Pataghíus Glanz senkte sich dem Meer entgegen. Es würde noch eine Weile dauern, bis er den Horizont berührte. Aber wenn es so weit war, dann würde das Feuer des Himmels das Wasser aufglühen lassen, wie Honig oder flüssiger Bernstein würde das für einige Augenblicke aussehen. Ein Spektakel, welches nur an dieser Stelle der Küste in dieser Form zu sehen war. Alsgör Emberbey hatte es gern betrachtet, wenn er auf seiner Burg anwesend war. Und sogar die Mutter, die in Rodekliv geblieben und auf gute Kunde von Ihrem Sohn wartete, hatte zuweilen das goldene Wasser erwähnt: Obwohl sie selbst es nur aus den Erzählungen der Großmutter kannte. Jener Mejra Emberbey, die er selbst nicht kennengelernt hatte.

Venghiár Emberbey wischte den Gedanken beiseite. Die nutzlose Schönheit des Meeres war weit weniger interessant als die Bucht und die Burg und das Ansehen. Und was tat es? Alsgör Emberbey würde den Anblick ohnehin nicht mehr genießen, zumindest nicht von dieser Seite der Träume aus.

„Was treibt ihr da?“, herrschte Venghiár die beiden Frauen und den Mann an, auf die er auf dem Weg an den Strand aufmerksam geworden war. Um zu der in den Stein gehauenen Treppe zu gelangen, musste man die Wiese hinter der nördlichen Mauer überqueren. Hier war vor vielen Wintern noch ein kleiner Blumengarten gewesen. Solange Damen auf der Burg gelebt hatten, war dies ein kleiner Zufluchtsort der Schönheit gewesen. Nachdem Herrn Alsgörs yarlara hinter die Träume gegangen war, hatte niemand mehr die Blumen gepflegt. Einige kräftigere Stauden und Sträucher verwilderten vor sich hin, waren aber bereits herbsttrocken und dürr. An einem übermannshohen Metallbogen rankte eine verwahrloste Kletterrose empor. Einige Schritte dahinter hörte der Boden auf. Dort stürzte die Klippe steil in die Tiefe.

Als Venghiár sich näherte, erkannte er den Mann. Es war der Wächter, der schon immer zur Burg gehörte. Sein eigener Mann aus Rodekliv wachte am Burgtor.

„Warum seid ihr Weiber nicht unten am Strand?“, zürnte Venghiár. „Und du? Was hampelst du hier herum? Was macht ihr alle hier?“

„Herr“, sagte der Wachmann und nahm mit seiner Glefe Haltung an. Gerade eben noch hatte er damit über den Rand des Abgrunds gestochert, als rühre er in einem Suppenkessel. „Ich … ich halte Wache. Wie Ihr es befohlen habt.“

Venghiár schaute die Frauen an, eine etwas jünger als er selbst, die andere mehr als doppelt so alt. Er kannte ihre Namen nicht, aber ihre Gesichter waren ihm nicht fremd. Wahrscheinlich gehörten sie zur Küche oder waren Waschweiber. Zurzeit trugen beide Strohbesen in der Hand, mit denen sie die Luft vor der Klippe gekehrt hatten. Gerötete Augen hatten beide, das Mädchen tränenfeuchte Wangen. Die Miene des Weibes hätte ihn beinahe eingeschüchtert, so erfüllt von mühsam beherrschter Wut war sie.

Venghiár kam mit raschen Schritten heran und wäre dabei fast über das Seil gestolpert, das vom Rosenbogen aus durch das knöchelhohe Gras führte, in Richtung Klippe.

Im selben Moment schoss kreischend etwas vom Turm hinab, und kurz darauf war ein Dutzend Möwen zur Stelle. Die Frauen fuhren herum und begannen wieder, mit den Besen zu fuchteln und die Tiere anzuschreien. Der Wachmann wagte nicht mehr, ihnen zu helfen. Seinem Herrn gegenüber musste er gehorsam sein.

