Als Advon erneut zu sich kam, hatte sich der Himmel über ihm verändert. Genau genommen war da kein Himmel mehr. Kein strahlendes Mittagsblau mit weißen Wolkentupfern, wie sie zuvor über ihm hinweg gezogen waren, unscharf und in doppelten Bildern. Nun war da über ihm eine glatte, weiße Fläche, an der sich nichts bewegte. Advon blinzelte und versuchte, seinen Blick wieder zu klären.

Wie war er hierher gekommen? Er entsann sich, im Wald einen heftigen Schlag gegen den Kopf bekommen zu haben. Ab diesem Zeitpunkt bestand seine ganze Erinnerung nur noch daraus, auf dem Rücken gelegen zu haben, wobei sich herbstbunte Blätter, blauer Himmel und absolute Schwärze abgewechselt hatten.

Sein Kopf schmerzte so stark, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Ihm war übel und schwindelig. Wenn er nun versucht hätte, aufzustehen, wäre es nicht gut ausgegangen. Und so war es halb so schlimm, dass er Arme und Beine nicht richtig bewegen konnte. Jemand hatte ihm Hände und Füße gefesselt.

Advon seufzte benommen und schloss die Lider wieder. Die weiß gekalkte Zimmerdecke über ihm war einfach zu grell.

Dann begriff er, dass er jemandes Gefangener sein musste, und war augenblicklich hellwach. Erschrocken wandte er den Kopf unter stechender Pein beiseite. Zwar konnte er nur verschwommen sehen, aber er genügte, um zu erkennen, dass er sich in einem geräumigen, sauberen Zimmer befand. Sonnenlicht kam durch breite, bogenförmige Fenster im oberen Teil der Wände herein. In seinem Blickfeld befanden sich zwei einfache Liegen, ordentlich mit weißem Tuch abgedeckt. Vermutlich lag er selbst auf einer dritten.

Außerhalb seines Blickfeldes redeten Leute. Die Stimmen kamen näher. Advon entschied sich, sich für den Moment bewusstlos zu stellen. Zumindest, bis er herausgefunden hatte, wo er war und warum man ihn festgebunden hatte.

„… und dabei hat Euer Turnier noch nicht einmal begonnen“, sagte eine Frau. „Und schon gibt es die ersten Verletzten. Ihr könnt von Glück sagen, dass ich bereits eingetroffen war.“

„Die jungen Leute“, antwortete ein Mann. „Unverantwortlich. Man sollte gut abwägen, wem von denen man eine Waffe in die Hand gibt. Wie soll das beim vasposár enden?“

„Nun, wie ich sehe, hat Euer doyaror alles gut vorbereitet. Wenn nicht allzu viele zugleich hier eintreffen, sollte die Ausstattung reichen. Aber wir bräuchten mehr Wasser zur Hand und eine Möglichkeit, es zu erhitzen.“

„Ich werde es ihm gern so ausrichten, sobald er vom Ritterlager zurückkehrt. Er bereitet dort alles für Notfälle am Kampfplatz vor.“

„Ihr habt gut daran getan, den da hierher zu bringen. Das hättet Ihr sowieso nicht an Ort und Stelle versorgen können.“

Eine Hand tastete ihn an, fühlte seine Stirn. Finger legten sich an Advons Hals, wohl um zu prüfen, ob das Blut noch pulsierte. Dann öffneten dieselben Finger geschickt sein rechtes Auge. Etwas verwaschen erkannte er das Gesicht einer Frau, die sich über ihn beugte. Sie mochte noch vor dem vierzigsten Sommer sein, kein junges Mädchen mehr. Ihr Haar war völlig von einer strengen Haube bedeckt. Ihre Miene zeigte weniger Besorgnis als sachliches Interesse.

„Was ist mit ihm passiert?“

„Offenbar hat er sich im Wald unbeobachtet einen Zweikampf mit einem anderen Wettstreiter geliefert. Mit schweren Waffen und ohne Helm.“

Die doyara untersuchte Advons linkes Auge, und währenddessen trat ein Mann neben sie. Er war deutlich älter, ein Stück vor dem sechzigsten Sommer vielleicht. Er trug einen tannengrünen Waffenrock, aber sein Wappen war in Advons getrübter Sicht nicht mehr als ein goldener Klecks. Etwas in seinem Gesicht war nicht ganz richtig. Eine hässliche Narbe über seiner Wange, möglicherweise, die der Bart nicht ganz verdeckte.Die Frau ließ seine Lider wieder los.

