
Es war ein sonniger Tag. Ich saß am Küchentisch auf dem viel zu großen Stuhl, ließ die Beine baumeln und horchte. Es gab zwei Geräuschquellen: Das undeutliche, verschwommene Lärmen der anderen Kinder auf dem Spielplatz neben dem Haus und das klare, scharfe Klappern und Klimpern, das Oma verursachte, während sie hinter mir herum werkte. Sie kochte ein Mittagessen für mich. Das tat sie oft. Ich war sozusagen bei Oma aufgewachsen. Sie hatte immer Zeit gehabt. Bei ihr war ich ordentlich … untergebracht.
Ich konnte sie nicht sehen, aber ich hatte sie genau vor Augen, mit ihrer gemusterten Kittelschürze, der Brille mit dem dicken Gestell und der stets akkurat mit Lockenwicklern in Form gebrachten, ergrauten Frisur. In meiner Erinnerung war sie untrennbar mit dieser ganz speziellen Art von Küche verbunden, mit Möbeln, die nicht zusammenpassten, Gerätschaften, die ohne Strom funktionierten und alten Emaille-Kochtöpfen mit Zwiebelmuster.
Sie sagte nichts. Sie redete nie viel, aber sie versorgte mich auf eine geruhsame Weise. Ihr konnte ich alles erzählen.
Hier war ich sicher. Hier, in Omas Küche, konnte mir nichts passieren.
Sie war nie eine talentierte Köchin gewesen. Alles, was sie auf den Tisch brachte, war von äußerster Schlichtheit und Improvisation geprägt. Mein Lieblingsgericht, dessen Duft mir auch jetzt in die Nase stieg und Vorfreude weckte, war von dieser Art: Nudeln, viel zu lange gekocht und dabei auf eine ganz eigentümliche Konsistenz gebracht, mit deutlich zu viel Butter und Ketchup als Soße.
Irgendwann war Oma nicht mehr da gewesen. Mein sicherer Ort war verschlossen.
Ich stutzte. Wenn Oma doch fort war – wo war ich jetzt? Und warum war die Küche so groß? War ich etwa so klein? Was war das hier?
Eine Hand stellte den Nudelteller mit dem kitschigen Blümchenmuster am Rand und Omas nicht reproduzierbarem Gericht vor mir ab. Aber es waren nicht ihre runzeligen Finger mit den altmodischen Ringen. Es war eine schlanke Männerhand.
Ujora?
Die Küchenszene aus meiner frühen Kindheit dimmte fort. Die Erinnerung an den Geschmack der köstlichen zerkochten Nudeln hatte ich ganz zart auf der Zunge.
Ich lag lang ausgestreckt vornüber auf dem Hals des schwarzen Pferdes, das nun im Schritttempo voran zockelte. Meine Erwartung, in meinem eigenen oder einem Krankenhausbett zu erwachen, verflüchtigte sich erneut. Ich schrak hoch und mühte mich ab, wieder in Sitzposition zu kommen. Meine Hände waren noch immer um den Schultergurt der Tasche geschlungen, aber ich konnte ihn nun loslassen.
Das schwarze Pferd folgte einem schmalen Pfad, der an beiden Seiten von steilen Felswänden gesäumt war, schwindelerregend hoch aufragend und wie glatt poliert. Es schien, als seien die Berge links und rechts von einem überdimensionierten Axthieb gespalten worden. Durch diese dämmrige Klamm führte der Weg. Hoch oben war Tageslicht, von dem nur so viel hinab drang, dass ein seltsames Zwielicht uns umgab.
„Was ist passiert?”, fragte ich, mit einem Schlag hellwach.
Ich habe dich geweckt. Ich war beunruhigt.
„Beunruhigt?”
Du warst plötzlich so traurig.
Er blieb stehen. Ich beeilte mich, von seinem Rücken zu rutschen. Während ich meine Glieder sortierte dazu, schlüpfte Yalomiro hinter meinem Rücken wieder in seine Menschengestalt, bevor ich mitbekam, wie er das anstellte. Als ich mich ihm zuwandte, schaute er mich fragend an.
„Es ist alles in Ordnung. Ich hab nur … schlecht geträumt.”
