Schattensänger beherrschten die Kunst, die Gestalt von Tieren anzulegen. Sehr mächtige Schattensänger hatten gleich mehrere solcher Verkleidungen. Mindestens eine, hatte Yalomiro Lagoscyre zu Dýamirée gesagt, müsse auch sie unbedingt meistern. Vorher wolle er sie nicht in die Nähe von Unkundigen lassen. Zu ihrer eigenen Sicherheit!

„Advon kann sich nicht verwandeln“, hatte Dýamirée damals zu ihrem Vater gesagt. „Er hat es ausprobiert, aber es geht nicht. Warum glückt ihm das nicht, wenn er es doch so sehr selbst will?“

„Ich weiß es nicht, mein kleiner Stern. Vielleicht kann er es nicht, weil die Regenbogenritter sich nie verstecken mussten. Pataghíu hat ihnen dafür eigene Fertigkeiten geschenkt.“

„Und in was soll ich mich am besten verkleiden?“

„In was immer du willst. Du musst dich nur entscheiden.“

„Das ist aber schwer. Es gibt so viele Tiere.“

Sie hatten am Ufer des Sees gesessen, in der Abenddämmerung, und Dýamirée erinnerte sich daran, wie schön das gewesen war, das Zwielicht zwischen der im Norden sinkenden Sonne und Noktámas dunklem, mit sternenen Juwelen besetzten Schleier. Die Zeit, in der er endlich begonnen hatte, sie in der Magie zu unterweisen, die schließlich in ihr erwacht war. Die Wellen hatten sanft an das Kiesufer geplätschert, und ab und zu blubberte etwas im Wasser auf. „Vielleicht in einen Frosch? Oder einen Fisch?“

„Das würde dir Spaß machen? Ein Frosch zu sein?“

„Ja. Die hüpfen und quaken so lustig.“

Darüber hatte er gelacht und ihr dann empfohlen, für den Anfang eine gewöhnlichere Form auszusuchen. „Die meisten Schattensänger, kleiner Stern, wählen etwas schnelles, etwas starkes und etwas harmloses, was unter Unkundigen kein Aufsehen erregt. Fliegen zu können hat auch seine Vorteile.“

„Klettern ist aber auch schön, Papa. Ich bin so gern in den Bäumen.“

„Ich weiß. Und deine Mutter ist schwer zu beruhigen, wenn sie bemerkt, nach welchen dünnen Ästen du immerfort greifst.“ Er hatte eine Weile nachgedacht. „Ich wüsste nicht, dass ein anderer Schattensänger je auf diesen Einfall kam, aber wie wäre es denn mit einem Eichhörnchen? Hübsch und schnell und unauffällig. Es würde dir gut stehen. Und deiner Mutter wäre es ruhiger zumute, wenn es dich wieder einmal in die hohen Wipfel zieht.“

 „Und die Unkundigen? Was haben die damit zu tun?“

„In einer Tiergestalt“, hatte er ihr verraten, „sind wir ungefährlich für sie. Wir können uns unter ihnen bewegen, ohne jemanden unwillentlich in Gefahr zu bringen.“

Das hatte gut geklungen, verlockend. Es eröffnete Möglichkeiten!

„Es hat seine Regeln und seinen Preis“, hatte er ihre kindliche Begeisterung sanft gebremst. „In einer Tiergestalt kannst du nicht mit Menschen sprechen.“

„Das muss wohl so sein“, hatte sie mit leisem Bedauern bemerkt. „Wie soll denn auch eine Vogelzunge etwa in einem Schnabel Menschenworte machen.“

„Und du kannst in der Verkleidung keine Magie wirken, außer der, dich wieder in deinen Menschenkörper zurück zu formen.“

„Nicht sprechen und nicht zaubern?“ Dýamirée war enttäuscht gewesen. So oft hatte sie staunend beobachtet, wie ihr Vater mit Leichtigkeit zum fliegenden Raben oder einem großen schwarzen Kater wurde. Oder zu einem Pferd, um sie übermütig in donnernden Galopp durch den Wald zu tragen, so schnell, dass sie vor Vergnügen jauchzte. Aber ihr war nie aufgefallen, dass er während dieser Zeit nichts anderes vollbrachte. Immerhin: Seine Gedankenstimme konnte sie immer hören. Doch das war sicher eine ganz andere Art von Magie.

„Du kannst den Unkundigen nahe sein“, hatte er sie verlockt. „Ohne Gefahr und Risiko. Das wird dir öfter von Nutzen sein, als du denkst.“

An dieses Gespräch, ihre erste Lektion in der Kunst, sich zu verkleiden, musste Dýamirée oft zurückdenken, wenn sie es tatsächlich tat. Gerade so wie jetzt.

