Das Schwert aus dem Pferdestall zurückzuholen war nicht schwer gewesen. Das war beunruhigend. Galéon war fest davon ausgegangen, dass der Schwarze Meister ihnen nicht mehr von der Seite weichen und aus dem Schatten auftauchen würde, sobald sie sich dem Versteck näherten. Ganz gewiss ahnte er, dass Galéon wusste, wo er sein Werkzeug wiederfinden würde.  Wieso sollte er sich selbst die Mühe machen, danach zu suchen?

Dass er ihn und Raýneta gewähren ließ, konnte nur einen Grund haben. Wahrscheinlich hatte er für den Moment schlichtweg etwas Dringlicheres zu tun. Keine Eile. Und viel zu viel Selbstbewusstsein.

„Ich hole es dir aus dem Stall“, hatte Raýneta sich angeboten, als sie wieder im Obstgarten waren, kurz bevor Pataghíus Glanz Noktamás Schleier aufzuhellen begann.

„Nein, Vögelchen. Du hast dich oft genug in Gefahr gebracht.“

„Aber mich sucht hier niemand.“ Sie hatte sie energisch den Sack über den Kopf gezogen, unter dem sie ihr Kleidchen verborgen hatte. „Schau. Mich erkennt hier niemand.“

„Sicher. So ein vornehmes kleines Mädchen, das aus dem Nichts im Pferdestall steht, das wird gar kein Aufsehen erregen.“

„Wenn wir zusammen gehen, erkennen sie uns.“ Sie raffte ihre längst nicht mehr ordentlich geflochtenen Haare zusammen und wand ein Bändchen darum. „So. Jetzt erkennt mich keiner mehr. Es ist doch bestimmt niemand von den Leuten, die gestern in der Gaststube waren, jetzt schon wieder im Stall.“

„Und wenn jemand sehr früh schon aufbricht, weil er einen weiten Weg vor sich hat? Ist das unmöglich?“

„Nein.“

„Und gerade darum hole ich es mir allein.“

„Dich erkennen sie alle!“

Er kletterte aus dem Sattel. Der Graue prustete. Selbst das klang ermahnend.

„Ich hätte nicht das Risiko eingehen müssen, dich zu retten, wenn du die Gefahr herausforderst, Vögelchen.“

„Und wenn der Schattenmann derweil in den Garten kommt?“

Das war ein ganz berechtigter Einwand. Aber es war unwahrscheinlich. Er musste es riskieren. Nicht auszudenken, wenn ein Unkundiger beim Ausmisten das Schwert fand und berührte.

„Du bleibst, wo du bist. Falls ich bis zum ersten Sonnenstrahl nicht zurück bin, zögerst du nicht und reitest schnurstracks allein weiter nach Althopian. Immer der Straße nach. Solange du das Schwert nicht hast, wird der Schwarzmantel dich nicht verfolgen. Versprichst du mir das?“

Sie antwortete nicht sofort. Aber es war ihr anzusehen, dass sie angestrengt nach einer Widerrede suchte.

„Falls ich in Schwierigkeiten gerate“, sagte er, „sagen wir, weil man nun doch von der Botschaft deines Weitvetters Wind bekommen hat – dann musst du reiten. Schnell wie der Wind. Du darfst nicht ruhen, bis du in Althopian bist. Und da musst du Herrn Waýreth bitten, eine Taube nach Emberbey zu schicken, so schnell er nur kann.“

„Was soll er ihm schreiben?“

„Nun … dass dem ruchlosen báchorkor kein Haar gekrümmt werden darf, ehe er, der yarl von Althopian, nicht selbst zugegen ist. Das wäre ein guter Anfang.“ Galéon sagte das nur halb im Scherz. Mehr als ein verzweifelter Versuch konnte es nicht sein. Ob Venghiár Emberbey sich von der schieren Autorität von yarl Althopian beeindrucken lassen würde, war schließlich alles andere als gewiss. „Immerhin … man hält mich für den Mörder seines besten Freundes. Er hat ein älteres Anrecht auf Vergeltung und könnte ungehalten werden, wenn dein Weitvetter ihm den Spaß verdirbt.“

„Und dann kommen wir, um dich zu retten?“

„Genau so soll es sein, Vögelchen. Das verschafft uns Zeit.“

Sie seufzte. Dann nickte sie. „Der letzte Verschlag auf der rechten Seite, da stand das schöne schwarze Pferd. Ganz dicht der Wand liegt das Schwert. Unter dem Stroh.“

Galéon war auf das Feld hinausgelaufen, über das Morgennebelschwaden hinweg zogen. Gerade noch rechtzeitig, noch bevor der erste Hahn sich entschied, den Tag zu beginnen.

