
An diesem Morgen war Truda achtsam. Aber auch Manjév hütete sich, noch einmal zu verschlafen. Die beiden Mädchen hatten eine unruhige Nacht hinter sich. Truda war aufgeregt. All der Trubel, die interessanten Gäste, das versetzte das jüngere Mädchen in allergrößtes Interesse. Noch im Halbschlaf plapperte Truda schwärmerisch vor sich hin.
Manjév hatte versucht, wach zu bleiben, denn sie rechnete fest damit, dass Dýamirée und Advon erscheinen würden. Aber sie hatte vergeblich gewartet – bis zum Tumult, der bis in die dem Innenhof zugewandten Räume der Burg zu hören gewesen war.
Truda war gerade damit fertig, Manjévs Haar in Zöpfe zu legen, als yarl Moréaval in Begleitung von zwei Küchenmägden erschien. Nun, da noch mehr Gäste auf der Burg weilten, holten die teirandanja und ihre Hofdame sich ihr Frühstück nicht mehr wie üblich aus der Küche, sondern wurden in ihrer Kemenate bedient.
„Herr Jóndere“, erkundigte Manjév sich und ließ sich duftenden Blütensud einschenken, „was war das für ein Lärm heute Nacht?“
„Wir wissen es nicht, Majestät. Die Hunde scheinen im Garten etwas aufgespürt zu haben. Aber es hat niemand etwas gesehen oder gehört, außer dem Gekläff.“
„Ein Kaninchen wird es wohl nicht gewesen sein“; sagte Truda und brach zierlich vom Kräuterbrot ab.
Der Ritter hob die Schultern. „Alle Wächter, die draußen und auf der Mauer unterwegs waren, wurden befragt. Die Hunde waren aufgeregt und ließen sich kaum beruhigen. Zwei der Tiere sind verletzt worden, als hätten sie sich mit einem großen Waldschwein angelegt. Aber was sie aufgestört hat – keiner kann es sagen.“
„Die armen Hunde!“, rief Manjév aus.
„Sie leben beide und werden genesen, Majestät. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass sie versucht haben, sich im Eifer gegenseitig zu zerfleischen.“
„Wie unheimlich!“
„Immerhin ist diesmal kaum Gemüse verheert worden.“ Der Ritter schaute den Mädchen unverwandt beim Essen zu. „Majestät, ich will Euch nicht zur Eile drängen. Aber es ist schon wieder ein Ritter zugegen, der Euch seine Aufwartung machen will.“
„Ich verstehe. Lasst mich nur diesen Becher in Ruhe austrinken. Wer ist es diesmal?“
„Der yarl von Ycelia, Majestät. Herr Madýc.“
„Ycelia!“, sagte Truda begeistert. „Von so weit her! Wie interessant! Sagt, Herr Jóndere, stimmt es, dass es da fast die ganze Zeit so kalt ist wie bei uns im Winter?“
„Warum fragst du ihn nicht selbst?“ Manjév stürzte den Rest vom Getränk herunter. „Dann muss ich mir keine geistreichen Bemerkungen ausdenken und kann Euch zuhören.“
„Vielleicht ist es wirklich nicht das Schlechteste, wenn Ihr den hochedlen Herrn auf andere Gedanken bringt.“ Jóndere Moréaval verbarg es gut, aber es entging Manjév nicht, dass er ungeduldig war.
„Wieso?“
„Es ist derjenige Herr, der gestern die Beschmutzung seines Zeltes beklagte. Und er fügte dem vorhin erst noch einen kleinen Diebstahl hinzu. Herr Daap ist sehr unmutig deswegen. Aber trotz der Geringfügigkeit ist es nicht gut, wenn sich unter den Rittern jemand befindet, der es mit Anstand und Eigentum nicht so genau nimmt.“
„Geringfügigkeit?“, fragte Truda, begierig, mehr zu hören.