Die Schattensängerin war mehrfach über jenes Zeltlager geflogen, das die früh eingetroffenen Ritter von nah und fern beherbergen sollte. Es befand sich am Rand der großen Wiese, wo fleißige Hände die Turnierbahn und alles aufbauten, was sonst noch benötigt wurde. Offenbar würde es zu allen Seiten erhöhte Sitzreihen für die vornehmen Gäste geben, und dort, wo die Pferde laufen würden, stachen einige Männer mit Schaufeln flache Grasmatten aus, während andere Sand und Sägespäne heranbrachten. Advon hätte ihr sicher erklären können, warum genau sie das taten. Aber sie war ihm bewusst entschlüpft, bevor er sie noch hatte aufhalten können. Übertrieben wäre das gewesen, wären sie zu zweit gegangen. Was tat sie denn hier anderes, als nur einen schnellen Blick auf die unkundigen Ritter und ihr Gefolge zu werfen? Unbemerkter, diskreter, als er das hätte erledigen können, und mit viel weniger Anstrengung. Sich unentdeckt hier zu bewegen, hätte Advon viel Magie gekostet. Unnütze Mühe, nur um die Leute daran zu hindern, ihn im Gedächtnis zu behalten. Außerdem hätten sie Farbenspiel im Wald zurücklassen müssen. Wie leicht hätte ihn dort jemand sehen können, der nach losem Reisig suchte.

Ein kleines Vögelchen aber, das würde sicher niemand auffällig finden. So nahe konnte sie den Unkundigen sein, und völlig ungestört. Das war aufregend!

Sie landete auf einem der halb fertigen Gerüste und schaute eine Weile neugierig den Handwerkern zu. Einmal kam ein Ritter dazu, ein älterer Mann mit einem mächtigen grauen Schnauzbart, üppiger als der gesamte Rest seines Haupthaares. Sein Waffenrock war weizengelb und Getreideähren hatte er auch in seinem Wappen. Herr Daap war das wahrscheinlich, der gutmütige Vater des starken Láas Grootplen. Offenbar war er hier, um den Fortschritt der Vorbereitungen zu prüfen, denn er interessierte sich sehr für die Bodenarbeiten. Anscheinend war er der Meinung, die Bahn müsse noch länger und breiter werden.

In der Geschäftigkeit gab es nicht viel Wichtiges zu sehen. Also weiter, zu den Fremden. Zu den ritterlichen Wettstreitern.

Dýamirée landete hoch oben in einer Baumkrone am Rand des Wäldchens und glitt von ihrem schillernden Federkleid in den schwarzen Pelz des Eichhörnchens, ihrer Lieblingsverkleidung. Einen Moment lang wippte sie übermütig auf den dünnen Zweigen und schnupperte in den Wind hinein, der nach feuchter Erde und Kühle duftete. Wie schade, dass Advon nicht mit ihr hier oben im Herbstlaub sein konnte! Die vielen bunten Farben hätten ihm sicherlich gut gefallen. Im Cielástel, der gläsernen Burg der Regenbogenritter am Rande der Wüste, bekam er das so nicht zu Gesicht. In Pataghíus Heiligtum, da war immer alles hell und klar und strahlend. Das sah wunderschön und pur und ewig aus. Aber Dýamirée fand, dass die flüchtigen, vergänglichen Farben von Blumen und Bäumen auch ihren Reiz hatten. Sie waren immer nur kurz da, und das machte sie kostbar.

Das Zeltlager war noch nicht allzu groß, denn bis zum vasposár dauerte es noch einige Tage. Wer bereits hier war, der hatte eine längere Reise hinter sich, deren Dauer er beim Aufbruch nicht hatte abwägen können. Vielleicht waren die Herren unerwartet gut vorangekommen und mussten sich hier nun die Wartezeit verkürzen. Einer, der wohl gerade eben eingetroffen war, scheuchte gleich mehrere Knappen umher. Die hatten wohl noch nicht oft ein Zelt aufgeschlagen und gaben sich tollpatschig. Es hatten sich schon Schaulustige genähert. Das war wenigstens ein wenig unverhoffte Unterhaltung. Hilfreich zur Hand ging den Knappen niemand. Es war wohl kurzweiliger, ihnen zuzuschauen.

Andere hatten für solchen Albernheiten nichts übrig. Dýamirée sah Kämpfer, die ihre Waffen warteten oder ihre Gehilfen dazu anhielten, es zu tun. Andere kümmerten sich um die Pferde, die etwas abseits in einem unterteilten Pferch standen und sich am guten Heu bedienten. Den Ritter aus Ghelazia erkannte Dýamirée an seinem Wappen, das eine weiße Schneeflocke auf  nachthimmelblauem Grund zeigte. Der yarl ließ einen Redeschwall auf einen Jüngling einprasseln, wohl den wortkargen Sohn, und gab ihm gute Ratschläge zum Umgang mit der Wurfaxt. Der junge Mann nickte ab und zu und wirkte in sein Schicksal ergeben. Kein Wunder, dachte Dýamirée, dass der mit Manjév und Truda nicht geredet hatte. Wahrscheinlich kam er ohnehin nie zu Wort.

