In der Herberge war es ziemlich voll. Männer und Frauen, einfache Leute und erstaunlich viele Edle saßen dicht gedrängt an den Tischen, aßen, tranken und unterhielten sich angeregt miteinander. Die Küchenknechte und Mägde liefen eifrig mit Tellern, Schüsseln und Krügen umher. Das Essen war gut und die Getränke auch. Der báchorkor, der versuchte, die Gäste zu unterhalten, der ließ etwas zu wünschen übrig.

„Langweilig“, urteilte Jándris schließlich. „Die Geschichte hab ich schon hundertmal und besser gehört. Ob der auch zum vasposár will?“

„Die wollen alle dorthin“, sagte Merrit. „Ich wette, derweil ist es in den anderen yarlmálon wie ausgestorben.“

Sie aßen, ein einfaches, aber sehr gutes Mahl, Kraut, Zwiebelbrot mit Suppe, gut gewürztes Mus aus Bohnen und Getreide. Der Ritt durch die endlosen Felder des yarlmálon Grootplen hatte sie ermüdet, obwohl er ereignislos und uninteressant gewesen war. In der Hauptsache hatten sie vereinzelte Großgehöfte inmitten riesiger Äcker gesehen, die zu dieser Zeit abgeerntet, aber noch nicht neu bestellt waren. Am Abend waren sie planmäßig an der großen Herberge zwischen Grootplen und Wijdlant angekommen. Hier überschnitten sich viele Straßen. Entsprechend war diese Herberge sehr geräumig, dann hier kamen Reisende aus allen möglichen Richtungen vorbei.

Die jungen Ritter und Osse saßen am Rand des großen Speisesaals in einer mit Bretterwänden abgetrennten Nische. Es gab mehrere kleinere, separate Tische für höhere Herrschaften. In der Saalmitte speisten Leute an langen Tischen und Bänken.

„Schaut mal, der da gegenüber. Der Glatzkopf bei der Dame mit der pelzverbrämten Haube.“ Láas neigte sich zu den anderen vor. „Was für ein Muskelberg! Wer ist das?“

„Wie sieht sein Wappen aus? Ich mag mich nicht ungebührlich umdrehen und ihn anstarren.“ Osse brach Bröckchen von seinem Brot ab und tunkte damit von der salzigen Käsesoße auf seinem Teller auf.

Jándris schwang sein Bein über die Bank, setzte sich seitlich hin und kniff spähend die Augen zusammen. „Rot auf Schwarz“, sagte er dann. „Ich glaube, das ist ein Waldbär mit einer Keule in den Tatzen.“

„Es ist ein Streitkolben“, berichtigte Osse, ohne aufzusehen. „Das ist dann wohl der yarl von Robsténar.“

„Robsténar?“, staunte Láas. „Von so weit her?“

„Von dem habe ich gehört.“ Merrit nahm dankend ein Schälchen weißen Essigkohl von einer der Küchenmägde entgegen. Das Mädchen war nicht älter als dreizehn Sommer, drall und furchtbar aufgeregt. Unter ihrer frisch gestärkten Haube errötete sie so sehr vor Verlegenheit, dass ihre Sommersprossen verblassten. Sie griff eine leere Schale und eilte damit zurück in die Küche. Gedämpft hörte Osse die jungen Mädchen dort kichern.

„Ich wette, die werden noch ihren Enkelkindern von dem Tag erzählen, an Merrit Althopian diesen Ort beehrte, um den vorzüglichen Kohl zu genießen.“ Jándris schüttelte ironisch den Kopf. „Du wirst heute Nacht in jeder Menge Mädchenträume sein.“

„Rede keinen Unfug.“

„Merkst du es denn nicht? Die reißen sich darum, dich zu bedienen. Sie räumen die Schüsseln einzeln ab, um immer wieder herkommen zu können.“

„Vielleicht meinen sie dich.“

„Das mögen die Mächte verhüten!“ Jándris tat entsetzt. „Tíjnje würde sich die nächste Bratpfanne greifen und in der Küche aufräumen.“

„Was ist nun mit diesem yarl Robsténar?“, lenkte Láas ab.