„Eine kostbare Flasche.“
„Wieso trägt der yarl zerbrechliches Glas über so weite Strecken in ein Zeltlager?“
Moréaval lächelte. „In Ycelia, so heißt es, legt man noch weit mehr Wert auf kostbare und schöne Dinge als in Ivaál.“
„Verständlich“, meinte Truda, nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher und erhob sich. „Wenn es da immer kalt und kahl ist, haben sie wenig anzuschauen außer Schnee und Eis.“.
Die beiden jungen Damen folgten dem Ritter. Diesmal ging es nicht ins Audienzgemach, sondern hinunter in die Halle. „Es sind zu viele Leute. Es würde eng“, erklärte der Ritter. „Herr Madýc ist ein Freund großer Auftritte.“
Als er die Mädchen auf die Galerie führte, die auf Höhe der ersten Etage die Halle umspannte, waren unten allerdings noch nicht viele Personen. Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor saßen auf ihren geschmückten Sesseln. Vor der Estrade standen Andriér Altabete und Daap Grootplen. Letzterer wirkte bekümmert. In Herrn Andriér schien Ärger zu schwelen.
Manjév grüßte die Eltern herzlich, verneigte sich vor den Herren und nahm dann auf ihrem Sessel Platz. Truda und Moréaval bezogen ihre angestammten Plätze an ihrer Seite.
„Ihr seht betrübt aus, Herr Daap“, sagte Manjév. „Herr Jóndere erwähnte Unschönes aus dem Zeltlager. Ist es deswegen?“
„Wenn es nur diese Kleinigkeiten wären“, klagte der ältere Ritter. „Es führt sich anderenorts fort.“
„Wir werden nichts unversucht lassen, den dreisten Dieb zu stellen“, versprach Asgaý von Spagor. „Der wird uns nicht entkommen.“
„Aber es gibt keine Hinweise! Die Spuren führen aus dem Dorf hinaus und verlieren sich auf der Straße. Ich habe schon ein Halbdutzend Männer hinterhergeschickt. Weit weg kann der Bursche ja nicht sein.“ Andriér Altabete war sichtlich aufgebracht. „Bei den Mächten! Ein dreister Pferdedieb! Gerade jetzt!“
„Was wurde denn gestohlen?“, wunderte sich Manjév. „Ging es nicht um einen Krug?“
„Ein Pferd, Majestät. Eine Dame, die nicht genannt werden will, hat es im Hauptdorf einem Eurer Schutzbefohlenen zur Aufbewahrung anvertraut. Der arme Kerl ist untröstlich und kann sich nicht erklären, wie das passieren konnte. Er schwört bei den Mächten, dass er damit nichts zu tun hat.“
„Oh“, machte Truda. Manjév wusste, wieso und war genauso alarmiert.
„Und es ist ganz sicher“, erkundigte sich Kíaná von Wijdlant, „dass das Tier nicht ausgebrochen ist oder beiseitegebracht wurde?“
„Für den Schmied lege ich meine Hand ins Feuer“, sagte Altabete. „Der ehrlichste Mensch unter Pataghíus Glanz. Seit Ewigkeiten vertraue ich ihm meine Pferde und mein Eisenzeug an.“
„Wenn jemand gerade jetzt und hier und jetzt so dreist ist, ein Pferd zu stehlen“, überlegte der teirand, „dann doch sicherlich, um es beim vasposár zu nutzen. Oder zu diesem Zweck zu verkaufen.“
„Schwer denkbar. Der Beschreibung nach ist es ein sehr auffälliges Pferd. Es würde augenblicklich auffallen, wenn es irgendwo auftauchte. Der Dieb kann nicht ganz bei Trost sein, wenn er denkt, damit ungesehen zu entkommen.“
„Was soll das für eine Dame sein, die dem Schmied ein Pferd zur Aufbewahrung gibt? Und warum?“, überlegte Kíaná von Wijdlant.
„Ja, wer könnte das nur sein?“ Manjév glaubte, sich zu verraten, wenn sie noch ein Wort mehr sagte. Aber selbst Truda, die eines so lockere Zunge hatte, wusste wann es besser war, zu schweigen. Bei den Mächten! All die Mühe, die Tíjnje sich gegeben hatte – ruiniert durch einen schäbigen Pferdedieb!