Sie kletterte den Baum hinab, bis sie etwa auf der Höhe des größten der bisher aufgeschlagenen Zelte war. Es war ausnehmend prächtig, bestand aus Leinensegeltuch und war üppig mit Ornamenten bemalt. Offenbar hatte das jemandem missfallen, denn der Besitzer des Prunkzeltes stand aufgebracht daneben. Der Ritter war nur unwesentlich kleiner, aber ebenso gebaut wie ein mächtiger Waldbär und im Gesicht ebenso behaart. Seine Statur bildete einen irritierenden Kontrast zu seinen funkelnden Gewändern. Sein weißer Waffenrock war verschwenderisch mit winzigen Flitterplättchen bestickt. Ob er hoffte, mit dem Geflirr seine Gegner zu blenden?

Der funkelnde Hüne redete auf einen Mann in der bescheidenen, aber geschmackvollen Tracht eines vornehmen maedlor ein. Wahrscheinlich oblag diesem die Aufsicht und Verantwortung über den Zeltplatz, denn er hatte gleich mehrere, miteinander verbundene Wachstafeln bei sich und machte sich mit einem Griffel Notizen.

Der Beschwerde des Ritters, der nicht weniger geschmückt war als sein Zelt, entnahm Dýamirée, dass ein unflätiger Lump in der Nacht das teure Zelt besudelt hatte. Wie es denn sein könne, dass so etwas hier und gerade jetzt, anlässlich des Freudenfestes für die hochedle teirandanja geschehen konnte?

Er könne nicht mehr tun, als sich tausendfach dafür zu entschuldigen. Der maedlor kritzelte sorgfältig auf die Tafel. Er werde das mit dem teirand, mit Asgaý von Spagor höchstpersönlich besprechen.

Viel sinnreicher wäre es, gab der Ritter zurück, man möge den erbärmlichen Schmutzfink ausfindig machen und grün und blau prügeln. Und natürlich vom Turnier ausschließen! Und wenn der teirand dazu außerstande wäre, dann wolle er wohl selbst dafür sorgen.

Der maedlor gab dem nicht zu Unrecht empörten Ritter recht. Aber was solle er tun? Wenn es keinen Zeugen gab, dann ließe sich schließlich nicht an den Hinterlassenschaften ermitteln, wer der Missetäter war. Als verräterisches Beweisstück tauge es nichts. Das müsse selbst der hochedle Herr Madrýc, yarl von Ycelia zugeben.

Yarl Ycelia gab einen abfälligen Laut von sich, sah aber wohl ein, dass es nichts brachte, zu widersprechen. Nun, sagte er nur, er hoffe, dass der teirand den Vorfall ernst nehme und sich der Sache sorgsam annehme. Denn üblich sei das nicht, dass unter wohlerzogenen Herren, noch dazu unter dem Schutz der Gastgeber und vor einem so wichtigen Ereignis, solche Respektlosigkeiten geschähen.

Dann ließ er den maedlor stehen und stapfte davon, um seinerseits die ungeschickten Knappen beim Kampf gegen ihr Zelt zu verspotten. Der maedlor klappte seine Tafeln zu, seufzte und ging in die andere Richtung fort.

Dýamirée überlegte, ob sie einem der beiden folgen sollte. In der Tat, wenn unter den versammelten Rittern jetzt schon einer war, der Unfrieden und Misstrauen schürte, dann war das dem vasposár nicht zuträglich. Sie sprang auf das Zeltdach und kletterte von dort aus vorsichtig zu Boden. Die beschmutzte, übel riechende Stelle am Zelt fand sie sofort und rümpfte die Nase. Kein Wunder, dass der yarl aus dem fernen Westen zu empört war, und das zu Recht.

Die Schattensängerin vergewisserte sich, dass niemand in unmittelbarer Nähe stand und untersuchte dann das, was sie an Spuren am Boden fand. Vielleicht gelang es ihr, aus dem Blickwinkel eines kleinen Tieres mehr zu erkennen als die Unkundigen. Möglicherweise gab es einen Hinweis, den Menschen nicht sehen konnten.

Aber da war nichts Brauchbares. Wenn es Fußstapfen gegeben hatte, dann waren die längst verwischt. Rings um den Ort des anrüchigen Vorfalls war der Boden zertrampelt, denn natürlich hatten sie sich alle die Sache betrachtet.

Dýamirée blickte auf. Direkt gegenüber war ein bescheidenes, deutlich kleineres Zelt aufgeschlagen, dessen Eingang offen stand. An einer Reisetruhe bei der Rückwand des Zeltes lehnte ein Schild aus blankem Holz.