„Man erzählt, es sei sehr ehrgeizig und unerbittlich.“ Merrit rührte sein Kraut mit dem Löffel um. Dabei blickte er zwischen Láas und Jándris hindurch hinüber an dem Tisch, wo der yarl saß und sich seiner Suppe widmete. Die Dame schien gelangweilt. Sie versuchte, über das Stimmengewirr der Leute dem báchorkor zuzuhören. Gekleidet war sie in feines, moosgrünes Tuch, aber sie trug ein blassrotes Überkleid mit glitzernd bestickten, schwarzen Borten. „Wenig Technik, massig Ausdauer und Kraft wie sein Wappentier. Wenn wir nicht aufpassen, wischt der mit uns den Boden auf.“

„Du meinst, er tritt beim Turnier an?“ Jándris setzte sich wieder ordentlich hin. Ein bisschen beunruhigt wirkte er schon.

„Hast du etwas Angst?“

„Ich? Red keinen Unsinn, Láas. Aber er hat doch schon eine hýardora dabei! Und er ist viel älter als wir!“

„Das könnte auch seine Schwester sein“, sagte Osse. „Wenn ich richtig informiert bin, ist Robsténar noch ohne Dame. Allerdings dauert es seine Zeit, bis Nachrichten in Ivaál ankommen.“

„Warum sollte der seine Schwester durchs halbe Weltenspiel zu einem Turnier schleppen?“

„Vielleicht ist sie der Grund für seine Teilnahme. Möglicherweise hofft sie, einen hýardor zu finden, und er begleitet sie, wie es sich für einen älteren Bruder geziemt. Oder er will sicherstellen, dass wenigstens eine Dame dabei ist, die für ihn mitfiebert.“

„Vielleicht prügelt er sich auch einfach gern mit halbgaren Gesellen wie unsereinem.“

„Immerhin gilt er bei aller Rohheit als ehrenhaft. Soweit ich weiß, ist noch niemand durch seine Hand – oder Keule – auf dem Platz geblieben.“

„Woher weißt du so viel über den Kerl, Eulengesicht?“

Osse lächelte. „Jándris, ich wäre ein schlechter mynstir, wenn ich nicht wüsste, mit wem es einmal zu Bündnissen oder Zerwürfnissen kommen könnte. Mögen die Mächte Letzteres verhüten und ihr euch allezeit nur zur allgemeinen Unterhaltung einander verbläuen.“

„Mögen die Mächte geben, dass du dich allezeit von der Tribüne hinab über uns lustig machen kannst, Osse Emberbey. Die Sommer in Ivaál haben dich ganz schön frech gemacht.“

Osse legte sein Brot nieder und schaute streng in die Runde.

„Mögen die Mächte es niemals so kommen lassen, dass ich zu Manjévs Schutz auch nur einen von Euch einmal in ein echtes Gefecht schicken muss. Gedenkt Eurer Großväter und Urgroßväter, für die das alles noch ganz anders aussah.“

Nun waren die drei schweigsam. Osse seufzte. Die unbeschwerte Laune der drei hatte er nicht so drücken wollen. Stumm löffelten die Ritter ihr Gemüse.

Der junge Mann schaute hinüber zu dem Tisch, an dem Tíjnje, ihre Großmutter und mehrere ebenfalls reisende Edeldamen Platz gefunden hatten. Der Tisch stand auf einer kleinen Empore, von der aus eine Tür direkt zu den Stuben führte, die den Frauen vorbehalten waren. Stellwände trennten die Damengesellschaft von dem Rest der Gaststube ab und gewährten den Frauen so etwas privaten Raum. Ein ältlicher Musiker saß bei den Damen und klimperte belanglose Weisen auf einer Harfe. Dass ihm jemand zuhörte, erwartete den Mann wohl nicht, denn die Damen waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Man hatte ihnen exquisite Speisen auf irdenen Tellern  serviert und kristallene Kelche, in denen fast tintenblauer Beerenwein funkelte. Die Stimmung war angeregt. Die jungen Mädchen plapperten und kicherten untereinander und schienen sich prächtig zu amüsieren.

Das Gesinde aus Grootplen hatte sich unter den Gästen im Saal verteilt. Die Herberge war groß, bot sicher mehr als hundert Gästen zugleich Platz. Für Wohlbetuchte gab es tatsächlich getrennte Zimmer. Alle anderen mussten mit Strohmatratzen in einem der beiden großen Schlafräume vorliebnehmen.

Nun, vielleicht brauchten nicht alle Matratzen. Von einem der langen Gemeinschaftstische in der Nähe erhob sich Tridna. „Ich muss mal schauen, ob bei meinem Esel alles in Ordnung ist“, sagte sie, etwas zu laut zu den anderen und ging dann, ohne Eile, an dem Nischentisch der Ritter vorbei. Unverbindlich lächelte sie zu ihnen hin und verließ dann den Speisesaal. Mehrere Männer, die in der Nähe saßen, schauten ihr gefällig nach. Einer, ein unauffälliger Bursche in schlichter grauer Wollkleidung, schien besonders interessiert.

