
Die Zuhörer waren aufmerksam. Galéon hatte das große Glück, an diesem Abend der einzige báchorkor zu sein, der in dieser Herberge vorgesprochen hatte. Nicht einmal ein Musikant oder Gaukler machte ihm Konkurrenz, was er als sehr angenehm empfand. Wahrscheinlich waren die Fahrenden längst allesamt auf dem Weg nach Wijdlant und ihm wenigstens einige Tage voraus. Kein báchorkor, der bei klarem Verstand war, würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, das Spektakel beim vasposár zu versäumen und später ins Weltenspiel herauszutragen.
Die meisten Anwesenden waren Durchreisende in geschäftlichen Dingen, Händler und wandernde Handwerker, die aus Virhavét kamen oder dorthin wollten. Nur wenige waren auf dem Weg zum vasposár. Ein einziger yarl mit kleinem Gefolge und seiner jungen Tochter war dabei. Vielleicht würde in den nächsten zwei Tagen Venghiár Emberbey hier einkehren. Eigentlich musste es sogar tun, wenn er sich nicht allzu sehr verspäten wollte.
Einen guten Vorsprung hatte Galéon mit dem Kind erreicht. Und so wie es aussah, war die Nachricht von Alsgör Emberbeys Tod ausgerechnet hier noch nicht angekommen. Vielleicht hätte tatsächlich die unglückliche Taube, die Beute des Falken geworden war, hier in dieser Wegestation landen sollen. Aber zu lange ausreizen durfte Galéon sein Glück nicht. Wie schnell konnte die Nachricht, die falsche Anklage, ihnen nun aus der anderen Richtung entgegenkommen.
An ein Nachtlager in der Herberge war also nicht zu denken. Aber das Pferd, das musste versorgt werden. Raýneta Emberbey würde sich gut darum kümmern, solange er die Leute lange genug ablenkte. Das Kind war klug und verantwortungsbewusst. Mochten die Mächte geben, dass nie etwas ihr kleines klares Herz eintrübte und einst eine gütige und gerechte yarlara auf Emberbey waltete.
Galéon war gern eingelassen worden und hatte den im Gastraum versammelten Menschen seine Geschichten angeboten. Er hatte in all der Zeit so viele spannende, lustige und romantische Erzählungen gesammelt, dass für den Geschmack aller Anwesenden genug dabei war. Nachdem das vasposár ein Thema war, das sie alle interessierte, hatte er die Leute mit einer erstaunlichen Geschichte um einen tollkühnen Handwerksburschen entschieden. Eine, die den jungen Mann durch eine Kette von Zufällen und Verwechslungen unter die Wettkämpfer bei einem Turnier verschlug und der das Herz einer adligen hýardora gewann.
Die Leute waren amüsiert und lauschten aufmerksam. Das brachte ihm eine warme Mahlzeit ein. Der yarl und ein spendabler Tuchhändler aus Forétern, der dem Hochedlen nicht Nachstehen wollte, hatten ihm sogar ein paar Kupfermünzen zugesteckt. Die Leute wollten mehr hören.
„Lass ihn eine Weile!“, hatte die gutmütige Gastwirtin sich Gehör verschafft und ein Tablett mit Brot, einem Rest Käserand und ein Mus aus Hafer und Rüben und für ihn herangeschafft. „Er ist sicher den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und muss sich stärken.“
„Ihr sollt mehr bekommen“, versprach Galéon in die Runde. „Wenn ihr wollt, weihe ich euch in heimliche Begebenheiten ein, die sich in der lüsternen Hitze in Aurópéa zutragen. Sobald Pataghíu seinen Blick für die Nacht abwendet.“
Diese Aussicht gefiel den meisten. „He!“, rief einer der vendyray. „Gebt dem Burschen einen Krug gutes Bier, dass ihm die Stimme dafür nicht eintrocknet!“
Die Leute lachten und eines der Schankmädchen eilte mit einem Humpen herbei. Galéon dankte und zog sich mit dem Essen und Getränk zurück. Etwas abseits, unter der Treppe, die in das obere Stockwerk der Herberge führte, war neben ein paar kleinen Fässern, Töpfen und anderem Kleinkram ein Tischchen mit zwei Hockern abgestellt. Einer davon etwas wackelig, der andere mit einer abgeschlagenen Kante an der Sitzfläche. Hier konnte er sich zurückziehen, ungestört essen und einen Moment aus der Aufmerksamkeit der Leute entweichen.
Das Brot duftete gut und war fast noch etwas warm vom Ofen. Der Käse war hart und von Salz beschlagen, aber ohne Schimmel. Man versuchte also nicht, ihm hier Verdorbenes unterzuschieben. Galéon trank einen Schluck, schaute sich dann vorsichtig um und förderte ein sauberes Tüchlein aus seinem Gürtelbeutel hervor, um beides für Raýneta einzupacken.
