Das ay’cha’ree [das Artefakt] wurde seit Ewigkeiten im Etaímalon aufbewahrt, wenn auch aus Gründen der Schicklichkeit niemals direkt im Saal. Für camat’ay [Schattensänger] war es ohne Wert und Bedeutung. Sie empfanden keine Begehrlichkeit angesichts des Artefaktes, lediglich eine aufmerksame Verpflichtung. Kein Schattensänger wäre jemals so töricht gewesen, es besitzen zu wollen. Und so schenkten die Schwarzgewandeten ihm kaum mehr Bedeutung als einem Blatt, das der Wind zur Tür hinein wirbelte. Solange kein Rotgewandeter ihm nahekam, war das den Mächten gefällig und im Einklang mit dem Weltenspiel. Die camat’ay hielten es achtsam in Verwahrung, mehr nicht. Wo genau im Etaímalon das Artefakt verborgen war, wusste Yalomiro natürlich. Immerhin war er, abgesehen vom Großmeister, der einzige Magier, der in der Weihestätte wohnte.

Das ay’cha’ree lag in einem unscheinbaren Holzkästchen verschlossen. Der schwarzgewandete Magier hatte sich Geige und Bogen unter den Arm geklemmt und barg die Schatulle ratlos in seinen Händen. Die Kraft, die von dem Artefakt ausging, spürte er zwar, aber sie war ihm so fremd, dass er damit nichts anzufangen gewusst hätte. Der goala’ay [Lichtwächter] jedoch würde das ay’cha’ree in Windeseile finden. Es musste ein besseres Versteck her. Aber wohin konnte er es bringen, wo der Rotgewandete es nicht augenblicklich entdecken würde?

Allzu viel Zeit zum Nachdenken blieb Yalomiro nicht. Er horchte in Richtung des Kuppelsaals am Ende des Korridors. Er hörte die beiden Magier miteinander reden, konnte aber nichts von dem Gespräch verstehen.

Was sollte er mit dem Artefakt beginnen? Für durchdachtes Kalkül blieb ihm keine Zeit. Er brauchte einen Zauber, der griffbereit war. Den Mächten sei Dank, herrschte daran im Repertoire von Yalomiro Lagoscyre kein Mangel, also eilte er mit der Schatulle hinüber in seine eigene Kammer. Dort bewahrte er etwas auf, das nahezu ideal für seine Zwecke war.

Der Schattensänger legte seine Geige auf den Tisch und zerrte dann eine offene Kiste unter seinem Bett hervor. Er kramte einen Augenblick in seinen Habseligkeiten, bis er den Weltenschlüssel fand.

Für einen Schüler stellte es eine anspruchsvolle Übung dar, Magie zu bündeln und auf einen unbelebten Gegenstand zu übertragen. Wie lange war es her, dass er sich an diesem Werkstück versucht hatte? Zehn Sommer? Fünfzehn? Tagelang hatte er daran gefeilt, sich an Metallspänen geschnitten und sich Splitter in die Finger gezogen. Drei- oder viermal hatte er entmutigt aufgegeben und es kurz darauf begeistert von neuem begonnen. Meister Askýn hatte ihn damals für seine Beharrlichkeit gelobt; er war stolz darauf gewesen und hatte dann den Schlüssel beiseitegelegt, um sich an etwas Neuem zu versuchen. Es war eine Spielerei, mit der er seine Fertigkeiten geschärft hatte. Das Werkzeug hatte er seither achtlos der Kramkiste aufbewahrt. Ob Gor Lucegath in Erwägung ziehen würde, dass er das Artefakt mit Hilfe eines Spielzeugs verschwinden lassen konnte?

Der Schattensänger zog den Schlüssel von seiner Kammertür ab und steckte an seiner Stelle den Weltenschlüssel in das Schlüsselloch. Alsdann sang er lautlos, mit klopfendem Herzen seinen amüsanten, kindischen Zauber. Zugleich beschwor er voller Demut Noktáma um einen sicheren Aufbewahrungsort für das ay’cha’ree. Zuletzt atmete er entschlossen ein, schloss auf und zog die Tür auf.

Wind fegte ihm entgegen, begleitet von einem eisigen Wasserschwall, der ihn von Kopf bis Fuß durchnässte. Yalomiro japste überrascht und wich einen Schritt zurück.