Láas schob seine Schüssel von sich. „Ich werde auch mal nach meinem Pferd sehen“, sagte er. „Er schien mir recht erschöpft, vorhin.“

Er nickte seinen Freunden zu und ging fort.

„Den sehen wir heute nicht mehr wieder“, kommentierte Jándris gleichmütig und angelte sich den Brotrest, den Láas zurückgelassen hatte. „Der hat anregendere Gesellschaft, heute nacht.“

„So sehr ich den beiden ihr Herzensglück wünsche“, fragte Osse leise, „wie wird er es seinen Eltern erklären?“

„In aller Ruhe. Nur nichts überstürzen und den richtigen Moment abwarten. Tíjnje macht das schon. Und Manjév wird keine Bedenken haben.“ Merrit trank einen Schluck.

„Tíjnje?“

„Osse, du hast lange Zeit die Kunst hoher Diplomatie studiert. Aber für die wirklich wichtigen Dinge braucht man Tíjnje.“

„Es beruhigt mich, dass ihr mich nicht in diese Dinge hineinzieht.“

„Für Tridna legen wir alle die Hand ins Feuer. Die ist nicht darauf aus, eine yarlara zu werden. Die will Láas glücklich machen, und er sie.“

„So bleiben doch mehr yarlara für dich, Eulengesicht. Wie wäre es? Wenn die Schwester von diesem yarl Robsténar noch nicht vergeben ist … au! Was trittst du mich, Merrit?“

„Halt deine vorlaute Zunge im Zaum“, antwortete Merrit ungerührt und aß eine Stück Dörrobst aus dem Schälchen für den Nachtisch. „Mach du weiter deiner Tíjnje den Hof. Vielleicht würde sie sich über einen Spaziergang im Mondschein freuen. Nur zu!“

Jándris spähte zur Empore hinauf und seufzte. „Niemals. Gegen diese schnatternde Gänseschar hab ich keine Chance. Vielleicht sollte ich mir auch eine Harfe zulegen.“

„Das mögen die Mächte verhüten!“

„Entschuldigt mich“, sagte Osse. „Ich muss vor die Tür. Ohne holde Begleitung.“

Merrit erhob sich wortlos.

„Was hast du vor?“

„Ich begleite dich.“

„Merrit, ich glaube, das kann er auch allein,“ witzelte Jándris.

„Wir haben Manjév versprochen, ihn nicht aus den Augen zu lassen.“

„Merrit, hier sind wir sicher. Hier will niemand unserem Eulengesicht ans Leben.“

„Möglich. Aber sicher ist sicher.“

„Und was mache ich?“

„Du bleibst hier. Wenn gerade jetzt Tíjnjes Bote auftauchen sollte, muss er einen von uns antreffen. Wir sind gleich wieder zurück.“

Osse bahnte sich einen Weg durch die Gaststube. Ein wenig albern kam es sich vor, andererseits war Merrits Anwesenheit so beruhigend, fühlte sich so gut an. Nein, zurückschicken wollte er ihn nicht. Er nickte dem Grootplen’schen Gesinde zu, das über Tridnas andauernde Abwesenheit nicht weiter beunruhigt zu sein schien. Auch andere schienen menschlichen Bedürfnissen nachgeben zu wollen. Der Mann mit dem Wollmantel erhob sich gerade und ging eilig zur Tür, wo im zugleich zwei andere junge Burschen wieder eintraten. Es gab eine kurze, beiläufige Rempelei.

„He!“

Merrit blieb stehen. Der yarl mit dem schwarzroten Bärenwappen hatte sich erhoben, als sie seinen Platz passierten. Er musterte Merrit von Kopf bis Fuß, ungefähr so, als begutachte er ein interessantes Pferd.

„Euer Abzeichen kenne ich. Ihr seid Merrit Althopian, was?“

„Derselbe.“

„Ich bin Bjöngsten Robsténar.“ Er klopfte mit der Faust gegen seine Schulterplatte. Merrit erwiderte den Gruß mit etwas weniger Geschepper. Umsitzende wurden aufmerksam.