„Ich verstehe.“ Venghiár trat dicht an die Klippe heran, verschränkte die Arme und neigte sich vor. Turmtief unter ihm brodelte und spritzte die Gischt. Schräg gegenüber, wo das Meer flache Felsen blank geschliffen und der Wind feines Geröll angetragen hatte, war das Burgvolk von Emberbey damit beschäftigt, das Totenfloß vorzubereiten, mit dem der eld-yarl bald seine letzte Fahrt tun würde.

Etwa dreißig Schritt über dem Wasser und ein gutes Stück mehr als eine Armlänge unter ihm hing der maedlor, mit Gurten um Bauch und Brust gefesselt, leblos wie ein Schinken am Haken. Offenbar war er ohnmächtig. Sein Kopf war vornübergesunken und er schrie und strampelte nicht vor Panik, obwohl die Möwen ihn umkreisten und versuchten, auf ihm zu landen. Es gelang ihnen allenfalls für Lidschläge, so energisch wehrten die Frauen sie Vögel mit ihren Besen ab.

„Wann darf ich ihn wieder herauf holen?“, fragte der Wachmann. Venghiár zuckte zusammen. Die Stimme des Mannes war viel zu dicht hinter ihm. Wie unachtsam von ihm. Wie leicht hätte man ihn stoßen können.

„Sobald mein Großonkel dem Meer übergeben ist.“ Er trat von dem Mann mit der Glefe und dem Felsabsturz zurück. „Und ich bin nicht in der Stimmung, es mir anders zu überlegen.“

Der Wächter neigte den Kopf. Ein Gegenwort wagte er nicht, aber er brachte es auch nicht fertig, seinem Herrn in die Augen zu blicken.

„Ihr Weiber!“ Venghiár ging zu den Mägden hin. „Was soll das hier? Was habt ihr hier herumzufuchteln, anstatt Eurem guten alten Herrn, möge er hinter den Träumen in Frieden sein, den Weg zu bereiten wie alle anderen? Was soll dieser Ungehorsam?“

„Herr“, sagte die ältere Frau und schlug auf eine dreiste Möwe ein. „Weil es Dinge gibt, die dringender zu erledigen sind!“

Venghiár haschte nach dem Besen und wand ihn ihr aus der Hand. Sie kämpfte darum, aber gegen seinen eisernen Griff hatte sie keine Chance.

„Dringender als mein Gebot?“, fragte er verärgert. „Was fällt dir ein, Weib?“

Sie wich einen Schritt vor ihm zurück. In ihren Augen brannte etwas Ungutes. Das amüsierte ihn. Er streckte langsam den Arm aus und ließ den Besen achtlos die Klippe hinabfallen. Das Mädchen tat einen kleinen, entsetzten Aufschrei, so zaghaft, als habe man einem Schoßhündchen auf den Schwanz getreten. Es erstarrte und umklammerte ihren Besenstiel so fest, dass seine Hände verkrampften.

„Herr“, ließ sich der Wächter zaghaft hören.

Venghiár ignorierte das. „Nun, Weib? Warum kehrst du hier die Luft, satt Reisig nach unten zu tragen?“

„Warum?“, schnappte sie und vergaß wohl ganz, wem sie gegenüber stand. „Warum fragt Ihr? Weil er mein hýardor ist!“

So. Ihr hýardor. Wie interessant. War denn zu ahnen gewesen, dass dieser jämmerliche, dickliche Federschubser jemals das Interesse eines Weibes hatte erregen können? Was für erstaunliche Fertigkeiten musste der Jämmerling beherrschen!

„Und du? Was bist du dann?“, wandte er sich an die verschreckte fánjula. „Seine Tochter?“

Die junge Magd nickte ängstlich. Den Besen hatte sie eng an sich gezogen, als könne sie sich dahinter verstecken. Nun, zumindest war sie recht ansehnlich. Und wie sie ihn anschaute, mit blassbraunen Augen und einer angenehmen Mischung aus Angst und Flehen, das gefiel ihm auch.