Sie setzte sich auf die Hinterbeine auf. Tatsächlich, ein gänzlich schmuckloser Schild. Dann war das wohl das Zelt des wappenlosen yarl aus dem Osten, den Manjév in der Nacht erwähnt hatte. Wie interessant!

Sie wuselte hinüber, natürlich nicht stracks durch den Eingang. Das wäre leichtsinnig gewesen. Stattdessen fand sie an der Seite eine Stelle, wo der Zeltbehang etwas lose verspannt war und einen kleinen Spalt vom Boden abstand. Da schlüpfte sie hindurch.

Sie geriet dabei direkt unter ein einfaches Reisebett, eines mit gestecktem Rahmen und Gurten, auf denen eine dünne Strohmatratze lag. Auf der anderen Seite des Zeltes, kaum eine Armlänge entfernt, stand ein zweites Bett, auf dem nachlässig etwas Kleidung und anderer Kram abgelegt war. Offenbar hatte der Ritter, dem das Zeug gehörte, sich sorgsam umgezogen und wartete nun, dass jemand hinter ihm aufräumte. Vom Bett hing der Riemen einer Tasche herab.

Dýamirée zögerte und schlich, so langsam und vorsichtig es einem Eichhörnchen nur möglich war, unter dem Bett hervor. Den Blick hielt sie gebannt auf den unverhofften Fund gerichtet. Nein, Neugier war keine Tugend. Aber vielleicht war an der Kleidung oder im Gepäck des wappenlosen Ritters etwas, das seinen Namen und seine Herkunft verriet. Wenn sie sich beeilte, dann konnte sie das prüfen, noch bevor er zurückkehrte. Advon und Manjév würden staunen!

Sie spähte zum Zelteingang. Niemand ging draußen vorbei. Die Luft war rein.

Die Schattensängerin streckte sich vor. Geschmeidig setzte sie eine Pfote vor die andere. Das Bett des unordentlichen Ritters war nur einen kleinen Hopser entfernt. Dýamirée machte sich bereit und spannte ihre Hinterbeine an, und…

Da war etwas. Sie war nicht allein in diesem Zelt!

Mit einem lauten Scheppern sauste etwas Großes auf sie nieder. Um sie wurde es dunkel, ihr Sprung endete jäh an einem Stück Metall und der größere Teil ihres buschigen Schwanzes wurde schmerzhaft eingeklemmt. Dýamirée stieß einen Wehlaut aus und kratzte um sich.

„Hab ich dich!“, triumphierte eine stimmbrüchige, wenn auch etwas verdutzte Stimme.

Dýamirée drehte sich um und versuchte, ihren Schwanz zu befreien, vergeblich. Aber hinter ihr war es etwas heller. Licht drang durch einen schmalen Schlitz zu ihr vor. Sie krallte sich hinein und versuchte, hindurch zu blicken. Doch sie sah vorerst nicht mehr als die Beinstulpen desjenigen, der offenbar die ganze Zeit über ihr auf dem Bett gelegen hatte. Bei den Mächten, wie war es denn möglich, dass sie den Menschen nicht bemerkt hatte? Wie still konnte ein Unkundiger sich verhalten? Tatsächlich so stumpf vor sich hindösen, dass es nicht einmal Gedanken zu hören gab? Oder war auch das Gedankenhören in einer Tiergestalt gelähmt, zumindest was Menschen betraf? Sie musste sich eingestehen, dass sie das nie zuvor ausprobiert hatte. An wem auch?

Sie begriff, dass der junge Kerl einen Helm über sie gestülpt hatte, der sich wohl gerade in seiner Griffweite befinden hatte. Einen altmodischen, klobigen Topfhelm ohne Visier, möglicherweise ein langjähriges Erbstück der wappenlosen Familie. Daraus gab es kein Entkommen. Die Schattensängerin zischte und keckerte empört. Was machte der Junge überhaupt hier im Zelt, anstatt wie alle anderen draußen geschäftig zu sein? Hatte der nichts Besseres zu tun?

Der Jüngling kniete sich auf den Boden und versuchte, seinerseits durch den schmalen Sehschlitz zu spähen. Er war kaum alt genug, dass ihm ein Bart spross, und seine Haut war noch nicht ganz frei von jugendlicher Unreinheit. Mit etwas tumbem Grinsen starrte er dem Eichhörnchen  in die Augen. Seine Geistesschärfe war offenbar weniger ausgeprägt als seine Reflexe.

„Du kommst gerade recht“, teilte er ihr mit, nicht boshaft, nicht drohend, sondern mit noch viel erschreckenderen, unschuldigen Begeisterung. „Eine flauschige Helmzier wird Herrn Kárar bestimmt gefallen!“