„Seid gegrüßt, Herr Bjöngsten. Edle Dame?“ Merrit verneigte sich vor der Frau. Sie nickte ihm huldvoll zu. „Ihr seid unterwegs zum vasposár?“

„Meinen Opa“, sagte yarl Robsténar und schob sein breites Kinn vor, „den hat Euer Großvater mal aus dem Sattel geholt. Vor den Augen seiner teiranda.“

„Das wird sicherlich schieres Glück gewesen sein“, sagte Merrit bescheiden. Der weit gereiste Ritter war einen guten Kopf größer als er und hatte Hände, mit denen er sicherlich die Hufeisen für sein Ross selbst zurechtbiegen konnte.

„Diesmal seid Ihr an der Reihe. Ich werde Euch vom Pferd schmettern, dass Eure Kumpanei Euer Eisenzeug in Altabete einsammeln kann.“

„Bjöngsten“, mahnte die Dame. „Lass den jungen Herrn in Ruhe.“

„Ist Euer hýardor immer so herzlich?“, fragte Merrit an dem schwarzroten Ritter vorbei.

„Mein Bruder. Nein, edler Herr. So herzlich ist er nur, wenn er etwas zu starkes Bier genossen hat.“

„Ich verstehe.“

„Wäre er nüchtern“, fügte sie wohlmeinend hinzu, „hättet Ihr bereits eines aufs Haupt bekommen.“

Osse runzelte die Stirn und kam näher. „Herr Bjöngsten, versucht Ihr hier gerade, eine Drohung auszusprechen? Vor Zeugen?“

Der Ritter schnaufte. Bei näherem Hinsehen waren seine Augen leicht glasig.

„Und wer bist du, Jämmerling?“

„Ich bin yarl Osse Emberbey. Möglich, dass Ihr mich in den nächsten Tagen an der Seite der teirandanja wiederseht, als deren Gast Ihr anreist.“

„Lass es gut sein, Bjöngsten“, sagte die Dame und nötigte ihren Bruder, sich wieder hinzusetzen. „Eine Wirtshausschlägerei steht uns allen nicht gut zu Gesicht.“

Zu Osses Überraschung gehorchte der streitlustige Recke. Die Dame lächelte entschuldigend, aber doch so, als wolle sie betonen, dass sie hier die Vernünftige in der Runde war.

„Dank Euch, Frau .,.“

„Válgundra. Ich werde dafür sorgen, dass sich heute nicht mehr provozieren lässt, edle Herren.“

„Wir werden Herrn Bjöngsten aus dem Weg bleiben, so gut es geht. Kommt, Herr Merrit. Wir wollten doch ohnehin ins Freie.“

„Und vom Pferd haue ich ihn doch, den eitlen Grünschnabel“, murrte yarl Robsténar in seinen Bierkrug. „In hohem Bogen.“

Jándris hatte die Szene beobachtet und war beinahe so weit gewesen, sich einzumischen. Doch als er sah, dass sich die Sache entspannte, wandte er sich wieder Tíjnje zu. Die Damen schienen ihr Mahl beendet zu haben. Osse sah, wie die eld-yarlara dem klimpernden Harfenisten ein offenbar großzügiges Entgelt zusteckte. Der Geschichtenerzähler im Gastraum leierte weiter seine Erzählung herunter,

„Aber ich habe doch gar nichts gemacht!“, protestierte Merrit. „Was fällt dem Kerl ein?“

„Dein Großvater muss den alten Robsténar schwer beschämt haben“, sagte Osse, als sie endlich ohne weiteres Aufsehen im Freien waren. „Beachtlich, wie dir die Herzen deiner Gegner zufliegen.“

„Ach, der war betrunken. Ein Großmaul.“

„Trotzdem sollten wir ihn ihm Auge behalten, sobald wir in Wijdlant sind. Ich will dein Eisenzeug nicht einsammeln müssen.“

„Du bist ein wahrer Freund.“ Merrit lachte und legte Osse freundschaftlich den Arm um die Schulter. „Beeilen wir uns. Nicht, dass uns etwas zu Augen kommt!“

Auf dem Weg zu den Abtritten passierten sie den großen, halb offenen Stall. Hier und da raschelte es. Merrit räusperte sich und machte beim Gehen so viel Lärm, wie es ihm mit seiner leichten Alltagsrüstung möglich war. Augenblicklich verstummte es im Stroh.