Im Haus waren bereits Menschen auf den Beinen. Man bemühte sich wohl, die Unordnung vom Abend zu richten. Mochten die Mächte wissen, was für eine Geschichte aus der Saat hervorkommen mochte, die er da ausgestreut hatte. Magie zu wirken, und das vor den Augen so vieler unkundiger Zeugen, das konnte nichts Gutes bringen.

Der Moment war günstig. Im Herbergsstall hielt sich noch kein Mensch auf, und die Tiere musste er nicht um Einlass bitten. Trotzdem legte er einen kleinen Zauber über seine Schritte und die Aufmerksamkeit der Hunde, die sich in den Schutz des Gebäudes zurückgezogen hatten.

„Ich stehle kein Pferd“, versicherte er den grimmigen Tieren, die ihm ihre Blicke zuwandten und die Ohren spitzten. „Und ich bin sofort wieder weg.“

Die Hunde beobachteten ihn misstrauisch, bewegten sich aber nicht vom Fleck. Auch die Pferde und Maultiere wandten ihre Köpfe in seine Richtung. Gespenstisch war das, denn alle Tiere starrten ihn an, als wüssten sie um seine Verfehlung. Aber keines tat einen Laut. Das konnte eigentlich nicht allein an seiner Gegenwart liegen. Galéon atmete entschlossen ein und fand den noch leeren Verschlag. Tatsächlich, verborgen unter Stroh und ein paar Pferdeäpfeln lag das Schwert, sehr sorgsam eingewickelt in den kostbaren Samtblütenstoff. Das Traumphantom stand daneben und blickte ihm verdrossen entgegen. Der báchorkor senkte beschämt den Blick vor seinem Meister.

Wie leichtsinnig kannst du sein? Was hat dich dazu getrieben, dein Heiligstes einem Kind zu überlassen? Bei den Mächten, was hast du dir dabei gedacht, da drinnen bei den Unkundigen Magie ausbrechen zu lassen?

„Die Kleine hat es doch gut und klug verwahrt.“ Galéon zog das Schwert an sich und hängte sich Gurt und Scheide über die Schulter. So wäre er schneller, falls es galt, zu rennen. Das halb genähte Kleidchen faltete er sorgsam zusammen. „Und was den Vorfall in der Gaststube betrifft, was hätte ich tun sollen? Er waren Dutzende von Menschenleben in Gefahr. Ich musste ihn ablenken und Verwirrung stiften, bevor er sich an Unkundigen vergriffen hätte!“

Ein Kind, das die Gefahr nicht kennt! Wenn ich es nicht anders von dir wissen würde, es wäre anzunehmen, dass du den Verstand verloren hast!

„Es war in diesem Moment in ihren Händen einfach sicherer als bei mir. Sie hat es unter seiner Nase versteckt.“

Ein goala’ay, sagte das Traumphantom finster, darf sein Schwert nie aus den Augen lassen. Der Schwarze Meister hätte dich bezwingen können!

„Er hat es aber nicht getan.“ Galéon verließ den Verschlag und schaute sich vorsichtig um. Immer noch war kein Mensch zu sehen. „Warum eigentlich nicht?“

Das Traumphantom folgte ihm, körperlos, für unkundige Augen nicht sichtbar, für die seinen nur eine Ahnung, ein Schemen, wie ein verblichenes Bild.

Weil er weiß, wann ihm Warten mehr einbringt als Handeln. Weil er spielt. Und lass dir gesagt sein: Er hasst es, zu verlieren.