„Ihr solltet den Mächten danken, dass die Möwen sich nicht an ihm festkrallen können wie die Raben. Dann würde euch euer Hausputz hier auch nichts nützen.“

„Den Mächten ungefällig ist das!“, zankte die Frau furchtlos. „Ungerecht und herzlos!“

„Rede nur weiter.“ Venghiár lehnte sich an den Rosenbogen und zog ohne Eile sein Schwert.

„Herr“, versuchte der Waffenknecht vorsichtig, sich einzumischen.

„Warum tust du mir den Weibsbildern mit? Bist du auch irgendwie mit dem maedlor verwandt?“ Venghiár betrachtete beiläufig die Klinge. Scharf geschliffen war sie nun. Wenn er sie nicht zwischendurch nutzen musste, dann würde sie für das Turnier wohl taugen.

„Er ist ein guter Freund, Herr.“

„Er hat seine Strafe verdient. Ich dulde auf dieser Burg keinen Ungehorsam. Die Lage ist ernst. Die yarlaranda ist fort und der Strolch, der sie entführt hat, listiger als wir denken. Wie kann ich sicher sein, dass nicht einer von euch in die Sache verwickelt ist? Damit meine ich die alle.“ Er deutete mit dem Schwert in Richtung Strand, wo die anderen die Bestattung vorbereiteten.

„Herr, wie könnt Ihr so von uns denken?“, begehrte der Wächter auf.

„Wir flehen zu den Mächten, dass die junge Herrin wieder wohlbehalten zu uns zurückkehrt!“

„Das ist löblich. Trotzdem, ich will mir sicher sein, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht, bis die Angelegenheit sich geklärt hat. Bis meine über alles geliebte Weitbase oder mein Weitvetter wieder ihren Fuß durch das Burgtor gesetzt haben, werde ich die Dinge überwachen.“

Die drei wechselten Blicke miteinander.

„Wollt Ihr denn nicht zum vasposár, wie geplant?“, fragte der Wächter dann vorsichtig.

„Doch. Spätestens übermorgen sollten hier meine Gehilfen eintreffen, denen ich die Burg für eine Weile anvertrauen kann.“ Eine Notwendigkeit, über die Venghiár nicht besonders glücklich war. Aber was konnten Cró und Ungro schon groß verkehrt machen? Sicherzustellen, dass niemand die Burg verließ oder betrat, das sollten die beiden Dummköpfe wohl hinbekommen. Der Waffenknecht aus Rodekliv würde sie überwachen. Nur ein paar Tage musste das glücken.

„Ich denke schon, dass ich mich darauf verlassen kann, dass mir hier nicht noch einmal jemand solchen Kummer macht wie er hier.“ Venghiár stieß das Schwert vor seinen Füßen in den Boden, nur einen Fingerbreit von dem Seil entfernt. Das Mädchen gab wieder dieses drollige Quietschen von sich. Der Wächter packte seine Glefe fester. Venghiár bemerkte das wohl, aber er ließ es sich nicht anmerken. Nur vorsichtig! Ausreizen durfte er die Sache nicht. Das zornige Weib war unberechenbar. Und mit der Glefe war der Wächter nicht wehrlos. Auf den würde er ein Auge haben müssen. Möglichst schnell sollte er ihn loswerden.

Jäh schrillte ein panischer Schrei auf. Nachdem die drei die Möwen eine Weile nicht abgewehrt hatten, war es den Vögeln wohl gelungen, den maedlor wieder zu Besinnung zu bringen. Der Waffenknecht überlegte nicht lange und griff an. Die Vögel stoben wieder auf, und der maedlor schrie und wimmerte. Wahrscheinlich konnten die Leute unten am Strand es hören. Hoffentlich war ihnen das eine Lehre.