Die Aborte waren etwas abseits vom Gasthaus mit den Ställen und Schlafsälen, ein luftiges Brettergebäude über einer Senkgrube. Ein langer Kasten, abgedeckt mit einem Brett und passenden Öffnungen erlaubte halbwegs komfortables Sitzen. Gerade schien niemand das Bedürfnis zu haben, denn es war nichts zu hören. Ein Licht mit einem ganz kleinen Flämmchen hing an der Tür, ein anderes stand daneben bereit, gerade hell genug, dass niemand in etwas Unappetitliches trat oder die Grube verfehlte.

„Du musst mich nicht hinein begleiten, Merrit“, mahnte Osse, denn Merrit schien entschlossen, eben dies zu tun.

„Dann werde ich jeden aufhalten, der dort hinein will“, scherzte Merrit und verschränkte grimmig die Arme. „Aber lass mich nicht zu lange warten, bevor noch Robsténar kommt. Den könnte ich nicht aufhalten, in seinem Drang.“

Osse schlüpfte durch die Tür. Das Bedürfnis, lange hier auszuharren hatte er ohnedies nicht. Dazu stank es viel zu sehr. Er beeilte sich, zu erledigen, was ihn hergeführt hatte. Er war gerade dabei gewesen, seine Hände im bereitstehenden Seifenwasser zu reinigen, als er hinter sich ein Geräusch hörte.

„Yarl Emberbey?“

Osse zuckte zusammen. Im Dunkel regte sich etwas.

„Auf Euch hab ich gewartet“, flüsterte eine Gestalt, die sich im hintersten Winkel des Schuppens verborgen gehalten hatte.

„Was wollt Ihr?“ Osse ging rückwärts einen Schritt zur Tür.

Die dunkle Gestalt kam auf ihn zu. „Euch!“

„Merrit!“, rief Osse aus.

Augenblicklich flog die Tür auf. Im nächsten Moment hatte Merrit den Mann am Kragen und zerrte ihn ins Freie und drückte ihn gegen die Wand. Zum zum Stoß bereit, hielt der Ritter seinen Dolch.

„Nicht!“ Der Mann hob abwehrend die Hände. „Hört mich an!“

Im Schein des Lämpchens erkannte Osse den Mann, der im Speisesaal Tridna hinterdrein geschaut hatte. Er schüttelte sich das Seifenwasser von den Fingern.

„Kerl“, zischte Merrit. „Gib mir einen Grund, dich loszulassen. Einen sehr guten.“

„Ich bin der Bote von Tíjnje Moréaval! Ihr wartet auf mich! Reicht das?“

„Kannst du das beweisen?“, fragte Osse.

„Natürlich!“

Merrit ließ von dem Mann ab. Den Dolch behielt er noch in der Hand. Der Bote förderte einen Brief zutage und reichte ihn Osse mit zitternder Hand. „Hier, Herr. Lest selbst!“

Merrit nahm das Flämmchen aus seiner Halterung, Osse brach das Siegel auf und überflog die Zeilen.

„Er sagt die Wahrheit. Das ist der Brief der teirandanja, der uns zu unserer Pflicht ruft..“

„Warum lauerst du Herrn Osse hier auf?“

„Es … erschien mir sicherer, Herr.“

„Sicherer? Für wen?“ Merrit steckte den Dolch wieder ein.

„Du hast die ganze Zeit mir uns und mit Frau Tíjnje im selben Raum gesessen, Warum hast du uns den Brief nicht einfach bei Tisch gegeben, als wir eingetroffen sind?“

„Ja, genau. Das wäre doch sehr viel glaubwürdiger gewesen.“ Merrit schüttelte missbilligend den Kopf. „Was sollen wir jetzt tun? Der eld-yarlara erklären, dass wir zufällig beim austreten einen herrschaftlichen Boten aus Wijdlant mit einer eiligen Botschaft von der teirandanja getroffen haben?“

„Nein“, sagte der Mann. „Es sind keine Erklärungen nötig. Lasst diesen Brief als Beweis bei Eurer Kumpanei und kommt unverzüglich mit mir. Holt Euer Gepäck und säumt nicht. Es eilt.“

„Das erklärt umso weniger, weshalb du den Brief nicht sofort im Gastraum ausgehändigt hast.“

„Ihr versteht nicht, edle Herren.“ Er schaute sich misstrauisch um und winkte die beiden yarlay näher heran. „Es sind … Spione im Saal“, flüsterte er.