„Und wo warst du? Warum hast du mich nicht gewarnt, bevor ich in die Herberge gegangen bin?“

Das Traumphantom runzelte die Stirn. Es wirkte verärgert.

Vielleicht, sagte es, ist es dir so eine Lektion, sorgfältig achtzugeben.

Galéon seufzte. „Keine Zeit für Lektionen. Ich muss zurück und schnell weiter. Mit dem Kind.“

Er schaute sich achtsam um. Als er sicher sagen konnte, dass die Stallgasse immer noch menschenleer war, eilte der báchorkor geduckt weiter. Das Traumphantom folgte ihm. Als sie an den Hunden vorbei liefen, begannen diese zu winseln und zogen die Schwänze ein. Was mochten die Tiere wohl wahrnehmen? Was war es, das ihn selbst – für den Moment – noch von seinem Meister unterschied?

Immer noch war niemand im Freien. Mochten die Mächte geben, dass das noch eine kurze Frist so blieb. Der Nebel löste sich mit jedem Atemzug mehr auf. Tausend Herzschläge, mehr brauchten sie nicht, um in Sicherheit zu sein.

Das Licht war ihm gnädig. Vielleicht war es auch die Gegenwart des Traumphantoms gewesen, das mit den Nebelschwaden verschmolz, als er in den Garten schlüpfte, zum Pferd hetzte und schneller im Sattel war, als je zuvor.

„Hier, Vögelchen“, sagte er und gab dem Kind den Stoff in die Hand. „Beim nächsten Mal soll eine Näherin die letzten Säume daran fertigen. Dafür ist es schließlich da.“

Raýneta Emberbey drückte das Tuch an sich, aber ihre Gedanken waren nicht dabei. So erleichtert war sie, dass er sie nicht allein gelassen hatte. Er lenkte das Pferd im Trab zurück auf die Straße und erlaubte ihm dann eine Weile, wieder geruhsam zu laufen. Das Stück Brot hatten sie dem Hengst geschenkt, aber das und das bisschen Heu mochten nicht lange vorhalten. Wenn es doch nur noch bis zum Abend, bis nach Althopian reichte! Nun galt es, die begrenzten Kräfte des Pferdes sorgsam zu portionieren. Noch eine Rast konnten sie sich nicht erlauben.

„Warum will der Schattenmann unbedingt dein Schwert haben?“, hatte Raýneta gefragt, als sie sich endlich aus der Sichtweite der Herberge entfernt hatten.

„Das ist eine sehr gute Frage.“

„Bestimmt ist es ein mächtiges Zauberschwert, nicht wahr? So wie in den ganz alten Geschichten.“

„Alte Geschichten?“

„Ja, wie ganz, ganz früher. Wenn die guten Regenbogenritter den großen Helden verzauberte Waffen gegeben haben, damit sie in ihren Kämpfen bestehen konnten.“

„Mein Schwert, Vögelchen, ist keine Waffe. Schon gar nicht in meinen Händen.“

„Vielleicht weiß der Schattenmann das ja nicht. Vielleicht hat er Angst, dass du damit gegen ihn kämpfst. Oder er denkt, er sei damit unbesiegbar.“

„Möglich.“

„Jemand muss gegen ihn kämpfen. Und ihn bezwingen!“

„Tatsächlich?“

Raýneta nickte und untersuchte dabei den kostbaren Stoff in ihren Händen. Dass das Tuch nach wie vor völlig unversehrt und sauber war, brachte sie kaum noch zum Staunen. „Natürlich. Er ist doch böse. Und wenn er ein Magier ist, dann wird er sich sicher vor einem Zauberschwert fürchten.“

Das war so kindlich, so naiv gedacht, dass Galéon lächelte. „Ich denke nicht, dass er Angst vor mir und meinen jämmerlichen Fechtkünsten hat. Da gibt es andere, vor denen er sich in Acht nehmen sollte.“

„Du meinst, einen großen Krieger und Helden?“

„Das auch. Wäre nicht schlecht.“

Sie lehnte sich gegen seine Brust und schaute zu ihm hinauf. „Vielleicht kann Merrit Althopian ihn besiegen.“

Autsch. Wie ein kleiner Nadelstich bohrte sich dieser Name in Galéons Gewissen.