Das Weib fiel auf die Knie und neigte sich über die Klippe. Sie rief ihrem hýardor beruhigende Worte zu, in einer solchen Panik und Aufruhr, dass es bestimmt nicht dazu langte, ihn zu trösten. Die Tochter stand starr wie ein verschrecktes Windninchen und wusste wohl nicht, was sie tun sollte. Wahrscheinlich fürchtete sie, er könne ihr den zweiten Besen auch noch wegnehmen.

Venghiár zog das Schwert aus dem Boden. Das Mädchen erstarrte. Ihr Blick flehte stumm. Wahrscheinlich würde sie ihm alles geben, worum er bat.

Warum auf eine solche Chance verzichten?

Er lächelte sie an und steckte das Schwert zurück in die Scheide.

„Gib deiner Mutter den Besen“, sagte er. „Und komm mit mir. Ich denke, bevor es Nacht wird, habe ich etwas für dich zu tun.“

***

Dýamirée war verärgert. Ärger, das hatte sie von ihrem Vater gelernt, war eine Emotion, die Schattensänger meistern mussten, solange sie unter Menschen waren. Ihre Mutter hingegen hatte ihr so oft versichert, dass es besser täte, seinem Ärger rechtzeitig Luft zu machen, bevor man daran erstickte. Und nun? Wessen Ratschlag sollte sie folgen?

Die Schattensängerin seufzte innerlich und beobachtete aus halb geschlossenen Augen den Ritter, der da nachlässig und mit seinen Stiefeln auf dem Reisebett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und den Blick an die stockfleckige Zeltdecke gerichtet. Der Mann ruhte nicht. Er dachte nach. Dýamirée hätte zu gern gewusst, worüber. Aber er tat ihr nicht den Gefallen, Selbstgespräche zu führen.

Sie hatte eine Weile versucht, aus dem Glaskrug herauszuklettern, allerdings ohne Erfolg. Das Material war zu glatt für ihre Krallen und die Form machte es unmöglich, einfach herauszuspringen. Vielleicht hätte sie ihr Gefängnis sprengen können, indem sie sich einfach wieder in ihren menschlichen Körper begab. Aber das hätte den Ritter in Gefahr gebracht; nicht unbedingt so, dass er sein Leben, möglicherweise aber den Verstand verloren hätte. Und das hatte der Mann nicht verdient. Immerhin hatte er nichts getan, was nach einer Schurkerei aussah.

Immerhin, vorerst war die Gefahr gebannt, zu einem albernen Helmschmuck verarbeitet zu werden. Wenn der Ritter seinen Knappen losgeschickt hatte, um einen Käfig zu besorgen, hatten sie vor, sie am Leben zu lassen. Und was die jungen Damen betraf, die Eichhörnchen possierlich fanden …

„Die teirandanja ist eine dumme, einfältige Gans“, sagte der Ritter plötzlich in ihre Richtung. „Aber vielleicht hat sie noch nicht genug Schoßtierchen zur Gesellschaft. Du bist mein Passierschein zu ihr, Flohbeutel.“

Dýamirée setzte sich empört auf. Das war eine Unverschämtheit, aber eine, über die man hinwegsehen musste.

„Die wird mir noch dankbar sein.“ Der Ritter schwang die Beine über die Bettkante und griff nach einem Trinkbecher, der in Reichweite stand. „Verrat und Sabotage, im eigenen Haus, zum eigenen vasposár. Was für Zustände!“

Dýamirée spitzte die Ohren. Aber er redete nicht weiter, sondern schenkte sich aus dem Krug ein, in den er zuvor die Reste des Starkbieres umgefüllt hatte.

Was sollte das heißen? Sabotage? Verrat? Wer in Wijdlant sollte Interesse daran haben, auf dem Turnier Unruhe zu stiften? War tatsächlich etwas an der Vision ihres Vaters gewesen, und auf dem Turnier braute sich etwas zusammen?

„Dummes Mädchen, die teirandanja“, murmelte der Ritter. „Na, zumindest ist sie hübsch.“

Er setzte den Becher an die Lippen, kam aber nicht dazu, zu trinken. Ein Schatten verdunkelte den Zelteingang.

