erst nur einen vorsichtigen Schluck. Dann verlor ich die Hemmungen und trank gierig. Es war … köstlich, erfrischend. Es war meine Rettung.

Meister Gor schaute mir geduldig zu. Er lehnte sich an sein wartendes Pferd und legte die Fingerspitzen aneinander.

„Nun, da mir vorerst niemand mehr mit vorlauter Rede ins Wort fällt, Ujora, und sobald du dich wieder gesammelt hast, wäre es mir ein Bedürfnis, mich mit dir zu unterhalten, wie es verständige Menschen tun.”

Ich setzte die Flasche ab.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann.”

„Doch, das kannst du. Ich bin nicht der Unhold, als der er mich dir sicherlich präsentiert hat. Ich bedauere es, wenn unser harscher Wortwechsel einen irrführenden Eindruck hinterlassen hat. Die Geschichte hinter alldem ist viel länger als die paar Worte, die du von ihm kennen magst. Gib mir die Gelegenheit, dir das zu beweisen. Später.”

Er fasste das Pferd beim Zügel, nahm seine Flasche zurück und wandte sich ab, in die Richtung, aus der er gekommen war. Kaum war er ein paar Schritte weit weg, erfasste mich die Kälte.

„Nun komm schon mit”, forderte er mich auf. „Lass uns reden. Wenn du nahe bei mir bleibst, wird die Kälte, die du gerade empfindest, erträglicher. Hab keine Scheu vor mir. Meine maghiscal ist dir vielleicht nicht so behaglich und … begehrenswert wie die seine, aber sie schützt dich genauso. “

„Seid denn nicht Ihr selbst derjenige, von dem diese Kälte ausgeht?”

„Nein. Die Kälte ist nicht mein Werk. Und nun sei vernünftig. Allein findest du nicht aus dem Montazíel heraus. Ich werde dir nichts antun, im Gegenteil. Ich bin tatsächlich hier, um dir zu helfen.”

„Warum solltet Ihr das tun?”, fragte ich. „Wie kann ich Euch trauen?”

„Sag, Ujora”, antwortete er gelassen, „bist du eine mächtige Magierin in deiner Welt?”

„Natürlich nicht!”

„Ist es dann nicht eitel, anzunehmen ich könne ein Interesse daran haben, dir Schaden zuzufügen? Du bist keine Gegnerin für mich.”

Er legte mir die Hand auf die Schulter. Ich wagte nicht, ihm auszuweichen, obwohl mich diese Berührung erschreckte. Aber in dem Moment, in dem er mich anfasste, wurde die Kälte gedämpft. Nein: dumpf. Er dirigierte mich mit sachtem Druck vorwärts, und ich tappte folgsam neben seinem Pferd her. Yalomiro hing weiterhin reglos über dem Sattel. Ich konnte nicht umhin, immerzu auf den Halsring zu starren. Der goala’ay bemerkte es.

„Schattensänger spüren eine Goldmünze auf hundert Schritt Entfernung. Gold, das ihre Haut berührt, schmerzt sie wie heißes Eisen. Gold, das sie umringt, bannt ihre Zauberkräfte. Eine lächerliche Schwäche sollte man meinen. Aber Noktáma hat sich wohl dabei etwas gedacht in ihrer schattenhaften Weisheit.”

„Tut der Reifen ihm dann nicht furchtbar weh?”

„Nicht, solange er bewusstlos ist. Er wird auch keinen bleibenden Schaden davon nehmen. Sagen wir, es ist eine kleine Unbehaglichkeit, die sich trefflich ausnutzen lässt, um seinesgleichen etwas gefügiger zu machen. Gewiss, wenn ich irgendwann einmal habe, was ich brauche, werde ich ihn auslöschen. Aber das hat noch Zeit. Vorerst ist er gewissermaßen in Sicherheit.”

Mir war voll und ganz bewusst, was für eine bizarre, leichtsinnige und taktlose Frage das war, aber ich konnte nicht anders. „Habt Ihr schon viele Menschen getötet?”