Die Zimmertür führte nicht mehr auf den Korridor, sondern auf einen Felsen, der nicht größer war als ein Bettvorleger. Der blanke Stein erhob sich aus einem sturmgepeitschten, olivgrünen Meer. Etwas Geröll lag herum, zu schwer, um vom Wind fortgeweht zu werden, der salzig und schneidend über die Wellen fegte. Ringsum ragte eine wirbelnde Wasserwand hinauf bis zu den Wolken und vermengte sich mit ihnen.

Das Chaos? Noktáma wollte, dass er das ay’cha’ree dem Chaos anvertraute?

Der Magier war verwundert. Aber es stand ihm nicht an, die Ratschlüsse der Dunkelheit in Zweifel zu ziehen. Vorsichtig beugte er sich dem Sprühwasser entgegen durch die Tür und stellte die Schatulle auf der Felsinsel ab. Während er das tat, entstand eine sachte, magische Verbindung zwischen seinen Fingern und dem Kästchen, wie ein unsichtbarer Faden.

Genügte das? Yalomiro verharrte. Es gab genug grauenhafte Geschichten von Schattensängern, die während der Chaoskriege in die Hände von goala’ay gefallen waren und dort sogar versiegelte Geheimnisse nicht lange hatten hüten können. Sein Plan hatte also eine Schwachstelle.

„Ich sollte mich selbst zum Versteck des Verstecks machen, nicht wahr?”, fragte er leise in das Tosen hinein. „Kann mir das gelingen, Noktáma?”

Er horchte in das Dröhnen des Sturmes. Dann besann er sich und sang in höchster Konzentration einen zweiten, einen ergänzenden und um einiges komplizierteren Zauber. Das Wissen um den Felsen im Chaos am Rande der Welt senkte sich in seinen Geist, es faltete sich Schicht um Schicht darum, wie die Schalen einer Zwiebel.

Als das Geheimnis, so tief, wie es nur ging, in seinem Verstand eingehüllt war, kroch er zurück in seine Kammer, zog den Schlüssel ab und betrachtete ihn skeptisch. Auch das Werkzeug wusste zu viel. Es musste ebenso verschwinden wie das ay’cha’ree.

„Noktáma”, flüsterte er, „große Mutter der Schatten, dein Diener beschwört dich. Falls mir etwas zustößt, lege das hier jemandem in die Hand, der Hilfe bringt.” Er atmete tief ein und warf den Schlüssel entschlossen dem Artefakt hinterher, hinein ins Chaos. Dann stieß er die Tür zu der sturmumtosten Insel fest zu.

Benommen blieb er dann einen Moment in der Pfütze stehen, die sich auf dem steinernen Fußboden gebildet hatte. Der Wind hatte eine Menge loser Papiere in seiner ohnehin stets recht unordentlichen Stube umher gewirbelt.

Und nun? Keinen Fehler durfte er sich erlauben. Der Geruch von Salz und Seeluft sollte nicht das Misstrauen des Rotgewandeten erwecken, falls der Lärm des Sturmes außerhalb der Stube nicht zu hören gewesen war.

Fahrig riss ein frisches Hemd und eine Hose aus seiner Kleidertruhe, zog sich in Windeseile um. Er schlüpfte in den Mantel, der achtlos über einem Stuhl lag und dachte gerade noch daran, den Hut, den er am Bettpfosten aufgehängt hatte, aufzusetzen, um auch seine nassen Haare zu kaschieren.

Dann trat er durch die Tür, die nun wieder hinaus auf den Gang führte. Auf der einen Seite, hinter der halb geöffneten Eingangstür, leuchtete ein lieblicher Frühlingstag.

Wo blieben Arámaú und Meister Gíonar? Wo die anderen Schattensänger? Es war lange genug Zeit geblieben, um sie von dem rotgewandeten Eindringling in Kenntnis zu setzen. Yalomiro gab sich einen Ruck und folgte dem sacht ansteigenden Korridor zum Saal. Das ay’cha’ree zu verstecken, hatte nicht länger gedauert als dreimal hundert Schläge seines Herzens.

„Ich weiß, dass du da bist, camat’ay. Komm nur hinein.”

Gor Lucegath stand vor dem Obsidiansessel und wandte Yalomiro den Rücken zu. Der alte Magier war in sich zusammengesunken.

„Meister Askýn?”