„Da seid Ihr ja!“, sagte er gut gelaunt. „Ich hoffe, Eure Einladung gilt noch?“

„Selbstverständlich! Kommt herein, setzt Euch!“ Der Ritter stellte den Becher auf den Boden und tat eine einladende Geste auf das Bett seines Knappen. „Ich sehe, jemand hat Euer Eisenzeug gerichtet?“

„Der yarlandor aus Ghelazia war so freundlich, mir zur Hand zu gehen. Ein netter junger Mann. Etwas schweigsam, aber überaus hilfsbereit.“ Der Besucher ließ sich auf dem gegenüberliegenden Bett nieder und schaute sich neugierig im Zelt um. „Bis zum vasposár werde ich hoffentlich meine eigene hilfreiche Hand wiederfinden.“

„Sicher verdienen sich im Zweifel auch die Bauernknaben etwas dazu.“

„Das wird wohl nicht nötig sein. Was ich wirklich dringlicher brauche …“ Er unterbrach sich.

Was hast du mit deinen Haaren gemacht?, fragte Dýamirée erschüttert.

„Ich …“ Advon riss seinen Blick hastig vom Glaskrug weg und lächelte seinen Gastgeber entschuldigend an. „Verzeiht. Ich meine, ich komme, um mehr über das Pferd zu hören.“

Du siehst aus wie eine Vogelscheuche nach einer Rauferei!

Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, einen Bartscherer zu suchen!

Dýamirée musterte ihn mitfühlend. Dass Advon sich so verunstaltete, zeigte, wie ernst er Manjévs Auftrag nahm.

„Ah, das Pferd. Das lässt Euch keine Ruhe.“ Der Ritter lachte. „Was für ein Unglück, dass Euer Ross gerade jetzt auf der Strecke geblieben ist, und die Zeit so knapp, um Ersatz zu finden! Darf ich Euch einen Willkommenstrunk reichen?“ Er förderte einen zweiten Becher hervor, füllte diesen ebenfalls und nahm einen kleinen Schluck, bevor er das Bier weiterreichte. Advon nickte dankend und nahm ihn höflich entgegen. Höfische Manieren hatte dieser Ritter also, ungefragt die Unbedenklichkeit des Getränks zu beweisen.

„Das ist vorzüglich“, lobte er. „In Eurem yarlmálon gebraut?“

„Nein.“ Der namenlose Ritter lachte und bediente sich an seinem eigenen Becher. „Aus Ycelia. Da verstehen sie was von gutem Bier. So enttarnt Ihr mich nicht.“

„Gut. Es ist auch mir daran gelegen, dass niemand vorschnell von mir erfährt.“

„Dann lasst mich Euch nun zu einem Pferd verhelfen.“

„Darf ich Euch vorher eine andere Frage stellen?“

„Selbstverständlich. Auch wenn ich Euch nicht garantieren kann, dass Ihr eine Antwort bekommt.“

Advon deutete auf den Krug. „Warum führt Ihr ein Eichhörnchen mit Euch?“

„Ach das.“ Der Ritter grinste. „Das hat mein nichtsnutziger Knappe geschnappt.“

„Euer Knappe muss überaus geschickt sein, ein so flinkes Tier im Wald zu greifen.“

„Es hatte sich ins Zelt verirrt.“

„So.“ Advon trank. „Also ein leichtsinniges und unvorsichtiges Geschöpf.“

Ich hatte einfach Pech, murrte Dýamirée.

Warum treibst du dich in den Zelten herum? Du wolltest doch nur schauen, wer sich hier im Lager aufhält.

Ich wollte herausfinden, wer der da ist! Ich dachte, das Zelt sei leer. Den Knappen hab ich nicht bemerkt!