„Kannst du mir nachsehen, dass ich dich nochmals überrumpelt habe? Ich hätte nicht gewusst, wie ich es mit dir hätte ausdiskutieren sollen. Das nächste Mal werde ich dich vorwarnen.”
„Du bist mit mir bis in die Berge galoppiert, ohne dass ich runtergefallen bin?”
„In dem Moment, in dem du meine Tasche berührt hast, bist du sozusagen ein Teil meines Gepäcks geworden.”
„Du veralberst mich doch!”
„Wie denkst du, bist du sonst hergekommen? Wir mussten uns beeilen. Die plötzliche Kälte in der Heide hat mich beunruhigt.”
„Dann hast du sie auch gespürt?”
„Ja. Aber ich weiß nicht, was es war. Lass uns über etwas anderes reden.”
„Wie lange habe ich geschlafen? Du hast mich doch irgendwie wieder betäubt, oder?”
„Nein. Du hast nicht geschlafen, sondern dich an einen Ort erinnert, an dem du dich absolut geborgen gefühlt hast.”
Das musste ich eine Weile sacken lassen.
„Weißt du etwa auch, woran ich mich erinnert habe?”, fragte ich schließlich argwöhnisch. Der Gedanke, dass er nun seinerseits eine Vorstellung davon hatte, wie ich als Fünfjährige nach matschigen Spaghetti gegiert hatte, war mir auf seltsame Weise peinlich.
„Nein. Das geht mich nichts an. Ich spüre lediglich, dass es dich bewegt hat. Es tut mir leid, wenn ich etwas angerührt habe, das dir so wertvoll war. Ich konnte nicht ahnen, dass schöne Gedanken dir nun Traurigkeit bereiten.”
„Ich auch nicht”, murmelte ich. Ich hatte so lange nicht mehr an Oma gedacht.
„Immerhin sind wir sehr schnell vorangekommen.”
Ich folgte ihm und wunderte mich, dass mir von dem Wahnsinnsritt nicht jeder Knochen schmerzte. War er tatsächlich die ganze Strecke durch diese weitläufige Heidelandschaft galoppiert? Oder hatte er uns womöglich irgendwie teleportiert? Ich traute ihm das zwischenzeitlich zu.
„Verwandelst du dich häufig in Tiere?”, versuchte ich mich an Smalltalk.
„Nur, wenn es für den Moment nützlicher ist als mein eigener Körper.”
„Darf ich eine dumme Frage stellen?”
„Nur zu.”
„Was passiert derweil mit deiner Kleidung?”
Er lachte leise.
„Was ist daran so lustig?”.
„Genügt dir als Erklärung, dass meine Gewänder ein wesentlicher Teil meines Zaubers sind?”
„Ja.”
„Gut. Dann komm. Ich werde dich später wieder tragen, aber es ist nicht gut, wenn ich allzu lange am Stück meine Gestalt verändere. Außerdem kann ich nicht gleichzeitig ein Pferd sein und anderweitig zaubern.”
„Ich verstehe.”
„Willst du mich denn gar nicht davon überzeugen, dass das alles eigentlich unmöglich und nur ein Traum ist?”
„Nein. Ich beginne, mich damit zu arrangieren.”
„Wunderbar.”
In ging ihm auf dem schmalen Pfad nach. „Wohin führt dieser Weg?”
„Direkt nach Valvivant. Dort wirst du auf mich warten. Ich will weiter nach Wijdlant. Das ist das teirandon, aus dem Gor Lucegaths Begleiterin stammte. Ich muss herausfinden, was dort zwischenzeitlich geschehen ist. Vielleicht finde ich jemanden, der sich erinnert..”
Valvivant. Was für ein ansprechender Name, warm, üppig. Es klang ein wenig wie ein luxuriöser Urlaubsort in einer sonnendurchfluteten Gegend am Meer.
Ich wollte nicht dorthin.
Kíaná, teiranda von Wijdlant, erwachte aus ihrem schweren Schlaf und richtete sich zerstreut auf. Sie lag angekleidet auf ihrem Bett. Um sie herum war Ruhe, sah man von den gedämpften Alltagsgeräuschen der Burg ab, die von Mauern, Fenstern und Türen ausgesperrt wurden.