„Herr Andriér“, sagte Asgaý von Spagor. „Ich vertraue Euch, dass Ihr die Angelegenheit schnell und ohne Aufsehen löst. Nehmt Euch weitere Gehilfen, soviel abkömmlich sind, und begebt Euch zunächst zum Lager der Ritter.“
„Vielleicht versucht jemand, das gestohlene Pferd einem Arglosen anzudingen, um sich zu bereichern. Sorgt dafür, dass niemand auf die Sache hereinfällt. Unsere lieben Gäste müssen gewarnt werden.“ Kíaná von Wijdlant schüttelte bekümmert den Kopf. „Was für ein peinlicher Vorfall. Lasst verkünden, dass, wer immer mit diesem Pferd vorgefunden wird, mit strenger Strafe zu rechnen hat. Vor aller Augen.“
Andriér Altabete verneigte sich. Seine grimmige Miene ließ keinen Zweifel daran, wie ernst er das Gebot seiner teiranday nahm.
„Und wenn das Pferd verschwunden bleibt?“, fragte Manjév so beiläufig, wie es ihr möglich war.
„Dann muss die ungenannte Dame sich wohl zu erkennen geben, damit sich die Sache regeln lässt. Nicht wahr, Asgaý?“
„Ich denke, yarl Althopian wird einen Ersatz stellen können.“
Manjév schloss die Augen. Mochten die Mächte geben, dass der ahnungslose Waýreth Althopian nicht eines seiner eigenen Pferde ersetzen musste.
„Gut. Nachdem nun diese Sache in die Wege geleitet ist, lasst uns unseren lieben Gast begrüßen.“ Kíaná von Wijdlant erhob sich und klatschte in die Hände. Die beiden Wächter an der Eingangstür öffneten, um die davor Wartenden einzulassen.
Manjév blinzelte. Ein hünenhafter Mann in vornehmem Rüstzeug trat in die Halle ein, verneigte sich und kam selbstsicheren Schrittes auf die teiranday, die drei Ritter und die Mädchen zu. In den ersten Sonnstrahlen, die durch die Fenster drangen, blitzte und blinkte das Gewand über seinem Eisenzeug. Es war mit vielen kleinen Spiegelplättchen bestickt, sein Mantel mit zartflauschigem, schneeweißen Pelz verbrämt. Unter dem Arm trug er einen Helm mit einem ebenso duftigen Schmuck. Gegen diese Pracht wirkten Grootplen, Altabete und Moréaval in ihren schlichten bunten Waffenröcken regelrecht bescheiden.
Mit ihm traten sechs Knappen ein und folgten ihrem Herrn. Sie waren ähnlich, aber etwas dezenter gekleidet. Jeder trug etwas in der Hand, einen kleinen Korb, eine Schatulle oder ein kleines Gefäß.
Yarl Ycelia kam vor der Estrade zu stehen, verneigte sich und zog sein Schwert. Formvollendet legte er es vor den teiranda auf dem Boden ab, trat einen Schritt zurück und senkte artig den Blick.
„Herr Madýc!“ Kíaná von Wijdlant erhob sich, stieg von der Estrade hinab und reichte dem Ritter ihre Hände. „Willkommen! Welche Freude!“
Asgaý von Spagor schloss sich an. „So weit seid Ihr gereist, um unser Fest zu beehren. Hocherfreut sind wir, Euch zu sehen!“
Manjév zuckte zusammen, weil Truda sie sanft anstupste. Hastig erhob die teirandanja sich. „Hochedler Herr! Ich freue mich, Euch in Wijdlant willkommen zu heißen.“
„Hochedle fánjula, Herrin und Gebieterin über Wijdlant und Spagor. Welche Ehre, welches Glück und welche Fügung, Euch von Angesicht zu begegnen!“
Er verneigte sich so tief vor ihr, dass es ihr unangenehm war. Huldvoll reichte sie ihm die Hand und war verwundert, wie vorsichtig er sie ergriff und einem kleinen Moment zu lang festhielt.