„Selbstverständlich.”

„Habt Ihr denn kein schlechtes Gewissen?”, brachte ich heraus, verstört über seine Gelassenheit.

Gewissen? Ujora, ich bin ein Lichtwächter. Ein Gewissen zu haben liegt nicht in unserer Natur. Aber es ist wohl zu früh, dass du das einsiehst.”

„Ich verstehe.”

„Nein, das tust du nicht. Aber das ist nicht schlimm. Es wird sich finden. Doch genug von mir. Ich gebe zu, ich bin wissbegierig. Wohin, hat er dir gesagt, wollte er dich führen?”

Konnte ich es wagen, ihn anzuschwindeln oder mich dumm zu stellen? Nein, lächerlich. Dieser Mann würde sofort spüren, wenn ich log. So nahe, wie ich Gor Lucegath jetzt war, strahlte er eine Autorität aus, die mir den Atem verschlug. Es war ein furchtbares Gefühl. Und doch war doch noch etwas anderes. Ein bizarres Charisma.

„Er sprach von einem Tal jenseits dieser Berge”, antwortete ich gehorsam. „Von einem Ort dort, aber ich erinnere mich nicht…”

„Ondarwijn? Sundálmer? Valvivant?”

„Ja, das Letzte…” Ich stutzte und hätte mich ohrfeigen können.

Die Mundwinkel des rotgewandeten Magiers zuckten, ganz kurz.

„Ausgerechnet Valvivant also. Eigenartig, wie zielstrebig er sein Verderben sucht. Eine gedankenlose schwarze Motte, die in die nächstbeste Flamme fliegt. Warum hast du dich so geziert, dich darauf einzulassen?”

„Ich weiß nicht.”

„Du kannst mir nichts vormachen, Ujora. Du bist bereits in ihn … nun, sagen wir: vernarrt. Das ist keine Schande. Jede unkundige fánjula würde in seiner Nähe von ähnlichen Gefühlen übermannt. Denk dir nicht, dass er so naiv ist, dass er es nicht begriffen hätte. Er weiß, wie er das für sich nutzen kann. Er würde nicht zögern, dir deine Lebenskraft zu nehmen, wenn er sie gerade gebrauchen kann.”

„Das kann ich nicht glauben.”

„Willst du es riskieren, die Wahrheit herauszufordern?”

„Nein. Natürlich nicht.”

„Dann ist es besser für dich, wenn du dich von ihm fernhältst.”

So, wie er mit mir redete, klang das tatsächlich, als wolle er mir einen guten Hinweis geben. Das gefiel mir nicht. Es passte nicht zu dem, was ich von einem bösen Zauberer erwartete. Er schien das zu erraten.

„Ich bin mir bewusst, dass du Angst vor mir hast, und ich wäre gekränkt, wenn dem nicht so wäre. Aber dennoch gebe ich dir jetzt, hier und unter uns einen Ratschlag: Es ist unklug, unseresgleichen zu lieben. Denn Liebe und Magie bringen immer den Tod. Ihr sollt uns verehren oder fürchten. Aber seid niemals so leichtsinnig, uns zu lieben.”

„Und was geschieht nun mit mir?”

„Ich bringe dich zu meiner Herrin. Es tut deinesgleichen nicht gut, unter Magiern zu sein. Du brauchst unkundige Gesellschaft. Dann sehen wir weiter.”

„Was wird aus ihm?”

„Mir ist wohler, ihn unter meinen Augen zu haben, bis mir ein gangbarer Weg einfällt, das ay’cha’ree zu erbitten.”

„Und was wollt Ihr mit dem Artefakt tun?”

„Ich denke, das würdest du nicht verstehen. Noch nicht. Ich will keine Macht, Ujora, keine Reichtümer, keine Weltherrschaft. Nichts von dem, was du dir in deinem unschuldigen Verstand zusammenreimst. Vielleicht, weitgereiste Unkundige, bin sogar ich der Gute in dieser Partie des Weltenspiels. “

Das sagte er durchaus nicht, als wolle er scherzen. Ich war verwirrt.