Ein taubes, freudloses Gefühl regte sich in ihr, aber sie war zu lustlos und matt, um ihre Ungehaltenheit darüber zu zeigen. Die junge Frau erhob sich und tappte aus ihrem Schlafgemach hinüber in ihr Privatzimmer. Als sie den Vorhang beiseiteschob, der beide Bereiche voneinander trennte, fiel ihr Blick auf den Spiegel.
Sie lächelte sich selbst eine Weile beifällig zu und trat dann an das Fenster, das auf den Burghof hinausging. Einen Moment lang beobachtete sie das Treiben ihres Gesindes, sah Mägde und Knechte ihrem Tagwerk nachgehen, Wächter auf den Mauern in das Land hinausschauen. Yarl Grootplen, der getreue mynstir und Erster ihrer yarlay, verhandelte etwas mit einem Bauern, der irgendetwas auf einem Fuhrwerk anlieferte. Doch all das wirkte auf sie, als betrachte sie es aus weiter Entfernung. Die Geräusche waren matt und wattig.
Kíaná von Wijdlant seufzte und versuchte, sich zu erinnern. Aber die Gedanken entglitten ihr, ohne, dass sie sie packen konnte, und als sie sich umdrehte, schaute ihr wieder ihr Spiegelbild entgegen. Als sie sich nach einer Weile davon abwandte, fiel ihr Blick auf das Bild an der Wand neben ihrem Nachtlager. Die teiranda zögerte und dachte nach. Aber das tat weh.
Schließlich wischte sie die letzten Fasern von Erinnerung beiseite, die sie in ihrem Geist festgesetzt hatten wie helle Flusen auf dunklem Samt und beeilte sich, ihre Kemenate zu verlassen. Der goala’ay schlief niemals. Und er hörte ihr immer zu. In seiner Gegenwart verschwanden die Schmerzen in ihrem Verstand. Immer.
Gor Lucegath stand seinerseits am nach Süden ausgerichteten Fenster, das Kinn auf seine gefalteten Hände, die Ellenbogen auf den Stein gestützt, und beobachtete die trägen grauen Wolken, die wie eine Glocke über Wijdlant hingen, als sie sein Gelass betrat. Sie war der einzige Mensch, dem er das unaufgefordert erlaubte.
Sein Turmzimmer war zweckmäßig eingerichtet, vornehmlich mit alten Möbeln, die der Magier in der Burg vorgefunden hatte, als er vor etlichen Sommern hierher gekommen war. Einzig den wuchtigen, mit einem roten Tuch bedeckten Tisch, der das Zimmer beherrschte, hatte er seinerzeit selbst herbeigeschafft. Was er an magischen Utensilien mitgebracht hatte, war ordentlich in Wandregalen eingeräumt. Eines seiner Werkzeuge, ein rubinroter Kristall vom Format eines Gänseeis, lag neben ihm auf der Fensterbank. Aber er hatte offenbar das Interesse daran verloren. Kíaná von Wijdlant wusste, dass er damit an andere Orte schauen konnte. Es sei ein Spielzeug, hatte er ihr einmal erklärt.
„Langweilt Ihr Euch?”, fragte der Magier, ohne sich umzudrehen,
„Ein wenig. Es ist schon so lange nichts Neues mehr geschehen.”
Unter seiner kupferfarbenen Maske schienen seine Augen in den Wolken nach etwas Ausschau zu halten.
„Ihr werdet schon sehr bald Zerstreuung bekommen. Der camat’ay ist unterwegs hierher. Und wie ich es voraussah, hat er nichts Eiligeres zu tun, als das ay’cha’ree an sich zu nehmen.”
Die teiranda lächelte. Diese Neuigkeiten reizten sie. Sie hatte den schwarzgewandeten Magier nie gänzlich vergessen. In all der Zeit und nach all dem, was geschehen war, hatte sie immer wieder an ihn gedacht. Ungefähr so, wie man sich zuweilen an einen Gegenstand erinnert, der die meiste Zeit in einem Schrank aufbewahrt wird.
„Wie ist das möglich?”