„Wessen Spione?“

„Ich weiß nicht, Herr! Ich wurde verfolgt, als ich herkam, aber ich konnte sie abhängen. Es scheint, dass jemand vom Brief, von der Mission weiß.“

„Und wer soll das sein?“

„Ich weiß es nicht. Es könnten alle und niemand sein. Ein schlechter Spion wäre es, gäbe er sich zu erkennen.“

„Du hast dich auch noch nicht zu erkennen gegeben.“

„Výnrath ist mein Name. Und nun beeilt Euch, bevor noch jemand bemerkt, dass Ihr abwesend seid.“

„Nun gut. Tatsächlich haben wir auf dieses Signal gewartet. Ich hole mein Leibgepäck.“

„Und ich mein Rüstzeug.“

„Hervorragend, edle Herren. Ich warte vor dem Stall auf Euch.“

„Wozu willst du auf uns warten? Du hast uns den Brief gegeben, der unseren übereilten Aufbruch erklärt. Wir kennen den Weg von hier nach Wijdlant. Ich reite alle paar Monde hier entlang. Du hast deinen Auftrag erfüllt.“

„Oder hat Frau Tíjnje dich noch nicht entlohnt? Wenn du dich sputest, ist sie noch im Saal.“

„Nein. Nein, das ist es nicht. Aber wenn ich ohnehin nach Wijdlant will, wäre es dann nicht dumm, nicht gemeinsam zu reisen, edle Herren?“

„Komm, Osse.“ Merrit fasste den Freund am Arm. „Wir vergeuden Zeit.“

„Ich warte auf Euch.“

Die beiden yarlay gingen zurück zum Gasthaus. Tatsächlich lief er ihnen nicht nach.

„Ein komischer Geselle“, murrte Merrit, „Traust du ihm?“

„Die Geschichte mit den Spionen glaube ich ihm nicht. Aber wer sonst sollte an Tíjnjes Brief und Siegel kommen?“

„Vielleicht hat Tijnje ihm eine Gefahr eingeredet?“

„Wir fragen sie.“

Aber in der Gaststube war es zwischenzeitlich etwas leerer geworden. Die Damen hatten sich zurückgezogen. Auch yarl Robsténar und Frau Válgundra waren nicht mehr zu sehen. Der langweilige báchorkor kämpfte beim Kamin um die letzten Zuhörer. Dafür war Láas wieder da.  Als Merrit und Osse an den Tisch kamen, trabte von irgendwoher das sommersprossige Mädchen mit einem Krug blauem Wein heran.

„Der Brief ist da“, sagte Osse und gab ihn Jándris. „Der Bote hat einen sehr ungewöhnlichen Übergabeort gewählt. Wir brechen sofort auf.“

„Warum hat der Bote denn nicht…“

„Weil er es unnötig umständlich haben wollte. Jándris, du erklärst den Damen morgen früh, dass wir voran geritten sind. Zeig ihnen den Brief.“

„Verstanden.“

„Und nehmt Euch in Acht. Es könnten Spione, Verschwörer oder sonst etwas in der Nähe sein. Oder der Bursche ist einfach zu sehr in Tíjnjes Abenteuer verstrickt.“

„Was? Spione von wem? Und warum? Wir sind doch alle ganz offiziell hier.“

„Láas und Tíjnje. Wir anderen nicht. Aber ich glaube nicht, dass Herr Andriér oder mein Vater uns Spitzel hinterherschicken. — Láas, du hast Stroh im Haar. Aber ich brauche dich. Hilf mir mit meinem Eisenzeug. Jándris, du machst die Pferde bereit. Hol dir von den Grootpleen-Knechten Hilfe, falls da noch jemand wach und nüchtern ist. Ihr kümmert euch morgen um seinen Hausrat.“

„Natürlich.“

„Gut.“ Merrit nahm einen Schluck von dem Wein. „Bei den Mächten. Was gäbe ich darum, wieder in Wijdlant zu sein.“

Die vier Ritter machten sich geschäftig an den Aufbruch, ganz so, wie es geplant war. Der Bote Výnrath wartete, wie versprochen, draußen vor dem Stall mit seinem zähen, braunen Kurierpferdchen und ging ihnen beim Satteln und aufladen zur Hand. Noch bevor Noktámas Juwel sich wieder dem Meer zuneigte, waren Osse, Merrit und der Mann im Wollmantel auf dem Weg nach Nordosten.

In der Sickergrube hinter der Herberge, unter dem losen Brett, in der tiefen Dunkelheit nicht gleich zu bemerken und schon bedeckt von Notdurft und Blut lag der Bote. Der echte, dem Tíjnje Moréaval den geheimen Brief anvertraut hatte. Und war tot.