Der Rotgewandete drehte sich um. Er hatte seine Waffe gezogen, einen schmucklosen Anderthalbhänder, dessen schmale Klinge blauschwarz, wie der Panzer eines glänzenden Käfers schimmerte. Die Magie, die darin geborgen lag, war ebenso schrecklich wie unergründlich und uralt. Für den, den sie berührte, gab es keine Rettung mehr. Jeder Sterbliche, ganz gleich ob Unkundiger oder Magier, war machtlos gegen die Schwerter der Lichtwächter. Jeder, den diese Klinge auch nur streifte, musste durch sie umkommen. Yalomiro schauderte.

Dennoch: Was fiel dem goala’ay ein, in Noktámas Heiligtum mit blanker Klinge aufzutreten?

„Was erlaubt Ihr Euch? Das ist kein Ort für Waffengewalt!”

„Du denkst nicht im Ernst, ich hätte vor, damit in eurer Weihestätte ein Gefecht zu beginnen?” Der Rotgewandete klang ernsthaft belustigt. „Du verkennst die Umstände. Wir haben geredet, und es ist an der Zeit, unseren Wortwechsel würdevoll zu beenden. Es wäre schade, wenn du es verpasst.”

Der halbblinde silberne Blick des Großmeisters suchte den des jüngeren Mannes.

„Wo mag das ay’cha’ree jetzt sein, Askýn Lagoscyre?”, fragte Meister Gor und setzte dem Greis die Schwertspitze an die Brust. „Ob ich Euren Schüler direkt danach fragen sollte? Ob er mir bereitwillig antworten wird?”

„Lasst von meinem Meister ab”, forderte Yalomiro. „Ich habe das Artefakt in Sicherheit gebracht. Es ist nicht mehr hier.”

„Ich weiß.”

„Ihr wisst?”

„Natürlich. Dein Meister hat dir doch ausdrücklich aufgetragen, es zu verbergen, als er erfuhr, wer diesem törichten Verhandlungsangebot gefolgt ist. Aber ich habe weder Zeit noch Interesse an einer Schatzsuche. Also lass die Albernheiten, Yalomiro Lagoscyre. Wohin hast du das ay’cha’ree gebracht?”

„Es ist an einem Ort, wo Ihr es nicht finden könnt.”

„Es gibt keinen Ort, der mir nicht zugänglich wäre. Und keine Auskunft, die ich nicht über deine Zunge locken könnte.”

In diesem Moment packte eine eigenartige, gefährliche Mischung aus Furcht, Trotz und Stolz den Schattensänger. „Das mag sein. Aber das Versteck zu kennen, nutzt Euch nichts. Ich habe einen Zauber sowohl auf den Ort als auch mich selbst gelegt.”

„Und das alles während der paar Augenblicke, die du aus diesem Saal heraus warst? Beachtlich. Was für ein Zauber soll das sein?”

„Ich habe es in mir selbst verborgen.”

„Erkläre mir das.”

„Nur meine eigenen Hände können das Artefakt wieder bergen. Und zwar nur, wenn ich mich aus freien Stücken dazu entschließe, es zu tun! Ihr selbst könnt es niemals erreichen.”

„Oh.” Der Rotgewandte ließ seine Waffe sinken und verschränkte die Arme. Seine marmorgrauen Augen musterten den Schattensänger prüfend. „Ich verstehe. Ein gewagter Zug, Yalomiro Lagoscyre. Du siehst mich fürwahr für den Augenblick ratlos.”

Da begann Meister Askýn, zu lachen.

„Es freut mich”, sagte der goala’ay, ohne sich ihm zuzuwenden, „dass Ihr angesichts des Verhängnisses, das Euer phantasievoller Schüler soeben über euersgleichen gebracht hat, nicht Eure gute Laune verloren habt.”

Der alte Magier gab ein verstörendes Geräusch zwischen ermattetem Stöhnen und wohlgelauntem Glucksen von sich. „Ich komme nicht umhin, dass es mir gefällt, den gefürchteten Gor Lucegath von meinem Schüler überlistet zu sehen.”

„Es langweilt mich”, sagte Meister Gor ruhig, „die Späße von euersgleichen anzuhören. Sie sind mit den Zeiten nicht merklich geistreicher geworden.”

„Ytra”, flüsterte Yalomiro eindringlich. „Ich bitte Euch, reizt ihn nicht!”