„Hochedle teirandanja“, sagte er, nachdem sie ihm ihre Finger sehr behutsam entzogen und sich wieder gesetzt hatte, „erlaubt mir, Euch einige kleine Präsente aus meiner Heimat darzubringen.“
So vollendet, als hätten sie einen Tanz eingeübt, trat ein Knappe nach dem anderen vor und präsentierte ihr das jeweilige Präsent. Truda trat vor und nahm die Geschenke entgegen, um sie an Manjév weiterzureichen. Manjév seufzte innerlich, spürte sie doch die erwartungsvollen Blicke der Eltern auf sich ruhen. Das Übliche war es, wenn auch sehr geschmackvoll verpackt und von äußerst erlesener Güte. Seifen und Duftwässer, kostbare Kämme und Spangen und glitzernder Schmuck. Die teirandanja fragte sich, warum so viele der jungen Herren ausgerechnet Seife schenkten. Vermuteten sie etwa, sie würde sich zu selten waschen?
Truda genoss die Aufmerksamkeit und hatte für jeden der jungen Männer ein herzliches Lächeln. Ob einer der Knappen für sie bestimmt war? Manjév wandte Herrn Madýc zu. Nun ja … ein anständiger, braver Mann schien das zu sein, möglicherweise auch ein respektabler Kämpfer. Aber Hoffnungen machen … nein. Das wollte sie nicht. Das wäre nicht gut und das verdiente er nicht.
Truda nahm das letzte Geschenk an und stutzte. Hilfe suchend wandte sie sich ihrer Herrin zu.
„Wie interessant, Herr Madýc“, sagte Kíaná von Wijdlant. „Ein kleines Haustier? Aus Ycelia?“
„Seht doch nur“, ging der yarl über diese Frage hinweg. Offenbar war er hocherfreut darüber, wie gebannt Manjév war. „Wie hübsch und drollig es ist.“
„Gib mir den Käfig, Truda“, forderte Manjév. „Lass es mich näher anschauen.“
Truda reichte Manjév das vergitterte Kästchen an. Das schwarze Eichhörnchen darin hielt sich mit seinen kleinen Händchen am Gitter fest und schaute ihr ruhig und Gesicht. Die dunklen Knopfäuglein schimmerten, als strahle Mondlicht in ihrer Tiefe.
Manjév erstarrte. Wie konnte das sein? Wie kam Dýamirée in die Gewalt des yarl?
„Manjév?“, fragte Asgaý von Spagor.
„Es … ist niedlich“, sagte Manjév schnell. „Ich danke Euch, Herr Madýc. Was für ein hübsches Tierchen. Ist es zahm?“
„Wenn Ihr ihm ein kleines Geschirr anlegt, wird es Euch sicher nicht entwischen.“ Ycelia war sichtlich erfreut. „Schaut doch nur, das schöne schwarze Fell. Habt Ihr schon einmal ein pechschwarzes Eichhörnchen gesehen? Sie sind sehr selten, und so selten ist das Fell so fein …“
Manjév hielt dem Tierchen ihre Fingerspitze entgegen. Das Eichhörnchen griff durch das Gitter und legte sein Pfötchen darauf.
„Truda“, sagte sie. „Sei so gut. Bring dieses liebe kleine Tierchen gleich in mein Gemach. Und besorge eine Handvoll Nüsse aus der Küche. Bestimmt hat es Hunger.“
Truda nahm den Käfig an sich. Sie schaute enttäuscht drein. Die Audienz nun zu verlassen, passte ihr nicht, das war offensichtlich. Vielleicht gefiel ihr tatsächlich einer der Knappen.
„Und du, kleines Eichhörnchen“, setzte Manjév hinzu, „lauf nicht weg. Ich denke, wir werden uns gut miteinander verstehen.“
***
Gerade erst hatte der Hahn gekräht und die Wirtsleute und ihr Gesinde daran gemahnt, dass Pataghiús Glanz sich über den Montazíel erhob und die Helligkeit brachte, die fürs Tagwerk vonnöten war.
Tíjnje hatte das ignoriert und sich wieder umgedreht. Nicht, dass sie noch einmal hätte einschlafen wollen. Aber einen Moment länger rasten, bevor sie sich auf den Weg machten, das mochte doch wohl in Ordnung sein.