Als Galéon wieder aufblickte, war er nicht mehr allein am Tisch.
Der Schreck fuhr ihm durch Geist und Glieder wie ein eisiger Blitz. Doch hier, unter der Treppe, mit all den arglosen Menschen ringsum – was konnte er tun, außer seine Würde zu wahren?
„Wo kommt Ihr her?“, fragte der báchorkor.
„Aus dem Schatten. Woher denn sonst?“
„Ich habe Eure Gegenwart nicht bemerkt.“
„Nun“, antwortete der Schwarze Meister, „Ich habe gelernt, mich anzuschleichen. Lautlos wie eine Eule und unauffällig wie ein Wiesel.“
„Und bescheiden wie ein Prachtvogel, wie ich sehe.“
Der Schwarze Meister lächelte und neigte sich über den Tisch. „Bist du nachtragend, Rotgewandeter?“
„Weil Ihr mir einen Pfeil durch den Leib gezogen habt? Nein. Ich habe schon weit gröbere Behandlung erfahren.“
„Gut. Dann können wir wohl ungestört miteinander reden.“
„In einem Wirtshaus voller unkundiger Menschen? In einem Raum, in dem Frauen anwesend sind, denen Euer Anblick den Verstand versengt?“
Der Schwarze Meister warf mit nachlässiger Geste einen Zauber in den Raum. Galéon konnte wahrnehmen, wie Magie von der Treppe hinab glitt, wie ein sanfter Wasserfall. Wie ein Vorhang senkte sie sich vor unkundigen Blicken und verbarg, was unter der Treppe geschah.
„Nichts liegt mir ferner, diese Leute mit meiner Anwesenheit zu behelligen. Aber die Neugierde treibt mich in diese Öffentlichkeit. Ich habe Fragen.“
Galéon musterte sein Gegenüber misstrauisch. Hier, im schummerigen Licht der Gaststube, konnte er den Schattensänger besser erkennen als in der vergangenen Nacht auf der Salzgraswiese. Was er sah, befremdete ihn. Es weckte eine Erinnerung, ganz zart und tief verschüttet in seinem Bewusstsein. Wie anziehend und ebenmäßig er war, wie elegant und bestrickend sein Gehabe. Der warme, betörende Klang seiner Stimme. Wie erschreckend er jemand anderem ähnelte.
„Wenn ich Euch Auskunft geben kann“, sagte Galéon und griff vorsichtig nach seinem Humpen, „dann fragt einfach zu.“
„Was mich am meisten umtreibt, ist Folgendes: Wer bei allen Mächten bist du?“
„Man nennt mich Galéon. Was ich bin, scheint Ihr zwischenzeitlich zu wissen.“
„Bist du ein Meister?“
„Ja. Aber Ihr müsst Euch dessentwegen nicht die Zunge verrenken.“
„Du weißt, wer ich bin?“
„Haltet Ihr mich für einfältig?“
Der Schattensänger schaute nachdenklich auf die Musschüssel. „Nein. Nein, ganz im Gegenteil. Es bedarf großer Diszplin, Magie so zu verbergen, dass selbst ich mich täuschen ließ. Ich bin beeindruckt.“
Das muntere Geplapper und Gelächter aus der Gaststube klang dröhnend laut und doch irgendwie gedämpft unter die Treppe. Irgendwo außerhalb der Mauern klaubte ein kleines Mädchen Heu für ein gestohlenes Pferd zusammen. Galéon verfluchte sich. War es wirklich so klug gewesen, sie allein zu lassen?
Der Schattensänger griff beiläufig nach der Musschale und wedelte sich mit der Hand den Duft zu. „Das riecht gut. Vielleicht sollte ich mir auch eine Portion davon bringen lassen.“
„Was? Ihr seid hungrig?“
„Warum nicht? Aber zunächst zu Wichtigerem. Du faszinierst mich, Rotgewandeter. Wer war dein Meister? Wessen Schwert führst du fort?“
„Lasst das Schwert aus dem Spiel. Und warum sollte ich meinen Meister an Euch verraten? Er ist jenseits der Träume.“
„Welchen Grund hast du dann, darüber zu schweigen? Hinter den Träumen ist er sogar vor mir sicher.“
Galéon zögerte. Wie wahrscheinlich war es, dass der Schattensänger nicht zumindest ahnte, wessen Schüler er war?
Der Schwarzgewandete stellte die Schüssel zurück. „Lass uns ehrlich miteinander sein. Wenn du ein Lichtwächter bist und kein von yarl Ferocrivé bezahlter Meuchelmörder – dann bist du gekommen, um yarl Emberbey hinter die Träume zu geleiten. Weil es seine Zeit war?“
„Unter anderem.“
„Unter was anderem?“
Galéon schaute sich um. Ohne das Schwert saß er in der Falle. Ausweichen und fortlaufen, das war keine Option. Nicht vor all diesen arglosen, unbeteiligten Menschen. Auf gar keinen Fall durfte der Schattensänger sich für jemand anderen interessieren als für ihn.