„Er wurde erlöst, von jemandem, der von außerhalb kam. Und kaum ist er wieder frei, hat er nichts anderes im Sinn als kindische Tricks.”
Sie erwachte sichtlich aus ihrer Lethargie.
„Wo ist er jetzt?”, fragte sie begierig.
Der Magier wies in die Ferne, hin zu den Bergen.
„Er überquert den Montazíel”, sagte er. „Begleitet mich, Herrin. Wir werden ihn in Empfang nehmen. Das wird sicherlich auch für Euch kurzweilig.”
„Wir beide allein?”
Der Rotgewandete sann einen Moment darüber nach. „Nein”, entschied er dann. „Diesmal nehmen wir Grootplen und ein kleines Gefolge mit.”
Der Pfad durch die Schlucht stieg sanft und kerzengerade an. Er vermittelte nicht den Eindruck, dass er ein Gebirge durchschnitt, dessen Gipfel durch die Wolken brachen. Die Umgebung war wundersam, surreal. Sie sah Berggegenden, die ich kannte oder von denen ich einmal Bilder gesehen hatte, überhaupt nicht ähnlich. Es war eher, als gingen wir durch enge Häuserschluchten, die beiderseits aufragten. Es schien wie ein grotesk ins Riesige transformierter Irrgarten, mit Wänden aus einem Gestein, das wie braun, weiß und grau schimmernder Granit aussah. Streckenweise war der Fels mit Glimmer gemustert und anderenorts wie poliert, mit blanken metallischen Einschüssen. Ab und zu gabelte sich der Weg, wurde zu einem Steig entlang eines Abgrunds. Doch solange man nicht in die Tiefe blickte, war das kein Problem. Die Wege waren breit genug, sodass man keinen Sturz fürchten musste, vorausgesetzt, dass man halbwegs schwindelfrei war. Anderenorts waren die Durchgänge so schmal, dass wir nicht nebeneinander hindurchgehen konnten. Aber das beängstigte mich zu meiner eigenen Überraschung kaum. Ich war mir insgeheim sicher, dass Yalomiro mich irgendwie festhalten konnte, wenn ich stürzte.
Wieso hatte ich nur plötzlich so viel … Vertrauen?
Er erklärte mir, dass der Montazíel seine Welt von West nach Ost durchtrennte wie eine zur Mitte hin ansteigende Mauer, aber aufgrund der vielen Durchgänge nicht wirklich eine Barriere darstellte. Einige der weiter zu beiden Seiten gelegenen Schluchten waren zu regelrechten Fernreiserouten ausgebaut, es gab sogar in regelmäßigen Abständen Herbergen am Wegesrand. Für uns hatte er jedoch bewusst einen Weg daran vorbei gewählt.
Ich hatte gehofft, dass es die eine oder andere Gebirgsquelle auf dem Weg gab. Da hatte ich noch nicht begriffen, dass dies hier ganz und gar kein herkömmliches Gebirge war, sondern eher eine dicke Wand mit verwirrenden Durchgängen darin. Über weite Strecken des Weges fehlte jegliche Spur von Vegetation, sah man von Flechten und Moospolstern ab. Es gab, erklärte Yalomiro, hier zu wenig Grundwasser, denn der Morgentau reichte nicht aus, um komplexere Pflanzen zu tränken. Was an Regen fiel, wurde auf dem Weg nach unten von den Höhenpflanzen abgefangen. Es gab hier also wieder kein Wasser, das Yalomiro aus dem Boden hätte ziehen können. Er war aber zuversichtlich, dass wir unterwegs Quellen oder kleine Wasserfälle finden würden, sobald wir einen Weg erreichten, der in höheren Regionen der Berge verlief.
Ob er möglicherweise schwindelte, damit ich Ruhe gab?
Immerhin machte sich dann und wann ein Vogel bemerkbar, der über der Klamm kreiste. Irgendwo weiter oben auf den Plateaus zwischen den Schluchten gab es offenbar kleinere Bergtiere. Die mussten sich schließlich von irgendetwas ernähren.