„Ich denke, es war ein heftiger Schlag gegen den Kopf. Wie oft habe ich meinen Sohn ermahnt, auch beim freundschaftlichen Geplänkel den Helm nicht abzusetzen.“

„Reicht mir doch bitte einen Lappen und ein Schälchen Wasser, Herr Andriér. Dort hinten auf dem Regal liegt genug davon. Er hat eine Wunde am Kopf, die ich säubern will.“

Der Ritter entfernte sich, Advon hörte, wie sein Eisenzeug leise klapperte. Dann legte sich die Hand der doayra über seine Augen. „Hoffentlich“, sagte sie, „wacht er nicht vorschnell auf. Das Licht bekommt einem nicht gut, wenn das Hirn verrückt wurde. Danke, Herr.“

Im nächsten Moment hatte Advon einen kalten, nassen Lappen über dem Gesicht, von der Stirn bis zur Nasenspitze. Die Frau begann zugleich, dort herumzutupfen, wo ihn irgendetwas mit der Gewalt eines niederstürzenden Felsens getroffen haben musste. Advon biss die Zähne zusammen.

„Sind die Fesseln nötig?“

„Es ist mir vorerst sicherer so. Möglicherweise haben wir es mit einem Pferdedieb zu tun.“

„Möglicherweise?“

„Ich weiß noch zu wenig. Und, um ehrlich zu sein, ich traue der Sache nicht so ganz, die mir erzählt wurde.“

„Darf ich fragen, weshalb?“

„Ich kenne zurzeit nur die eine Seite der Geschichte. Der ganze Vorfall ist sehr sonderbar, und wenn sich alles so zugetragen hat, dann wäre der junge Mann hier unfassbar dumm. Wie lange wird es dauern, bis ich ihn befragen kann?“

„Ich weiß nicht. Er atmet regelmäßig, das ist das Wichtigste, und seine Augen sind auch klar. Dass er beim Transport hierher immer wieder die Besinnung verloren hat, ist nicht verwunderlich. Aber ich denke, wenn er eine Weile still liegen kann, wird es nicht allzu lange dauern, bis er dauerhaft zu sich kommt.“

„Ich würde der teiranda gern berichten, dass wir den vermeintlichen Pferdedieb festgesetzt haben.“

„Tut das nur. Ich kümmere mich derweil um seinen Kopf. Dem Knochen ist wohl nichts geschehen, aber die Wunde muss ich nähen.“

Advon wollte zusammenzucken, aber es gelang ihm gerade noch, sich zu beherrschen. Die unkundige Frau wollte doch wohl nicht ernsthaft an ihm herumsticheln?

Nähen? Ich meine … ich verstehe. Benötigt Ihr Hilfe?“

„Nein. Er wird wohl lange genug stillhalten, und gut gesichert haben Eure Leute ihn bereits. Das schaffe ich allein.“

Sie erhob sich. Advon hörte sie etwas abseits in Dingen kramen.

„Oder mögt Ihr mir dabei zuschauen, Herr Andriér? Ich bin mit Nadel und Faden in Fleisch ebenso geschickt wie beim Kleidernähen.“

„Nein. Nein, wirklich nicht. Das ist nicht nötig. Ich bin überzeugt von Eurer Kunstfertigkeit, Frau Isan.“

„Was seid Ihr plötzlich so bleich auf den Wangen, Herr Andriér? Schaut, das feine Werkzeug, mit dem ich arbeite. Es wurde in Ivaál gefertigt und gleitet durch die Haut wie ein heißes Messer durch Butter.“

„Ich bleibe in der Nähe, Frau Isan.“ Der Ritter klapperte eilig fort. „Ruft mich, wenn Ihr fertig seid.“

„Macht nur die Tür hinter Euch zu und sorgt dafür, dass solange niemand hier hereinplatzt.“

Die Tür klappte hörbar zu. Die doyara wartete ein paar Herzschläge lang und nahm dann das nasse Tuch weg.

„Ihr könnt die Augen aufmachen“, sagte sie sachlich. „Ich weiß, dass Ihr bei Sinnen seid.“

Advon blinzelte. Seine Sicht klärte sich ein wenig. Die doayra lächelte zufrieden.

„Du musst das nicht nähen“, sagte er zu ihr. „So schlimm ist das nicht.“

„Ich will das auch gar nicht tun. Ich wollte nur Herrn Andriér loswerden. Erstaunlich, dass so große furchtlose Kerle, die sich scharfe Klingen um die Ohren schlagen, beim Anblick eines Nädelchens weiche Knie bekommen.“ Sie klappte ein Kästchen zu, das wohl ihre Werkzeuge enthielt und stellte es beiseite. „Wahrscheinlich hat seinerzeit ein Stümper seine Wange geflickt.“

Advon war erstaunt. Andriér Altabete war das also gewesen. Das bedeutete, man hatte ihn nach Wijdlant gebracht. Aber was hatte das mit dem Pferdediebstahl auf sich?