Weißt du, wie viel Sorgen ich mir gemacht habe? Zu dem Ritter gewandt, fragte Advon: „Und was habt Ihr damit vor?“

Einen Helmschmuck wollten die aus mir machen, petzte Dýamirée.

„Ich hatte mir überlegt, es der teirandanja zum Geschenk zu machen. Ich habe gehört, junge Damen schätzen die Gesellschaft possierlicher Tiere.“ Der Ritter lachte. „Muss wohl ganz schön langweilig sein, den ganzen Tag herumzusitzen und nichts anderes zu tun zu haben als zu sticken und zu spinnen.“

„Ich glaube nicht, dass die teirandanja sich die Zeit so vertreibt. Aber, guter Herr, ich glaube, wilde Eichhörnchen taugen nicht besonders als Schoßtierchen. Sie treiben ziemlich viel Unfug.“

Ich habe keinen Unfug getrieben! Ich wollte schauen, ob er irgendein Erkennungszeichen bei sich hat!

„Nun, dann kann der Kürschner immer noch einen Handmuff daraus machen. Der Winter naht. Dann ist das sicher hochwillkommen für die zarten Finger der Dame. Aber wollen wir nun über Nagetiere reden oder über das Pferd, das Euch beim vasposár zum Sieg tragen wird?“

„Gut.“ Dýamirée erhaschte einen mahnenden Blick von Advon. Nun, er hatte recht. Was immer es mit diesem Pferd auf sich haben mochte, offenbar war es Advon gelungen, mit dem Ritter in vertrauteren Kontakt zu kommen. Die Schattensängerin entschloss sich, nicht allzu unnatürlich zu wirken. Welches Interesse sollte ein Eichhörnchen auch an Menschengesprächen haben? Sie rollte sich zusammen und blinzelte unverwandt hinter ihrem Schwanz hervor.

„Wo ist nun dieses Pferd? Und wie kommt es, dass es zum Verkauf steht?“

„Die Stute ist in der Schmiede vom Dorf gleich nahebei nebenan. Ein prächtiges Tier. Kein starkes Kriegsross, aber für die Turnierspiele sicher mehr als tauglich.“

„Wie könnte ein Schmied an ein Pferd gekommen sein, dass den Ansprüchen eines yarl genügen würde?“

„Ich kann mir gut vorstellen, dass der gute Mann das Pferd günstig bekommen konnte. Wenn er das Pferd unrechtmäßig besäße, dann stünde es kaum offen auf dem Platz, nicht wahr? Die hiesigen yarlay würden Fragen stellen. Vielleicht hat er das Pferd als Bezahlung für irgendeinen Dienst bekommen, von einem yarl, der knapp bei Kasse war. Und nun nutzt er die Gelegenheit, es zu einem guten Preis zu veräußern. Ihr versteht, was ich meine?“

„Nein.“

„Dass das vasposár stattfinden wird, ist nicht erst seit gestern bekannt. Was denkt Ihr, wie viele der auswärtigen Wettkämpfer bereits ein Auge auf das Pferd geworfen haben mögen? Sie alle kommen in diesen Tagen an der Schmiede vorbei, sei es um ihrer eigenen Pferde willen, sei es um irgendwas an ihrem Eisenzeug fertigen zu lassen. Das Prachtross steht dort wie auf einem Präsentiertablett. Wer es haben will, wird nachfragen.“

„Woher wisst Ihr das alles so genau?“

Der Ritter neigte sich verschwörerisch vor. „Nun – ich habe nachgefragt. Und da ihr mir ein rechtschaffener Herr zu sein scheint, weihe ich Euch ein.“

Und du könntest einfach bei Manjév nachfragen, ob sie dir ein Pferd leihen kann, warf Dýamirée ein.