„Es würde Euch nichts nützen, es zu wissen. Aber vielleicht gebe ich Euch einen kleinen Hinweis, wenn Ihr nun mir auch einige Fragen beantwortet.“
„Vielleicht bin ich in der Laune dazu.“
„Gut. Was habt Ihr mit Venghiár Emberbey vor? Was treibt Euch aus den Tiefen der Zeit zurück ins Weltenspiel, um einen rangniederen Provinzadligen zu verführen?“
„Sicher warst du auf deinen Reisen einmal im fernen Ivaál, nicht wahr?“
„Was hat das mit dem Haus Emberbey zu tun?“
„In Ivaál gibt es dieses kurzweilige Spiel mit Mosaiken. Für jeden Spieler ergeben die Steine ein anderes Bild, wenn man sie in der rechten Weise gegeneinander verrückt. Venghiár Emberbey ist ein solcher Stein, der an eine andere Stelle muss, damit mir das Bild gefällt.“
„Ich kenne das Spiel. Aber für wen und warum schiebt Ihr die Steine?“
„Für wen tust du es? Und was fällt dir ein, das Kind zu stehlen?“
„Hätte ich zulassen sollen, dass ihr ungestümer Weitvetter sie in kopfloser Wut ermordet?“
„Mitgefühl? Von einem Rotgewandeten?“
„Wenn Ihr es so nennen wollt?“
„Und nun hängt die Kleine an dir wie ein Fußblock und hindert dich am Fortkommen. Es scheint, dass es auf ein kleines Wettrennen hinausläuft, was immer du dir am Ziel versprichst. Da ist so ein Klotz am Bein natürlich hinderlich. Und dabei könnte es so einfach sein.“
„Was könnte einfach sein?“
„Machen wir uns nichts vor. Und schwindeln wir einander nicht an. Du siehst mich überrascht, einen von deinesgleichen in dieser Zeit, in dieser Sphäre anzutreffen. Ich war davon ausgegangen, deinesgleichen ausgelöscht zu haben. Offenbar ist mir doch noch jemand entkommen, von dem ich nicht wusste und von dem ich nichts ahnte.“
„Das wird wohl so sein.“
„Gor Lucegath ist also hinter den Träumen?“
Galéon zuckte zusammen. Fest umschloss er den Humpen mit beiden Händen, damit kein Fingerzittern ihn verriet.
„Wie kommt Ihr ausgerechnet auf Meister Gor?“
„Er ist der Einzige, dem ich zutrauen würde, sich einen Schüler heranzuziehen, vor dem selbst ich mich in Acht nehmen müsste. Und er war, je mehr ich darüber nachdenke, der Einzige, dessen Leichnam ich seinerzeit nicht mit eigenen Augen gesehen habe.“ Der Schattensänger lächelte. „Seine Spur verlor sich damals in den Weiten von Soldesér. Ich nahm an, die Wüste oder das Chaos habe sich seiner angenommen. – Dein Mus wird kalt. Es stört mich nicht, wenn du isst, während ich dir mein Angebot unterbreite.“
„Angebot?“
„Nur einmal angenommen, du bist der Schüler von Gor Lucegath, der unversehens meinen Weg gekreuzt hat. Bist du nicht frei in dem, was du tust und entscheidest?“
„Und?“
„Ich mag es, wenn ich die Mächtigen auf meiner Seite habe statt gegen mich. Gor hat das begriffen. Er war ein ausgesprochen intelligenter Mann und beeindruckender Magier. Schade, dass er sich auf so unschöne Art von mir losgesagt hat. Wir hätten gemeinsam Vortreffliches bewirken können.“
„Angenommen, ich wäre der Schüler von Gor Lucegath. Angenommen, mir wäre es einerlei, mit wem ich paktiere und was ich ignoriere und zulasse. Was ist Euer Ziel? Was wollt Ihr mit dem Verschieben von Menschenmosaiken diesmal erreichen? Das Widerwesen ist ins Chaos verbannt und Ovidáol Etaímalar ist endgültig besiegt.“
„Ist er das?“
„Ja. Ich kann es bezeugen.“
„Schade. Aber Menschen tun Menschendinge. Ach … welch nützliche Dinge können selbst unkundige, Dummköpfe wie Venghiár Emberbey vollbringen.“
„Ihr seid ein Magier“, sagte Galéon. „Und ein Schattensänger noch dazu. Was an Menschendingen gibt es, was Euch reizt? Reichtum kann es nicht sein. Lust und Liebe noch viel weniger. Macht? Bleibt etwas anderes als Macht? Aber worüber? Und zu welchem Zweck?“
„Es gefällt mir, dass ich offenkundig dein Interesse geweckt habe.“