Die eld-yarlara im Bett nebenan schlummerte noch friedlich. Wahrscheinlich hatte sie es längst gelernt, den Hahnenschrei zu ignorieren. Oder sie war einfach zu erschöpft von der ungewohnten weiten Reise.
Tíjnje lächelte. Bald, bald wäre der Großvater vom Hofdienst in Wijdlant befreit, vielleicht schon direkt nach dem vasposár. Dann wäre Láas der Gesandte des yarlmálon, und die beiden alternden hýardoray hätten keinen Grund mehr, sich lange voneinander zu trennen. Mochten die Mächte ihnen noch viele gute Sommer beieinander bescheren.
Das junge Mädchen kuschelte sich ins Kissen, lange nicht so gut und bequem wie das gewohnte Nachtlager in Manjévs Kemenate, aber sauber und angemessen. Sie legte die Arme um das mit gewaschener Schafswolle gestopfte Leinen und stellte sich vor, es sei Jándris. Ob ihm der Helmschmuck gefallen würde? Hoffentlich gab Truda gut darauf Acht!
Über diesen Gedanken döste sie tatsächlich noch einen Augenblick ein. Bis direkt vor dem Haus, nur wenig gedämpft durch die hölzernen Fensterläden, jemand so laut schrie, dass es Tíjnje durch Mark und Bein ging. Sie schrak aus ihren Kissen auf.
Nun war auch die eld-yarlara wach. Geschrocken saß die ältere Dame stocksteif auf dem Bett.
„Was? Was ist das?“, rief sie aus.
Tíjnje war bereits auf den Füßen und riss das Fenster auf. Drunten standen Leute, Knechte des Gasthofes und einige frühe Gäste, die bereits mit dem Hahn aufgestanden waren. Neugierig gesellten sie sich zu den in schmutzige Kleidung gewandeten Männern, von denen einer eines der Küchenmädchen stützte. Das war wohl die, die geschrien hatte und der nun die Sinne zu schwinden drohten.
„Tíjnje!“, rief die yarlara entsetzt aus. „Im Nachtkleid! Vor aller Augen! Komm sofort weg vom Fenster!“
„Da draußen ist was los!“
„Es schickt sich nicht!“
„Ich will nachschauen!“
„Kind! Vor all den Blicken!“
Es kostete Tíjnje mehrere Hundert Herzschläge, bis sie ihr Kleid so übergeworfen hatte, dass sie den Raum verlassen konnte. Bis dahin hatte sich im Freien eine große Schar Schaulustiger versammelt, allerdings nicht direkt am Haus, sondern etwas abseits, dort, wo die Aborthütte war. Dort machten sich mehrere Personen zu schaffen, und es stank.
„Nicht, Herrin!“ Tridna sah die Edeldame heraneilen. „Kein Anblick für Eure Augen!“
„Aber für deine etwa? Was ist los?“
Tridna senkte den Blick. „Ein Toter, Herrin! Sie haben einen Leichnam gefunden.“
„Auf dem Abort?“ Tíjnje hob erstaunt die Brauen. „Was für ein sonderbarer Moment, um hinter die Träume zu gehen!“
„Gewissermaßen. Oh, Herrin, es ist so schrecklich …“
Tíjnje stellte sich auf die Zehenspitzen und machte den Hals lang, um über den Menschenpulk hinweg zu schauen. Ganz vorne war Láas dabei, der die meisten anderen Männer überragte. Da konnte Jándris nicht weit sein. Sie setzte sich entschlossen in Bewegung und bahnte sich einen Weg durch die Menge, versuchte, aus dem Stimmengewirr etwas herauszuhören.