Während wir wanderten, ließ ich meine Gedanken treiben. Durch die Stille war ich zurückgeworfen auf das, was ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden erlebt hatte. Ich führte mir vor Augen, was ich bis gestern Vormittag mit meinem Leben gemacht hatte und wie weit weg, wie unwichtig all das plötzlich war. Es war, als würde mein Geist mit jedem Schritt konzentrierter, fokussierter. Das war seltsam. Ich hatte plötzlich Zeit zum Nachdenken. Dort, wo ich bis gestern Vormittag gelebt hatte, war ich dazu immer zu beschäftigt gewesen. Abgelenkt von einer Menge Zeug, das mir immer fraglicher erschien.
Dann war da Yalomiro selbst. Seine Gegenwart verwirrte mich. Das lag aber nicht daran, dass er fortwährend Dinge sagte und tat, die meinen Verstand an seine Toleranzgrenze führten. Es hatte vielmehr etwas damit zu tun, was ich fühlte, wenn ich ihn ansah. Wenn er mit mir sprach, um mir all diese Dinge zu erklären, die für ihn selbst so banal sein mochten.
Er kam mir völlig anders vor als sämtliche Männer, denen ich jemals begegnet war. Obwohl er mich mit seinen Aktionen überrumpelte, benahm er sich so freundlich und fürsorglich. Er hatte Geduld mit mir. Ich fühlte mich wie ein staunendes Kind an der Hand genommen und von einem wohlmeinenden Erwachsenen sicher durch diese merkwürdige Welt geführt.
Ebenso gut hätte er mich im Etaímalon zurücklassen können, das war mir klar. Das hätte ihm viele Umstände erspart.
Yalomiro forderte nichts von mir. Das war neu. Bisher hatten Leute immer etwas von mir erwartet. Ich hatte meinerseits funktioniert und gehorcht, ohne nachzudenken, ohne zu hinterfragen.
„Valvivant wird dir gefallen. Eine fruchtbare Gegend, viele yarlmálon mit gebildeten Bewohnern und Dörfer mit wesentlich freundlicherem Volk als jenem neben dem Wald. Es gibt oft Feiern und Turniere. Du magst doch Turniere? Damen lieben es doch, wenn die yarlay sich untereinander messen wie die aufgeplusterten Hähne?”
„Das ist bestimmt … interessant.”
„Es ist jedenfalls besser und amüsanter, als wenn sie im Streit aufeinander losgehen.”
„Gut. Ich mache es mir also in Valvivant bequem. Aber was wird aus dir?”
„Ich komme zurecht.”
„Und wie soll ich mich verhalten? Worauf muss ich achten?”
„Ich werde den teirand in dein Geheimnis einweihen. Er wird verschwiegen sein. Meister Askýn sprach vom Haus Valvivant stets als vertrauenswürdigen Herrschern. Man wird dich gut beherbergen.”
„Du meinst, man kann einfach so zu einem Kön… – zu einem teirand hingehen und mit ihm sprechen?”
„Selbstverständlich. Es ist ihre Aufgabe im Weltenspiel, sich um Schwierigkeiten zu kümmern.”
„Ah.” Ich war verblüfft. „Nun gut. Und was macht dich so sicher, dass es in Valvivant ungefährlich ist?”
„Gor Lucegath hätte keinen Grund gehabt, dort etwas zu verderben.”
„Okay.” Dieses Argument erschien mir etwas dürftig. Aber wenn er das annahm, würde das wohl so sein. „Und wenn du deine Angelegenheiten erledigt hast, kommst du wirklich zurück?”
„Warum sollte ich das nicht tun? Wie oft willst du das von mir hören? Traust du mir nicht?”
„So habe ich das nicht gemeint.”
„Ich werde alles daran setzen, die Dinge wieder ins Lot zu rücken und dann den Weltenschlüssel für deine Rückkehr vorzubereiten.”
„Na ja … vielleicht vergisst du mich.”
„Keine Sorge. Ich habe ein hervorragendes Gedächtnis.”
„Sicher.”
„Ujora, du hast mich erlöst. Denkst du nicht, dass du dir damit meinen ewigen Dank verdient hast? Ohne dich würde ich immer noch im Etaímalon neben meinem toten Meister sitzen und mein Schicksal verfluchen. Wie könnte ich das vergessen?”