„Mein Interesse vielleicht, aber noch lange nicht mein Wohlwollen. Euer Freund und Verbündeter werde ich auf diese Weise nicht.“
„Ich danke dir für deine Ehrlichkeit, Galéon, Schüler von Gor Lucegath. Bedauerlich, dass ich dich unter diesen Umständen nicht am Leben lassen kann.“
„Warum denn nicht?“
Der Schwarzgewandete erhob sich. „Ganz einfach. Ich müsste ständig befürchten, dass du mir quer durch mein Mosaik stolperst und das ganze Bild ruinierst.“
Galéons Herz klopfte bis zum Hals. Aber das durfte er sich nicht anmerken lassen. Betont gelassen nahm er die Schüssel und den Löffel zur Hand. Das Mus schmeckte gut, scharf und sämig. Er ließ sich Zeit und aß ein paar Mundvoll. Der Schwarzgewandete beobachtete ihn ohne Ungeduld. „Ihr solltet wissen, dass Ihr mich nicht töten könnt. Habt Ihr den Pfeil schon vergessen?“
„Mit einem Pfeil kann ich dich nicht töten, das stimmt. Aber das Werkzeug, das ich dazu brauchte, das kann ja nicht weit weg sein. Oder denkst du, ich könnte mir nicht zusammenreimen, was es damit auf sich hat?“
„Was…“
„Yal!“
Der Schattensänger hatte es nur gewispert und dabei sacht die Hand gehoben, aber der Bann flutete von seiner maghiscal aus wie eine Stichflamme. Galéon hatte keine Möglichkeit, auszuweichen. Der Bann schleuderte ihn mitsamt dem Hocker gegen die Unterseite der Treppe und in den Winkel.
Gehört oder gesehen hatte das niemand. Das muntere Plaudern und Klappern von Tellern und Krügen klang ohne Aussetzer weiter. Niemand bemerkte, was hinter dem Vorhang aus Magie geschah. Galéon zuckte lautlos am Boden. Jeder Muskel an seinem Körper war bretthart und steif.
„Keine Sorge“, sagte der Schwarze Meister. „Ich weiß genau, was ich tue. Solange mein Zauber diesen Bereich umspannt, wird sich niemand daran erinnern, dass du da bist. Ich bin mir sicher, dass dir das kleine Mädchen nicht abhandengekommen ist. Sie wird wissen, wo dein Schwert ist. Das werde ich finden. Du solltest die Zeit nutzen, dich den Mächten zu befehlen. Bis dahin wirst du wohl bei Venghiar Emberbey in besten Händen sein!“ Er neigte den Kopf. Eine Welle pulste über seine maghiscal hinweg und legte einen Zauber über seine Kleidung. Über das elegante schwarze Gewand mit dem silberbestickten Mantel legte sich ein Trug, in grober Wolle und Leinen in gedecktem Gelb. Das Wappen der Familie Emberbey mit den drei Fischen war nicht zu übersehen. Sogar aus dem breitkrempigen Hut wurde für unkundige Augen eine einfache Kapuze.
„Wie überraschend“, sagte der Schwarze Meister, „den dreisten Verbrecher hier vorzufinden, noch bevor ich meine Botschaft überbringen konnte.“
Galéon nahm alle Kraft zusammen. So leicht sollte der Schwarze Meister es nicht haben. Mit aller Macht versuchte er, den Bann zu sprengen. Aber es gelang nicht.
„Streng dich nicht allzu sehr an. Der Zauber ist verankert wie eine Kette an der Wand. Ich lasse dich nicht entwischen. Aber ich muss es vor Zeugen tun.“
Er verneigte sich und verschmolz mit dem Dunkel unter der Treppe.
Galéon seufzte auf und schloss die Augen. Wie ein kleines Kind hatte er sich überrumpeln lassen. Nun war Raýneta dem Schattensänger ausgeliefert. Wahrscheinlich würde er sie nicht einmal dazu zwingen müssen, ihm Antworten zu geben. Jeder Schattensänger konnte Gedanken hören. Und diesmal wusste Raýneta, wo das Schwert war. Galéon hätte vor Wut schreien wollen und sich selbst ohrfeigen. Aber nicht einmal das war möglich. Der Bann des Schattensängers umklammerte ihn wie Eisenschellen.
In der Schankstube schien sich niemand an die frivolen Geschichten aus Ivaál zu erinnern und danach zu verlangen. Aber wie hatte der Schattensänger es vollbracht, Magie an den Ort zu heften?
Galéon starrte zum Tisch. Dort stand die Schüssel und dampfte noch ein wenig.
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