„Erklärt Ihr mir das? “, fragte ich.

„Nein”, antwortete er belustigt. „Nicht jetzt.”

Der Weg stieg an, wie eine Rampe, immer höher hinauf. Mit jedem Schritt, den wir gingen, veränderten sich die Felswände an den Seiten der Schlucht. Hatten sie zuvor noch in schwindelnde Entfernung aufgeragt, wichen Sie nun mehr und mehr voneinander zurück. Nach einiger Zeit waren es kaum noch mehr als steile Abhänge, die den Weg flankierten. Schließlich verschwanden sie ganz. Dieser sonderbare natürliche Aufgang hatte uns auf ein Hochplateau geführt, über das zarte, klamme Nebelschwaden hinweg zogen. Hier oben, unmittelbar unter dem Tageslicht und unbeschattet, gab es sogar nennenswerte Vegetation: Gras, niedrige Büsche, Nester von Kräutern. Eine weite Wiesenfläche mit kümmerlich wachsenden Pflanzen.

Vielleicht lag es an der Jahreszeit. Vielleicht war es eine Winterwiese. Erstaunlicherweise wurde es trotz der großen Höhe nicht allzu kalt.

Zudem waren wir nicht allein hier. Noch weit entfernt und erst vage zu erkennen, kam eine Gruppe von Personen in Sicht.

„Ich werde dich nun der teiranda vorstellen”, sagte Meister Gor.

„Ich bin noch niemals einer teiranda begegnet. Das ist sowas wie eine Königin, nicht wahr? Muss ich … wie soll ich mich verhalten?”

„Sei demütig und bescheiden und begegne ihr mit Respekt. Sie ist ihrerseits noch nie einem Wesen aus einer fremden Welt begegnet und ist sehr gespannt darauf, deine Bekanntschaft zu machen. Ich denke, ihr werdet euch gut verstehen. Ihr habt wahrscheinlich mehr Gemeinsames, als du dir vorstellen kannst.”

„Und wie geht es dann weiter?”

„Wir nehmen dich mit uns nach Pianmurít. Dort bist du in Sicherheit, bis ich dich in deine Welt zurückbringen kann. Sicherer als in Valvivant.”

„Ich habe ja keine andere Wahl.”

Meister Gor lächelte. „Nun, ich zwinge dich zu nichts.”

„Was ist Pianmurít? Ist sie nicht die Königin … die teiranda von Wijdlant?”

„Doch. Aber auch das wirst du später verstehen.”

Mit jedem Schritt erkannte ich mehr Details. Die Gestalten umringten einen geschlossenen Wagen, oder vielmehr einen Karren mit einem kastenartigen Aufbau und hohen Rädern. Einen Kutscher gab es offenbar nicht. Das Gefährt war grau. Die Leute saßen auf Pferden; sie alle trugen Gewänder, die wie mit Asche bestäubt aussahen. Sie schienen von Zeit zu Zeit mit dem Nebel zu verschmelzen.

Dennoch munterte mich der Anblick auf. Menschen! Einen echten herrschaftlichen Reisezug hatte ich da vor mir.

Es war ein gutes Dutzend Personen, ausschließlich Männer. Einige von ihnen trugen schlichte, andere aufwändigere Kleidung. Einige waren bewaffnet, mit Schwertern und Schilden.

Sie alle verharrten, inklusive ihrer Reittiere, völlig reglos. Wie eingefroren. Ich stutzte. Irgendetwas stimmte mit diesen Leuten nicht. Aber erst aus der Nähe sah ich, was es war.

Die Personen hatten sämtlich kein Gesicht.

Oder, besser gesagt – da war eines, aber … es war ein Gesicht, dass man nicht anschauen konnte. Mir fehlen die Worte, es zu beschreiben. Ihre Gesichter sahen aus wie verschwommene Fernsehbilder oder ein verwackeltes Foto. Sie waren diffus bis zur Unkenntlichkeit.