„Wieso wolltest du den yarl forthaben?“, fragte er misstrauisch. Sein Schädel fühlte sich an, als sei er zu klein für sein Gehirn, aber offenbar hatten sie wenig Zeit, um die Dinge zu klären.

„Nun, ich war nicht sicher, ob es in Eurem Sinne ist, wenn er erfährt, dass er es mit einem Magier zu tun hat.“

Advon wollte sich alarmiert aufsetzen, aber das ging wegen der Fesseln nicht. Sollte er versuchen, sich mit Magie zu befreien? Allein der Gedanke daran machte ihn schwindelig. Besser nicht. Wer wusste, was er anrichtete, wenn er in diesem Zustand zauberte?

„Woher weißt du das nun?“, fragte er, denn es erschien ihm unsinnig, es der doyara gegenüber leugnen zu wollen.

„Weil ich noch nie einen Verwundeten vor mir hatte, der Gold geblutet hätte.“ Sie lächelte schelmisch und hielt ihren Lappen hoch. Die Flecken darauf sahen aus, als habe sie flüssige Bronze damit aufgewischt. „Wohl aber solche mit silbernem Blut. Ich vermute, Ihr seid von ähnlicher Art wie Meister Yalomiro und die seinen.“

„Ich bin Advon Irísolor“, sagte er. „Sohn der fajía Elosál und des Goldenen Regenbogenritters, Cýelú Irísolor. Aber – das soll niemand wissen.“

„Wieso taucht ein Regenbogenritter in Verkleidung und im Geheimen hier auf und prügelt sich im Wald mit Menschen?“

„Das kann ich erklären.“

„Ich höre.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich es erklären darf. Nicht vor der Zeit. Bitte, frag mich nicht aus.“

„Ich rede nicht über die Geheimnisse meiner Pfleglinge. Aber früher oder später wird jemanden die Farbe Eurer Augen Wunder nehmen.“ Sie holte einen frischen Lappen und tränkte ihn mit etwas aus einem kleinen Krug. Advon verzog zischend das Gesicht, denn es war Essig.

„Dem kann ich vorbeugen“, stieß er hervor. „Unter… normalen Umständen.“

Ihr Blick hellte sich auf, erleuchtet von aufflammender Neugierde. Das ließ sie gleich viel jünger wirken, als sie in Wirklichkeit war. „Dann seid Ihr unter unnormalen Umständen hier?“

„Ja. Sozusagen in geheimer Sache. So geheim, dass ich es nicht einfach mit dir teilen kann.“

„Weiß Meister Yalomiro davon?“

„Ja“, antwortete Advon. Größtenteils, setzte er in Gedanken hinzu.

„Das ist gut. Dann weiß ich, dass Ihr wohl kein Schurke sein werdet.“

„Dazu genügt Euch das Vertrauen, das ein Schattensänger in mich hat?“

„Ja, natürlich.“ Sie fuhr damit fort, seine Schläfe zu reinigen. „Ich kenne Meister Yalomiro und Meisterin Salghiára seit vielen Sommern. Mein Name ist Isan. Ich war die Hebamme, die beider Tochter Dýamirée ins Leben geholt hat.“

„Ich bin mit Dýamirée hier“, rutschte es ihm heraus.

„Wie schön! Ist Dýamirée Eure hýardora?“

Diese direkte Frage verschlug Advon die Sprache. Die doayra hörte auf, die Wunde auszutupfen und schaute ihn erneut mit diesem begeisterten, sensationsgierigen Blick an. Offenbar genügte ihr als Antwort, wie er errötete.

„Wollt Ihr zum vasposár?“

„Wir … das ist geheim!“

„Na, ich glaube, Ihr werdet Euch nicht umsonst mit dem anderen Ritter geschlagen haben. Oder ging es um das Pferd?“

„Ich habe kein Pferd gestohlen“, sagte er. „Das muss ein gewaltiges Missverständnis sein. Ich will das Herrn Andriér klarstellen. Ich habe allerdings ein Pferd gekauft.“

„Dafür gibt es Zeugen?“

„Ja natürlich. Ich frage mich nur, wer mich des Diebstahls bezichtigt.“

„Vielleicht der Ritter, der Euch so zugerichtet hat?“

„Nein, unmöglich. Warum sollte er das tun?“

Die doayra zuckte die Achseln. „Ich weiß auch nicht mehr als das, was Herr Andriér mir erzählt hat. Das habt Ihr mitgehört?“