„Macht Platz! Macht Platz für die yarlaranda von Moréaval!“, verschaffte sie sich schließlich Gehör, als sie auf eine Wand aus Männerrücken stieß. „Was geht hier vor?“
„Herrin!“ Der Herbergswirt eilte herbei. „Herrin, eine Ungeheuerlichkeit! Bleibt zurück, um eures Gemütes Willen!“
„Das hier ist Grund und Boden meines Großvaters!“, versuchte Tíjnje, sich zu rechtfertigen. „Die eld-yarlara, eure Herrin, wünscht zu erfahren, was passiert ist!“
Die Gastwirtin und ein Teil des Gesindes kam dem Mann zu Hilfe. Als ob sie es eingeübt hätten, drängten sie das junge Mädchen vom Geschehen ab. Aus ihren bemühten, sehr vorsichtigen Worten erfuhr Tíjnje, was sich zugetragen hatte. Wie an jedem Morgen, etwa mit der ersten Dämmerung, hatten die Knechte, die dazu bestellt waren, den Abort zu leeren, den Toten vorgefunden. Tíjnje erfuhr, dass die Männer die wenig geliebte, aber verantwortungsvolle Aufgabe hatten, den wertvollen Mist der Herbergsbesucher täglich abzutransportieren, auf dass es guter Felddünger werde.
„Mögen der Ärmste seinen Frieden hinter den Träumen finden“, sagte Tíjnje betroffen. „Aber warum dieser Aufruhr? Wieso nicht ein wenig … Diskretion?“
Eine Frau, die sich ebenfalls unter die Schaulustigen gemischt hatte, wandte sich ihr zu. „Es sieht ganz so aus, als sei der Unglückliche nicht ganz so friedlich hinter die Träume gelangt.“
„Wie meint Ihr das?“
Die Frau verneigte sich knapp. Tíjnje erkannte an ihrer wertvollen Kleidung, dass es sich um eine Edeldame handelte. Sie senkte ebenfalls höflich den Blick.
„Ich bin Válgundra Robsténar“, gab die andere sich zu erkennen. „Es scheint, dass ein geradezu abscheulicher Mord stattgefunden hat.“
„Ein Mord? Hier, im yarlmálon Grootplen? Verzeiht, hochedle Dame. Ich bin Tíjnje Moréaval. Yarl Grootplen ist mein Großvater. Damit betrifft die Sache auch mich. Lasst mich durch.“
Frau Válgundra ging einen Schritt beiseite. „He! Platz für die yarlaranda!“, rief sie aus. Ihre Stimme klang, als sei sie das Befehlen gewohnt. Tatsächlich machten die Leute gehorsam Platz. Tíjnje trat vor, sah und bereute es sofort, denn der Anblick war ekelhaft.
„Bei den Mächten“, hauchte sie.
„Tíjnje!“ Láas wurde ihrer gewahr und trat ihr ins Blickfeld. „Das ist nichts für deine Augen!“
„Was ist da geschehen?“
„Offenbar hat ihn jemand abgestochen und dann in der Grube verschwinden lassen.“
„Wie ekelerregend und wie schmachvoll!“, sagte ein anderer Mann.
„Ja“, stimmte jemand anderes zu. „Bei den Mächten, wir hatten ja keine Ahnung!“
„Wie entwürdigend!“
„Stellt Euch vor, wer weiß, wer alles auf ihn gesch… nun. Im Dunklen hat es ja keiner gesehen …“
„Platz“, hörte Tíjnje eine vertraute Stimme. Jándris bahnte sich einen Weg durch die Menge, gefolgt von einem anderen Ritter in schwarz-rotem Waffenrock und ein paar anderen Männern. Alle trugen Eimer mit Wasser. „Tretet zurück! Lasst uns die …“ Er bemerkte, dass Tíjnje und die andere yarlara anwesend waren. „Lasst uns ihn säubern! Vielleicht erkennt ihn jemand! Geht beiseite!“
Tíjnje ließ ihn vorbei. „Erkennen?“, fragte sie.
Frau Válgundra zuckte die Achseln. Sie sah nicht besonders betroffen aus, schien aber durchaus interessiert am Geschehen. „Es wird wohl keiner von den Gästen vermisst.“
Die Männer leerten ihre Wassereimer über dem Leichnam. Die Abortknechte hatten den Körper nur rasch aus der Grube und ins Freie gezerrt, besudelt und stinkend, wie er war. Nun spülte klares Wasser den gröbsten Schmutz fort. Die Umstehenden starrten und tuschelten.