Aber Meister Askýn hörte nicht auf ihn. Mehr noch: Energie schien in ihm aufzuflammen.

„Ihr seid lächerlich gemacht durch den Streich eines Schülers! Noktáma ist mit meinesgleichen! Ihr, Gor Lucegath, seid ein Ausgestoßener. Und Ihr werdet es allezeit bleiben!”

Dies war eine unerhörte Provokation aus dem Mund des Großmeisters, die Gor Lucegath nicht ignorieren konnte. Und er tat es nicht.

„Das, Meister Askýn, war eine Frechheit zu viel. Ich halte Euch jedoch zugute, dass Euer Geist nicht mehr verständiger ist als der eines albernen Kindes. Seid Ihr nun bereit? Ich werde alles Weitere mit Eurem Schüler regeln.”

Die Augen des Alten blitzten auf. Seine greisenhafte Schwäche verblasste für einen letzten Moment vor dem scharfen, wachen Geist, der ihn einst zum Großmeister hatte werden lassen. „Tut, wonach es Euch drängt.”

Ytra?” Yalomiro kam alarmiert näher. Aber der Großmeister hob die Hand.

„Bleib zurück, Yalomiro. Das Weltenspiel ist für mich vorbei. Ich habe ihm gestattet, es zu tun.”

„Aber …”

„Ich bin bereit, Gor Lucegath. Oder zögert Ihr? Habt Ihr Angst, enttäuscht zu werden?”

Der Rotgewandete hob sein Schwert. Bevor Yalomiro begriff, was geschah, hatte der goala’ay dem Großmeister, dem Mächtigsten und Weisesten der camat’ay, die Klinge ins Herz getrieben, schneller, als eine Schlange zustößt. Sie fuhr nicht nur ohne jeden Widerstand in den Körper des alten Magiers, sondern glatt durch ihn hindurch und durch die Lehne des Steinsessels.

Meister Askýns silberheller Blick erlosch wie eine Kerzenflamme im Wind. Lautlos endete die Zeit von Askýn Lagoscyre in Noktámas Weihestätte vor den entsetzten Augen seines Meisterschülers.

Gor Lucegath erstarrte. Er hob kurz die Hand, als ob er versuche, etwas aus der Luft zu haschen. Doch er ließ den Arm wieder sinken und für einen Augenblick wirkte es, als ergriffe ihn tiefe Müdigkeit.

Ad’ree“, murmelte er dann. „Schade. Ich hatte mir von diesem Opfer mehr erhofft.”

Totenstille erfüllte den Saal. Der jüngere Schattensänger starrte mit Grausen auf den aufgespießten, nun leb- und seelenlosen Körper des Mannes, der ihn einst in den Etaímalon geholt und mit so viel Geduld, Nachsicht und Weisheit erzogen und ausgebildet hatte. Fassungslosigkeit über den Verlust brach sich Bahn, aber Yalomiro zwang sie hastig nieder. Vor einem Rotgewandeten die Disziplin zu verlieren, dem Schmerz nachzugeben, wäre elend gewesen. Und gefährlich.

„Er hatte ein langes, großmächtiges Leben, nicht wahr?”, fragte Meister Gor schließlich und zog die Klinge aus dem Leichnam heraus. Silbriges Blut perlte davon ab und rann zu Boden wie Öl. Der Leib des Großmeisters glitt zu Boden und blieb bäuchlings vor dem Thron mit der nun durchlöcherten Lehne liegen.

„Er war mehr als hundert Winter alt”, antwortete Yalomiro beherrscht.

Der Rotgewandete blickte über die Schulter zu ihm hinüber. In den blassen grauen Augen unter der Maske lag ein sinnender Ausdruck, den der camat’ay nicht deuten konnte.

„Es sollte so sein, Yalomiro Lagoscyre. Wäre ich nicht gekommen, dann hätte ihn das Siechtum dahingerafft, das bald in ihm ausgebrochen wäre.” Er schüttelte die letzten Tropfen Blut von der Klinge ab.

„Welches Siechtum?”

„Er war nicht mehr Herr seines Verstandes oder seiner Sinne. In dem Moment, in dem er nach meinesgleichen rief, hielt er sich für den vortrefflichen, den unüberwindlichen Magier, der er vor siebzig, achtzig Wintern gewesen sein mochte. Nicht mehr lange, und es wären entsetzliche Schmerzen zu seinem getrübten Geist hinzugekommen. Wäre ich seinem Ruf nicht gefolgt, hättest du bald mit ansehen müssen, wie er in Qualen dahingedämmert und erloschen wäre.”