Was stellst du dir vor? Mehr als einen lahmen Klepper wird sie nicht im Geheimen, unter den Augen aller anderen beschaffen können. Und ich kann ein Pferd nicht in Form zaubern wie das rostige Eisenzeug. Laut sagte Advon: „Nun gut. Aber warum sollte er ausgerechnet mir das schöne Pferd überlassen?“

Der Ritter füllte seinen und Advons Becher wieder auf. „Vielleicht, weil Ihr ihm den besten Preis bietet? Wie viel wäre Euch das Pferd wert?“

„Ich weiß nicht. Dreißig Goldstücke?“

Der Ritter prustete sein Bier aus. Einige Tropfen erreichten den Krug und rannen daran herab. Ungläubig glotzte der Mann sein Gegenüber an. „Dreißig Gol- … ich meine: Vergebt mir. Ich muss mich verschluckt haben. Das ist mir äußerst peinlich.“

„Wie viel habt Ihr denn geboten?“, erkundigte Advon sich interessiert und wischte sich gesittet mit seinem Waffenrock die Wangen trocken.

„Ich? Äh … nun. Ein bisschen weniger, als Ihr vorhabt.“

„Daraus schließe ich, dass meine Chancen auf das Pferd nicht schlecht stehen?“

„Ich würde fast denken, das Pferd gehört Euch bereits.“

Etwas an der Miene des Ritters gefiel Dýamirée nicht. In seinen Augen schimmerte Verlangen. Das passte nicht zu der Gelassenheit, die er auf sein Gesicht zwang. Wie dumm, dass sie als Eichhörnchen keine unkundigen Gedanken hören konnte! Kam Advon das Gehabe nicht auch verdächtig vor?

Offenbar nicht, denn er war geneigt, dem Mann zu glauben. Der junge Magier erhob sich. Etwas weniger graziös, als Dýamirée es von ihm gewohnt war.

„Gut. Dann gehe ich gleich los. Wobei …“

„Nein! Nein, nicht sofort. So funktioniert das nicht. Ihr müsst Euch gedulden.“

„Gedulden? Wie lange?“

„Bis zur späten Nacht.“

„Wie bitte?“

„Schaut mich nicht so überrascht an. Ich habe die Regeln nicht gemacht.“

„Es gibt Regeln, um Pferde zu kaufen?“

„Ihr kommt von weit her, scheint mir, lieber Freund. Lasst Euch einweihen, so wie ich eingeweiht wurde, als ich hier eintraf und mich nach einem guten Pferd erkundigte. Das hier ist kein Pferdemarkt. Und es wäre unter der Würde der hochedlen Herren, öffentlich mit einem einfachen Schmied um seinen Schatz zu feilschen. Heute Nacht, in der Zeit des höchsten Standes von Noktámas Juwel und dem ersten Hahnenschrei, geht zur Schmiede und macht Euer Gebot. Der Anbieter wird vergleichen. Und wer weiß, vielleicht bekommt Ihr den Zuschlag.“

„Ist das tatsächlich so üblich?“, fragte Advon misstrauisch.

„Nein, natürlich nicht. Aber das ist auch keine alltägliche Lage. Denkt Euch, das einzige gescheite Pferd weit und breit, und so viele hochedle Herren, die es wohl gern hätten. Wenn es offen zuginge, wie leicht könnte sich einer verschulden, nur um mit den anderen mitzuhalten? Wie leicht einen anderen beschämen, wenn es ihm an Geld mangelt?“

„Ich verstehe. Diese Geheimniskrämerei ist ein eleganter Weg, um alle ihr Gesicht wahren zu lassen. Niemand wird erfahren, um wie viel der Schmied sein Wunderross fortgegeben hat.“

„Ich freue mich, wenn Euch mein beschiedener Hinweis auf den Rücken eines tauglichen Rosses bringt.“ Der Ritter lachte leutselig. Vielleicht auch ein wenig angeheitert. „Es wäre doch zu schade, wenn ihr auf einem Steckenpferd ins Turnier reitet, nicht wahr?“

Selbst sein Lachen klang zwiespältig. Dýamirée seufzte. Aber sie kam nicht dahinter, was diese Geschichte zu bedeuten hatte. Sie ärgerte sich. Würde die Tiergestalt nicht ihre Magie blockieren, hätte sie unzweifelhaft spüren können, ob der Mann die Wahrheit sagte. Solange er sich nicht selbst offenbarte, hatte sie nun allenfalls Vorbehalte.