Der Wirt trat näher. Dann wandte er sich den Leuten zu und schüttelte den Kopf. „Von meinen Leuten ist das keiner.“
„Kennt jemand diesen Mann?“, fragte Láas. „Weiß jemand, wer das ist? Und warum ihn jemand den Hals aufgeschlitzt haben könnte? Hat jemand etwas Verdächtiges beobachtet?“
Herbergsgesinde und Gäste begutachteten den Toten ratlos. Ein junger Mann, noch weit vor dem dreißigsten Sommer war es, rothaarig, sommersprossig und mit großen, hellen Augen, die weit aufgerissen in den Himmel starrten. Er sah im Tod fast verblüfft aus.
Aber niemand schien zu erkennen, wer es war. Zumindest meldete sich niemand zu Wort.
„Gut“, sagte Láas. „Wenn hier niemand etwas zur Sache zu sagen hat, dann geht nun und kümmert euch um euren Kram. Das gilt auch für unser Gefolge. Haltet euch bereit. Sobald die eld-yarlara zum Aufbruch bereit ist, ziehen wir weiter. Wir kümmern uns darum, dass der Vorfall untersucht wird.“
Die Leute fühlten sich offensichtlich zunächst nicht angesprochen. Erst, als Láas seine Forderung wiederholte, zerstreute sich die Menge, murmelnd und aufgestört. Nur die Wirtsleute und die beiden verlegenen Abortknechte blieben stehen. Und der fremde Ritter, der mit grimmiger Miene an der Seite der Dame Stellung bezog. Außerdem Tridna, die nicht so recht zu wissen schien, wohin mit sich.
„Ein Skandal“, sagte Frau Válgundra. „Und so sinnlos.“
„Nun, sinnlos wird es wohl nicht sein. Ansonsten hätte sich der Mörder wohl nicht entschlossen, den armen Kerl in der Sch…“
„Bjöngsten! Achte auf deine Zunge!“
„… ihn auf diese Weise zu verbergen.“
„Wie lange er da wohl schon gelegen hat?“, überlegte Jándris und trat so unauffällig wie möglich an Tíjnjes Seite.
„Sicher nicht länger als einen Tag“, sagte die Wirtin. Sie bemühte sich sichtlich, den Toten nicht anzuschauen. „Wir lassen den Mist … ich meine, es wird täglich sauber gemacht.“
„Bei den Mächten“, murmelte Jándris. „Ich hab mich gestern mehrfach hier erleichtert. Mögen die Mächte mir verzeihen, was ich ihm hier ohne mein Wissen angetan habe.“
„Ich weiß, wer das ist“, sagte Tíjnje leise. Alle Blicke wandten sich ihr zu.
„Woher weißt du … ich meine: Woher wisst Ihr das, Frau Tíjnje?“, fragte Jándris.
Sie trat einen Schritt vor und schaute entsetzt, beschämt und betäubt auf den Rothaarigen hinab. Bei den Mächten, nun, da sein Gesicht halbwegs sauber war … und das bedeutete …
„Das ist der Bote“, sagte sie leise. „Mein Bote.“
„Euer Bote, Frau Tíjnje?“
„Ich hab ihn aus einem der Nebendörfer angeworben, um einen Brief zu überbringen.“ Sie blickte auf. „Wo sind yarl Emberbey und yarl Althopian?“
Láas wechselte einen raschen Blick mit Jándris.
„Die sind gestern Nacht aufgebrochen“, sagte Jándris. „Mit dei… mit Eurem Boten.“
„Was?“
„Hier.“ Láas reichte ihr ein Stück Papier, das er aus seiner Gürteltasche zog. „Das hat er für die eld-yarlara dagelassen.“
Tíjnje nahm den Brief entgegen. Sie musste nicht lange darauf schauen.
„Das ist der Brief“, sagte sie leise. „Er hätte in Händen dieses armen redlichen Burschen sein müssen.“
„Dann war das wohl das Tatmotiv? Den Brief an sich zu bringen?“, fragte Jándris.