„Soll ich Euch dankbar sein?”

„Nein. So viel Weisheit erwarte ich nicht von dir. Aber es mag dich trösten, dass er mir dankbar war. Ich habe ihn nicht heimtückisch ermordet, Yalomiro Lagoscyre, auch wenn du das gern glauben möchtest. Wir haben es miteinander besprochen, während du fort warst, von Meister zu Meister. Er war bereit, weil er seine Hoffnung auf dich setzte. Das respektiere ich, auch wenn ich es für eine Torheit halte.”

„Und jetzt? Wollt Ihr mich nun auch töten?”

„Dich? Nachdem du mir gerade eben gesagt hast, dass du es vollbracht hast, das ay’ch’ree in dir selbst zu verstecken? Für wie töricht hältst du mich?”

Yalomiro entspannte sich etwas. Das würde ihm Zeit verschaffen.

„Ich werde mir stattdessen zunächst einen Eindruck davon vermitteln, was ich mit dir anfangen kann.”

Wie Widerhaken bohrte sich unvermittelt etwas in das Bewusstsein des Schattensängers. Yalomiro keuchte auf und spürte, wie alle seine Gedanken von ihm weg sprengten wie die Scherben eines auf einem Stein zerschellenden Glases. Der goala’ay hatte die kurze Unaufmerksamkeit genutzt, um den Schattensänger in seine maghiscal [das magische „Energiefeld”] einzuschließen, ohne sich dabei auch nur einen Deut bewegt zu haben.

„Was macht Ihr da?”, ächzte der jüngere Magier.

„Ich will mir anschauen, mit wem ich es jetzt zu tun habe.”

Die Schmerzen wurden unerträglich. Es fühlte sich an, als flute Eis den Schädel des camat’ay bis zum Bersten. Einen Augenblick lang war Yalomiros Geist blank wie ein Spiegel. Keinen Zauber, kein Lied bekam er mehr zu fassen. Und dann war da plötzlich ein blinder Fleck.

„Hör auf, dagegen anzukämpfen. Lass mich deine dunkle, verschnittene Schattensängerseele betrachten, mich sehen, ob ich irgendetwas darin gebrauchen kann. Ich will dir keine Schmerzen bereiten. Noch nicht. Aber je mehr du dich wehrst, desto unerträglicher machst du es dir selbst.”

„Lasst mich los!”

„Ich sehe”, fuhr der Rotgewandete ungerührt fort, „du bist talentiert und mutig. Du beherrscht deine Magie vortrefflich. Aber du bildest dir viel zu viel auf deine Fertigkeiten ein. Du hast dich noch nie in einem ernsthaften Kampf beweisen müssen. Noch nicht. Bis du dazu bereit bist, Yalomiro Lagoscyre, ist all deine Zauberkunst nicht mehr als blanke Eitelkeit.”

Der blinde Fleck wurde größer, und in seiner Nähe zerfiel das Eis zu Asche. Ein dumpfes, wundes Gefühl senkte sich nieder.

Dann war es schlagartig vorbei. Gor Lucegath löschte die maghiscal. Die plötzliche Freiheit brachte den Schattensänger zu Fall. Yalomiro wimmerte. Der Schmerz wich quälend langsam aus seinem Kopf und wanderte stattdessen nun wie eine zähe Masse durch seine Adern. Reden konnte er vorerst nicht. Seine Glieder waren unbeweglich.

Der Rotgewandete wartete, bis er sicher war, dass sein Opfer dem Sinn seiner Rede wieder folgen konnte.

„Ich war nicht mit dem Vorsatz gekommen, deinen Meister für meine Zwecke zu töten. Es hat sich ergeben. Aber es macht es keinen wesentlichen Unterschied. Er war nur ein weiteres Opfer, das das Licht offensichtlich nicht im Geringsten interessiert hat. Aber wozu brauche ich noch das Licht?”

Der Schattensänger versuchte, sich aufzurappeln. Das kostete ihn viel Kraft.

„Was habt Ihr mit mir angerichtet?”, brachte er hervor. „Was sollte das?”