Nun, dass Advon ein Pferd brauchte, das war unvermeidlich. Farbenspiels schierer Anblick würde ausreichen, die Pferde der anderen Ritter durchgehen zu lassen. Aber ob es den teiranday so recht war, wenn der Schmied auf diese Weise Geschäfte machte?

Keine Sorge, hörte sie ihn in ihren Gedanken. Ich werde ihn dazu bringen, dich freizulassen.

Nein! Nein, lass mich hier!

Er senkte den Becher und schaute sie verblüfft an. Kurz blitzte das Gold in seinen Augen auf, ohne dass der andere Ritter es bemerkte.

Ich lass dich nicht zurück!

Advon, hör zu! Der Ritter scheint etwas über eine Verschwörung an Manjévs Hof zu wissen.

Noch eine Verschwörung?

Das muss die Gefahr sein, die Papa in seiner Vision gesehen hat. – Wenn ich hierbleibe, dann erfahre ich vielleicht mehr darüber, was er weiß.

Und wenn sie stattdessen doch einen Muff aus deinem Fell machen?

Noch ist nicht Winter.

„Ihr seid plötzlich so schweigsam“, sagte der Ritter. „Ist Euch nicht wohl bei der Sache? Misstraut Ihr mir etwa?“

„Aber nein, nicht doch. Ich frage mich nur …“ Advon schaute sich um und suchtewohl  nach etwas, um das Gespräch aufrechtzuerhalten. Neben dem Bett entdeckte er ein offenes Flickkästchen mit Schnallen und Riemchen. Er zeigte darauf. „Wo ist Euer Knappe eigentlich?“

„Rolk? Den habe ich zu Besorgungen ausgeschickt. Wieso? Braucht Ihr etwas repariert?“

„Nein. Ich fragte mich nur, wann ich den jungen Mann wohl kennenlerne.“

„Bald genug. Möchtet Ihr noch Bier?“

Advon reichte ihm den Becher. Dýamirée sah das mit leiser Besorgnis. Der Magier war starkes Bier nicht gewohnt. Während sein Gastgeber einschenkte, wandten Advons Gedanken sich wieder der Schattensängerin zu.

Versteh doch, Advon! Unauffälliger zu lauschen geht doch gar nicht! Sie werden mich morgen in einen Käfig setzen und Manjév schenken. Bis dahin bin ich ruhig und niedlich und spitze die Ohren. Vielleicht erfahre ich etwas. Wenn nicht, gelange ich in die Burg, ohne dass jemand misstrauisch wird. Sobald ich mit Manjév und Truda allein bin, kann ich mich zurückverwandeln. Und von dort aus kann ich dir helfen und Botschaften zutragen, während du dir dein Pferd besorgst. Manjév müsste nicht einmal erklären, wo sie das neue Haustier her hat. Ich bin hier in Sicherheit.

Nun gut. Aber bevor ich mich auf diesen Pferdekauf einlasse, statte ich Manjév einen Besuch ab. Ich hole Farbenspiel und fliege vor der ersten Nachthälfte über die Mauern.

Ja, zeig dich ihr. Und frag sie, wie du es anstellst, in deiner Verkleidung an den Hof eingelassen zu werden, an Jóndere Moréavals gestrengem Auge vorbei. Advon?

Ja?

Stellen wir uns wohl geschickt genug an?

Ich wünschte, es werde nie jemand hiervon erfahren. Ich wünschte, ich könnte es vergessen.

Er hob seinen Becher und nickte seinem Gastgeber dankend zu. Der Ritter lächelte mit leicht verwischtem Blick. Auch Advon schien der Alkohol ins Blut zu kriechen. Das Bier aus Ycelia war wirklich sehr stark.