„Alles, was hier im Raum geredet wurde.“

„Mehr war es nicht. Er begegnete mir knapp vor der Tür und sagte, er habe einen Kampfverletzten hergebracht. Ihr werdet das mit ihm klären müssen.“

„Dann hol ihn bitte her! Ich kann mich hier nicht lange aufhalten.“

„Zunächst einmal“, sagte sie streng, „mache ich hier meine Arbeit zu Ende.“ Sie bediente sich an ihrem Regal und kam mit einem zusammengefalteten Streifen Stoff, einem Mörser und einem kleinen Tiegel zurück. Advon beobachtete unschlüssig, wie sie aus ihrer Gürteltasche ein Fläschchen hervorholte, das mit blaugrünen Linsen gefüllt war. Das musste etwas sehr Kostbares sein, wenn sie es so sorgsam am Körper trug. Die doayra schüttete eine einzige in den Mörser, steckte die Flasche wieder ein und begann, die Zutat zu zerstoßen.

„Ich mische das unter die Salbe“, erklärte sie. „Das stoppt das Nachbluten und verhindert, dass es sich entzündet. Herr Andriér wird sich dann zumindest nicht über Euer ungewöhnliches Blut wundern. Was Eure Augen betrifft, müsst Ihr Euch etwas einfallen lassen.“

„Sagtest du vorhin nicht, das Licht sei schädlich für mich?“

„Gut.“ Sie rührte das Pulver in die Salbe, die daraufhin herb und heilsam roch. „Ich bedecke Eure Augen. Was kann ich derweil noch für Euch tun?“

„Kannst du versuchen, der teirandanja heimlich Bescheid zu geben, dass ich hier bin und was mir zugestoßen ist?“

„Der teirandanja? Die teirandanja weiß, dass Ihr hier seid?“ Nun war die Frau wieder ganz wissbegierig.

„Die teirandanja wird wissen, wo Dýamirée ist. Du musst es aber so anstellen, dass nur die teirandanja mithört. Es soll niemand wissen, dass wir hier sind.“

„Niemand außer der teirandanja? Dann ist sie eingeweiht? Hat sie Euch vielleicht sogar gerufen?“

Advon zischte, als sie die Salbe auftrug. Es brannte, aber gleich darauf breitete sich eine angenehme Kühle aus, die sogar etwas dumpfe Linderung gegen das Pochen hinter seiner Stirn brachte. „Ich darf nicht mehr verraten.“

„Bestimmt hat sie das getan. Es läge ganz in ihrer Natur, im geheimen Dinge anzustoßen. Ich könnte Euch Geschichten erzählen, was man so über die teirandanja berichtet.“

„Was denn?“

„Das“, sagte sie resolut und begann, ihm den Verband um Stirn und Augen zu wickeln, „darf ich nicht sagen.“

Advon seufzte. Nun versuchte sie wohl, zu handeln. „Kannst du mich denn wenigstens losbinden? Vielleicht kann ich im Gegenzug etwas andeuten.“

„Damit Ihr Euch aus dem Staub macht und ich Herrn Andriér erklären muss, wo Ihr abgeblieben seid? Oh nein! Ihr habt Euch das irgendwie eingebrockt. Ich werde mich hüten, Euch da entgegenzukommen, bevor ich nicht weiß, ob das in Ordnung wäre. Ich werde die teirandanja fragen.“

„Meinetwegen. Aber beeil dich. Ich kann mich nicht den ganzen Tag hier ausruhen.“

Sie wickelte die letzte Lage Stoff um seinen Kopf. Sehen konnte er nun nichts mehr.

„Ich gehe und suche die teirandanja. Anschließend hole ich Herrn Andriér herbei. Solange müsst Ihr Euch gedulden.“

„Aber der yarl wartet doch, und ich bin in der Lage, mit ihm zu reden.“

„Das ist mir klar. Aber ich bin nicht in der Lage, mitzuhören, wenn ich ihn zu Euch lasse und gleichzeitig die teirandanja suche. Eines nach dem anderen.“

Er wollte aufbegehren, aber sie war schneller. Advon hörte, wie die Tür sich öffnete und sofort wieder schloss. Bei den Mächten, was für eine neugierige Person! Wie viel Zeit das jetzt kostete. Und was sollte dieser hanebüchene Vorwurf mit dem Pferd? Wenn man wenigstens den namenlosen Ritter herbeirufen konnte. Der hatte ihn zwar niedergeschlagen und würde sich dafür rechtfertigen müssen. Aber er musste doch bezeugen, dass er, Advon, kein Pferd zu stehlen brauchte. Immerhin hatte er gerade erst eines gekauft.

Der junge Magier seufzte. Hoffentlich kümmerte sich der Knappe gut um das schöne Ross.