„Du meinst, der Sohn von Herrn Waýreth sei dem Schwarzen Meister gewachsen?“

Raýneta nickte eifrig. „Oh ja. Herr Merrit ist unbesiegbar. Der wird uns beschützen.“ Sie ritten nun durch lichten Wald. Das Gelände stieg sacht an. Die Straße aus festgetretener Erde wurde breiter. Sicher kämen ihnen bald die ersten Reisenden entgegen.

„Du magst ihn gern, diesen Merrit Althopian, nicht wahr?“

„Ja. Er ist der beste Freund meines Bruders. Er ist oft bei uns auf der Burg zu Besuch gewesen. Er ist immer freundlich und lustig und gerecht und hilft den Leuten. Einmal hab ich gesehen, wie er einer Magd einen schweren Wäschekorb getragen hat. Mein Vater …“ Sie zögerte, ließ sich diesmal aber nicht von der Trauer überwältigen. „Vater hat immer gesagt, dass er der beste teirand werden wird, den man sich nur wünschen kann. Ganz bestimmt entscheidet sich die teirandanja für ihn. Oh, wenn wir doch nur schon beim vasposár wären.“ Sie lachte verlegen und fügte leise hinzu: „Ich glaube, Venghiár hat ein bisschen Angst vor ihm.“

„Vor Merrit Althopian? Was geht deinen Weitvetter der Favorit der teirandanja an?“

Nun druckste Raýneta etwas herum. „Ich hab ihn einmal ganz böse über Herrn Merrit reden hören“, gestand sie dann. „Mit seinen beiden Freunden. Oder Knechten, Ich weiß gar nicht genau, was die beiden eigentlich sind. Sie sind ziemlich dumm.“

„Wie ungehobelt von Herrn Venghiár, vor deinen Ohren über Herrn Merrit zu lästern.“

„Er wusste ja nicht, dass ich da bin. Ich …“ Sie unterbrach sich hastig. Wahrscheinlich errötete sie vor Verlegenheit.

„Hast du vorsätzlich gelauscht?“, fragt Galéon belustigt. Sie schüttelte energisch den Kopf. „Dann ist es auch nicht schlimm. – Was hat er denn Böses geredet, Vögelchen?“

„Ich hab nicht viel verstanden. Ich hatte ohne die opayra im kleinen Saal gespielt und mir war ein Ball unter eine Bank gerollt. Ich war gerade darunter gekrochen, um ihn zu holen, da kamen Venghiár und die zwei Männer rein. Venghiár wollte die beiden auf einen Botengang schicken. Sie sollten sich aber klug benehmen und nicht zu viel reden, wenn sie das Land von Herrn Waýreth durchreisen. Und über Herrn Merrit hat er gesagt, er sei ein aufgeplusteter  Hahn, den der Fuchs wohl bald holen wird. Und dass er auf dem Turnier wohl gerupft und geröstet würde, wenn es so weit sei. Einer von den Knechten hat dann gefragt, ob die teirandanja dann auch ein dummes Hühnchen sei. Da ist Venghiár wütend geworden und hat geschimpft und hat ganz schlimme Worte gesagt.“ Raýneta schaute sich nach ihm um. „Sie sind zum Glück vorbeigegangen. Wenn sie im Saal geblieben wären, hätten sie mich sicher entdeckt.“

Galéon dachte nach. Was die kleine yarlaranda da erzählte, war ausgesprochen interessant. Sich selbst konnte Venghiár Emberbey wohl kaum meinen, wenn er dem hochgepriesenen Merrit Althopian eine schmachvolle Niederlage wünschte.

„Hat dein Weitvetter gesagt, wohin seine Boten ausziehen sollten?“

„Nein. Nur, dass sie nicht lange in Althopian herumtrödeln und spätestens am fünfzehnten Tag wieder zurückkehren sollten.“

Galéon überlegte. Welche Ziele waren wohl binnen sieben oder acht Tagen zu erreichen, wenn man in Emberbey aufbrach und das Gebiet von Althopian durchquerte?

Und was könnte in Ferocrivé sein, das Merrit Althopian schaden konnte?