„Das ergibt überhaupt keinen Sinn!“
Der fremde Ritter nahm ihr den Brief ungefragt aus der Hand.
„Bjöngsten!“, mahnte die Dame, aber er ließ sich nicht beirren.
„Schaut“, sagte er. „Das Siegel.“
„Was ist damit?“
„Da ist Wachs von einer anderen Farbe daran.“
Sie umringten den Brief. Tatsächlich. Deutlich zu erkennen auf dem roten, erbrochenem Siegel klebten Reste von billigem weißen Wachs.
„Verflucht“, zischte Jándris. „Das haben wir alle gestern nicht bemerkt.“
„Wie denn auch“, versuchte Láas, ihn zu beschwichtigen. „Es war ja stockduster, und das Siegel schon erbrochen!“
„Was geht hier vor sich?“, fragte die Dame Válgundra.
„Es scheint“, erklärte Jándris und faltete den Brief zusammen, „als habe jemand – warum auch immer – dem hier den Brief gestohlen, den Inhalt gelesen und sei dann in seine Rolle geschlüpft.“
„Das heißt“, sagte Tíjnje verstört, „Herr Osse und Herr Merrit sind in Gefahr.“
„Bleib ruhig“, bat Jándris. Aber sein Gesicht war bar jeder gewohnten Schalkhaftigkeit. Das machte Tíjnje beinahe Angst. „Herr Merrit lässt sich nicht in Gefahr bringen.“
„Ha!“, schnaufte Bjöngsten Robsténar.
„Herr“, wandte die Wirtin sacht ein, „was tun wir nun? Was ist davon zu halten?“
„Bitte“, sagte Tíjnje. „Bringt den Unglücklichen hier außer Sicht, dass ihn niemand mehr angafft. Ich gebe Euch Geld. Bitte sorgt dafür, dass jemand ihn so schnell wie möglich nach Wijdlant bringt. Ich kümmere mich um alles Wichtige. Die Seinen sollen ihn würdevoll bestatten. Gebt mir nur einen Moment, mich zu sammeln. Wir brechen so schnell wie nur möglich auf.“
„Sollen wir voraus, Frau Tíjnje?“
„Nein, Herr Láas. Wir holen sie doch nicht ein. Aber wir müssen ihnen schnell hinterher. Ach, wenn wir doch Großmutter und all die jungen Leute nicht behüten müssten.“
„Hochedle Dame?“
Tíjnje wandte sich dem fremden Ritter zu. Er verneigte sich förmlich.
„Es wäre mir eine Ehre, Euch vorauszureiten und die hochedlen yarlay zu warnen. Mein Pferd ist schnell.“
Tíjnje war erstaunt. Nicht minder verwirrt schauten Láas und Jándris drein.
„Es .. wäre eine große Hilfe für und, wenn Ihr das tätet, yarl Robsténar“, sagte sie vorsichtig. „Aber warum?“
„Es ist mir ein persönliches Anliegen, yarl Althopian im ehrenvollen Gestech zu begegnen. Ich mag ihn nicht einem rätselhaften Schurken überlassen.“
„Das ist … ein ungewöhnliches Motiv“, sagte Tíjnje befremdet.
„Es ist vollkommen legitim“, schaltete Láas sich ein. „Wenn die Sorge wohl auch unberechtigt ist. Herr Merrit ist unbesiegbar.“
„Das wird sich zeigen.“
„Ach, Bjöngsten“, seufzte die Dame. Sonderlich überrascht wirkte sie nicht.
„Schließt Euch unserer Gesellschaft an, während Euer Bruder vorausreitet, Frau Válgundra.“ Jándris verneigte sich. „Die eld-yarlara wird hocherfreut sein, eine edle Dame begrüßen zu dürfen.“
Die Dame nickte huldvoll. Tíjnje überlegte kurz. Dann nickte sie. „So sei es. Und nun schnell. Jeder mache sich reisefertig, so schnell es geht. Mögen die Mächte geben, dass Merrit und Osse nicht in einen Hinterhalt geraten sind.“
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