„Ich will offen zu dir sein.” Der Rotgewandte kam näher und schaute auf den ächzenden camat’ay herab. „Du bist jemandem, den ich einmal kannte, zu ähnlich. Das ist ein Umstand, der uns verbinden mag, uns beide. Ich wollte Gewissheit haben, wie es in deiner Seele aussieht.”

„Und habt Ihr gefunden, was Ihr erwartet habt?”

„Mehr als nur das. Steh auf.”

Yalomiro zog sich an der Armlehne des Steinsessels hinauf. Auf diese Weise lag er dem Lichtwächter zumindest nicht mehr unwürdig vor den Füßen, so wie der Leichnam, unter dem sich langsam eine silberne Lache bildete.

„Ich erkenne Begabung und Geschick eines Gegenübers. Du magst deiner Schwächen noch nicht gewahr sein, aber deiner Stärken bist du dir sehr bewusst. Was hält dich an diesem Ort? Was ist deine Aufgabe?”

„Ich bin ein Gärtner”, antwortete Yalomiro. „Ich habe Macht über Pflanzen.”

„Wie charmant.”

„Was wollt Ihr von mir?”.

„Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten, camat’ay. Es mag dich erstaunen, aber … ich könnte dich Dinge lehren, die du hier, bei deinesgleichen, nie erfahren würdest. Wichtige Dinge. Ich könnte dir Macht bieten, im Austausch gegen das ay’cha’ree, das ohnehin weder den camat’ay noch Noktáma gehört.”

Zorn regte sich in Yalomiro. Die Taubheit in seinen Gliedern wich dem Silberglanz seiner eigenen maghiscal, die langsam wieder aufdämmerte.

„Sollte es etwa so sein, dass Ihr mein Geschick lieber auf Eurer Seite als gegen Euch wüsstet?”

„Würde es deiner Eitelkeit guttun, wenn dem so wäre? “

„Was glaubt Ihr von mir! Ich bin Noktámas Diener! Ich könnt mich nicht mit … Macht verlocken!”

„Und was tust du für Noktáma, abgesehen von den paar verstaubten Ritualen, die ihr zu ihren Ehren abhaltet? Könntest du mit deiner Vortrefflichkeit nicht Sinnvolleres beginnen?”

„Dafür hat Noktáma mir die Magie nicht gegeben!”

„Nun, dir wird aufgefallen sein, dass meine Magie bei mir geblieben ist, obwohl ich, wie deinesgleichen nicht müde wird, zu betonen, ein Verstoßener bin. Aber gut.” Gor Lucegath steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Dann griff er an seinen Mantel und löste eine goldene Fibel vom Kragen. In seiner Hand wurde der Durchmesser des durchbrochenen Rings größer. „So wird beides warten müssen, das ay’cha’ree und deine Entscheidung. Mir ist wohl bewusst, dass ich im Augenblick nicht unbegrenzt Zeit habe, um mit dir zu diskutieren.”

Wie zuvor im Wald den unsichtbaren Zauber, warf der goala’ay das Schmuckstück, so unvermittelt, dass es kein Ausweichen gab. Die Fibel verformte sich, wurde zu einem schmalen Band, legte sich um Yalomiros Hals und fühlte sich dabei heiß an, als brenne sie sich in seine Haut. Der Schattensänger keuchte und versuchte, den Ring herunterreißen. Aber seine Finger kamen nicht heran. Es war, als stieße der Reif sie von sich ab.

Im selben Moment brach seine silbrige maghiscal erneut zusammen, diesmal endgültig. Ein Übelkeit erregendes, bitteres Schwindelgefühl ergriff Yalomiro. Um nicht zu stürzen, ließ er sich am ganzen Leib zitternd auf dem Thronsessel nieder, dem Platz, der nur dem Großmeister zustand. Der Schmerz pulsierte bis in seine Fingerspitzen hinein.

„Und?”, fragte Gor Lucegath, nachdem er eine Weile interessiert dabei zugeschaut hatte, wie der Schattensänger ebenso aussichtslos wie vergeblich versuchte, den Goldreifen zu fassen. „Wie fühlt es sich an, wenn Magie im Körper eingesperrt ist und nicht frei fließen kann? Ich habe mir sagen lassen, dass es ziemlich unangenehm ist.”

Yalomiro ächzte. „Was wollt Ihr damit erreichen?”

„Ich muss nachdenken. Aber die Zeit wird knapp. Wir müssen unsere Unterredung wohl für eine Weile unterbrechen.”