„Und wenn dir etwas zustößt?”
Er blieb stehen und schaute mich befremdet an.
„Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst. Ich kann und ich werde alles dafür tun, dass du am Ende wieder an den Ort gelangst, an dem du dir wünschst, zu sein. Ich halte meine Versprechen.”
„Aber darum geht es doch gar nicht!”
„Worum dann?”
„Um …” Ich druckste herum. Wie konnte ich es ihm sagen, ohne dabei unsagbar peinlich zu erscheinen?
„Um dich.”
„Um mich?”
„Du hast gesagt, dieser Gor Lucegath wird dich überall finden. Ich meine … der Typ hat deinen Meister umgebracht.”
„Er hat zahlreiche camat’ay getötet. Aber mit einiger Wahrscheinlichkeit habe ich ihn überlebt.”
„Hast du denn gar keine Angst um dein Leben?”
„Würde das eine Rolle spielen?”
„Ja! … Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.”
„Ich verstehe. Du hast Angst, dass du nicht wieder in deine Domäne zurückkehren kannst.”
„Nein! Oder … ja, das auch. Aber …” Ich seufzte frustriert. Wie konnte er nur so begriffsstutzig sein. „Aber eigentlich … ich habe Angst, dass du nicht … zurückkommst.”
Er schwieg ein paar Schritte lang.
„Wenn ich nun deine Gedanken hören würde, Ujora, würde ich darin finden, dass in deinem Leben bisher zu oft Leute einfach … weggegangen sind?”
„Tust du das gerade? Meine Gedanken hören?”
„Nein. Aber offenbar habe ich gut geraten.”
Ich konzentrierte mich mit aller Macht auf meine Schuhe, um ihn nicht anschauen zu müssen.
„Ich mag nicht darüber reden”, murmelte ich, als auch er weder weiter ging, noch redete.
„Weil es mich nichts angeht?”
„Ja … nein. Weil … es ist etwas, das ich mit mir selbst ausmachen muss.”
Er wartete noch einen Moment und setzte seinen Weg dann fort. Ich folgte ihm in einigem Abstand und hoffte, das Thema sei beendet.
„Es ist nicht gut, eine große Last ganz allein zu tragen”, sagte er unvermittelt. „Wer immer und immer mehr Steine in eine Kiepe lädt, verliert irgendwann den Halt und wird zerquetscht.”
„Es ist aber auch nicht richtig, von anderen zu erwarten, dass sie einem die Steine abnehmen”, murmelte ich.
„Möglicherweise können andere dir dabei helfen, ein paar von den Steinen einfach beiseitezulegen.”
Ich dachte einen Moment darüber nach. Dann schloss ich zu ihm auf.
„Seid ihr alle so? Alle Schattensänger, meine ich.”
„Was meinst du mit so?”
Gute Frage. Was meinte ich eigentlich? Dass sein empathisches Verhalten etwas in mir triggerte, das ich überhaupt nicht in Worte fassen konnte? Dass in mir eine Sehnsucht nach Nahesein erwachte, die mir selbst unheimlich wurde?
„Ich meine, ich … ich mag dich eben”, sagte ich unbeholfen.
„Du magst mich?”
„Es fühlt sich an, als würde ich dich seit Ewigkeiten kennen. Als ob … du meine Güte, ich weiß echt nicht, wie ich das sagen soll, ohne mich lächerlich zu machen.”
„Ist es denn albern?”
„Ja.”
„Schade.” Er ging weiter. Ich gab mir einen Ruck.
„Ich bin wirklich gern mit dir zusammen!”
Er wandte sich mir zu und hob abwehrend die Hand. „Vorsicht, Ujora. Du bist mir gestern Vormittag zum ersten Mal begegnet. Du weißt nicht, was es mit meinesgleichen auf sich hat und ob es nicht möglicherweise eine wirklich schlechte Idee ist, meine Gegenwart zu schätzen.”
„Was? Oh … nein! Bitte, versteh mich nicht falsch. Ich will dich nicht … anmachen oder so. Aber … auch wenn wir uns erst so kurz kennen … bist du mir …” Ich suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Wort. „ … wichtig. Du … es tut mir gut, bei dir zu sein.”
So. Jetzt war es heraus.
Er schaute mich still an.
„Bitte”, sagte ich, erschrocken über meine eigene Aufdringlichkeit, „ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es ist nur, du … selbst wenn ich dich nur träume, wenn du gar nicht echt bist … du bist der freundlichste Mensch, der mir jemals begegnet ist.”
„Das ist traurig, Ujora. Es ist nicht gut, wenn ausgerechnet ich es wäre, dessen Gesellschaft dir am meisten behagt. Vielleicht schätzt du einfach die Wirkung meiner maghiscal.”
„Nein, das ist es nicht.”
„Dann rede nicht weiter, Ujora. Das ist gefährlich. Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt.”
„Auf einen Traum?”
„Auf die Dunkelheit“, sagte er sanft. „Der Schatten ist kein sicherer Ort für deinesgleichen. Und ich bin ganz sicher kein angemessener Begleiter für den Weg, den du in deinem Weltenspiel zu gehen hast. Ich kann allenfalls ein paar Schritte mit dir gehen.”
Eine Erkenntnis zuckte in meinem Bewusstsein hoch, eine schreckliche, zu häufig empfundene Erfahrung, zu hektisch, um sie in diesem Moment in Worte zu fassen. Etwa so, als fiele eine Tür langsam zu, die einen Schritt zu weit entfernt ist, um sie noch rechtzeitig zu erreichen.
Ich musste unbedingt wenigstens einen Fuß dazwischen bekommen.
„Kann ich nicht … trotzdem deine Freundin sein?”, fragte ich.
Kíaná von Wijdlant betrachtete die Szene im Kristall fasziniert. Gor Lucegath war amüsiert über ihre Verwirrung. Er selbst hatte den camat’ay nicht aus den Augen gelassen, seit der den Boscargén verlassen hatte.
„Wo kommt sie her?”, fragte die teiranda. „Und was trägt sie für seltsame Gewänder?”
„Sie ist eine Unkundige, die sich aus einem Weltenspiel jenseits des Chaos hierher verirrt hat.”
„Aber was geschieht da zwischen ihnen? Und warum ergötzt Euch das so?”
„Sie stürzt ihn in sein Verderben. Sie ahnt nicht, was sie ihm mit ihrer possierlichen Zutraulichkeit antut; wie sie munter dabei ist, seine maghiscal zu verätzen und durchlässig für Dinge zu machen, die ihn schwächen.”
Die teiranda schaute verwirrt auf. Er nahm sein Werkzeug wieder an sich. „Es ist unverzeihbarer Leichtsinn.”
„Und warum lässt er es zu?”
„Weil er genauso leichtfertig ist. Er begreift nicht, was gerade passiert, weil es ihm fremd ist. Seine Gegenwart hat sie nicht umgehend um den Verstand gebracht, und nun mag er denken, dass sie ihm ebenbürtig ist.”
„Heißt es nicht, Schattensänger könnten nicht … “
„Das ist wahr. Noktáma hat ihren Dienern nicht ohne Grund die Seele verschnitten, um eben das zu verhindern. Besser könnte es gar nicht stehen. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, dass er sich dringlich gegen sie verteidigen sollte.”
Die teiranda schwieg dazu. Was auch immer in ihren Gedanken vorgehen mochte, es grenzte an Mitgefühl. Das war einerseits albern, zum anderen viel zu weit ab von dem, was gut für sie war. Gor Lucegath sann nach. Es war eine riskante Sache, die sich dort zwischen der Unkundigen und dem Schattensänger anbahnte. Der camat’ay war dabei, etwas zu entdecken, was ihm früher oder später schreckliche Schmerzen bereiten würde. Sollte der Schattensänger diesen Schmerz nutzbar machen, machte ihn das entweder gefährlich oder verwundbar und schwach. Ebenso verwundbar und schwach, wie er selbst es damals gewesen war.
Mit dieser Möglichkeit ließ sich … arbeiten. Die Gelegenheit musste er nutzen.
„Wartet hier mit Eurem Gefolge”, sagte er. „Ich denke, ab jetzt sollte ich in diese Partie wieder einsteigen. Ich werde nicht lange fort sein.”
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