Das yarlmálon Grootpleen verfügte über mehr weite Ackerflächen und Weiden als über dichte Wälder. Zumindest anfangs, wenn man sich von der bescheidenen Burg aus in Richtung Wijdlant bewegte. Im Westen, wo die Ebene anstieg und sich schließlich mit den schroffen Ausläufern des Montazíel verband, im Grenzbereich zum yarlmálon Tjiergroen, da gab es bewaldete Hänge, die jetzt in bunten Herbstfarben erstrahlten und sich nordwärts in Richtung Altabete fortsetzten. Osse fragte sich, ob die Reisegesellschaft zwischenzeitlich wohlbehalten dort angekommen war. Ob die Dame mit dem gelangweilten Mädchen immer noch Verdruss hatte – oder alle anderen mit dem schönen schwarzen Feuerblutpferd des vendyr.

Der bunte Baumstreif in der Ferne wich immer weiter zurück, würde aber noch einige Zeit zu sehen sein, denn Grootplen, der Kornspeicher von Wijdlant, war plattes Land, sah man einmal von dem künstlichen Burghügel ab. Auch der lag nun hinter ihnen. Der Weg führte den Tross der eld-yarlara nun auf befestigten Wegen zwischen mit geflochtenen Weidezäunen unterteilten Äckern und Viehweiden entlang. Größtenteils handelte es sich um bereits abgeerntete Stoppelfelder. Hier und da waren Bauern noch dabei, die letzten Feldfrüchte einzubringen. Sobald sie die Dame und ihr Gefolge bemerkten, kamen sie an die Straße gelaufen, um ihre Herrin zu grüßen.

Die eld-yarlara thronte vergnügt auf ihrem komfortablen Reisekarren. Der wurde von einem schneeweißen Handpferd gezogen, das Láas neben seinem Streitross herführte. Die Dame erfreute sich an dem schönen Wetter, nahm die Ehrerbietung ihrer Schutzbefohlenen huldvoll entgegen. Als hätte sie sich auf diese Gelegenheit vorbereitet, hatte sie sogar eine große Schachtel mit süßen Zelten und Konfekt bei sich. Sie verteilte die Süßigkeiten großzügig an all die Kinder, die herbei stürmten. Es war ganz verblüffend, wo diese Scharen plötzlich herkamen.

Osse war die Aufmerksamkeit unangenehm. Nicht die der Schutzbefohlenen, denn die erkannten seine Farben und sein Wappen und grüßten ihn demütig. Die Bauernkinder hingegen wussten natürlich nicht, wer er war. Aber sie staunten ihn an, tuschelten und einige der ganz Kleinen lachten unbefangen, sicherlich wegen der verfluchten Brille.

Láas und Tíjnje ritten links und rechts neben dem Karren der eld-yarlara und mussten dort sorgsam acht geben, dass ihnen nicht die vernaschten Kinder vor die Hufe gerieten. Die jungen Mädchen und Jünglinge des Grootplen’schen Hausstandes bildeten mit Jándris die Nachhut, samt vier weiteren Pferden und den Packtieren. Tridna hielt sich unauffällig im Hintergrund. Sie führte ein eigenes zotteliges Eselchen mit sich, das vermutlich mit allen Gewürzen des Weltenspiels beladen war. Sie wirkte höchst zufrieden mit dem Gang der Dinge.

Osse hatte gedacht, Tíjnje habe geflachst, als sie Packziegen erwähnte. Tatsächlich war es kein Scherz gewesen. Ab und zu stapfte eines der gehörnten Tiere zielstrebig von der Straße herunter, bediente sich an liegen gebliebenen Rüben und Kohlblättern und musste unter großer Belustigung zurückgeholt werden. Nun, noch lachten sie darüber. Der Verdruss würde sich wohl noch einstellen. Osse hatte er längst gepackt, denn jedes Mal, wenn ein Packtier auf Abwege geriet, verloren sie wertvolle Zeit.

Ähnlich sensationell wie das Zuckerwerk waren für die Kinder die Ritter zu sehen, die mit ihrem leichten Eisenzeug und bunten Waffenröcken angetan den Tross begleiteten. Mit offenem Mund und leuchtenden Augen staunten kleine Knaben zu Merrit empor, bewunderten den aufwendig mit dem Wappen bemalten Schild, den er am Riemen über der linken Schulter trug. Der Freund ritt neben Osse dem Trupp voran und hatte für seine kindlichen Verehrer wohlwollende Blicke und Scherze übrig.

Nicht nur die Kinder waren fasziniert. Auf einer Obstwiese war eine kleine Schar von fánjulaé, alle wohl etwas jünger als Truda, damit beschäftigt, Bitterbirnen von Bäumen zu pflücken. Als sie nahe genug waren, um erkannt zu werden, gerieten die Mädchen urplötzlich außer sich.

„Bei den Mächten!“, quietschte eines begeistert auf, „Seht nur, da ist Merrit Althopian!“

Die anderen beschwichtigten sie schleunig, und die fánjula verdeckte verlegen den Mund mit der Hand. Alle vier ließen ihre Erntekörbe achtlos stehen und schwärmten ihnen entgegen. Wäre die brusthohe steinerne Gartenumfriedung nicht gewesen, sie wären ihnen sicherlich vor die Pferde gepurzelt. Kichernd und untereinander flüsternd beeilten sie sich, ihn zu begrüßen.

Merrit beantwortete ihre schwärmerischen Blicke mit wohlgesonnenem Lächeln, grüßte höflich und deutete eine Verneigung an. Dann trabte er an und brachte genug Abstand zwischen sich und die mühsam beherrscht vor Entzücken seufzenden Mädchen.

Osse spornte sein Maultier an und schloss zu ihm auf. „Was war das denn?“, erkundigte er sich. Ob er belustigt oder befremdet sein sollte, das hatte er noch nicht entschieden.

„Was?“

„Du scheinst bei den Mädchen ja sehr wohl angesehen zu sein.“

„Ach was. Das sind Kinder.“

„Jubelt man dir immer dermaßen zu, wenn du dich irgendwo sehen lässt? Geziemt sich das hier neuerdings so?“ Osse tat entrüstet, aber das nur halb im Scherz. „Nicht zu fassen. Und ich dachte, nur in Aurópéa griffen Respektlosigkeiten um sich. Was sagen denn die Majestäten dazu?“

Jándris war nicht entgangen, was geschen war. Er galoppierte an die Spitze des Zuges und gesellte sich grinsend zu ihnen.

„So ist das, Eulengesicht. Kleine Mädchen haschen nach dem Konfekt, und ehe man sich versieht, sind sie auf andere Köstlichkeiten aus.“

„Rede keinen Unsinn.“

„Unsinn? Wenn du nicht im Eisenzeug wärst, die hätten dich angeknabbert. – Du musst wissen, Eulengesicht, Merrit ist nicht ohne Grund der Favorit beim vasposár.“

„Jándris!“, mahnte Merrit stirnrunzelnd.

„Der sticht mich und Láas nicht nur im Turnier aus. Weißt du, was Truda im letzten Sommer gemacht hat?“

„Meine Schwester?“

„Jándris! Das interessiert Osse nicht!“

„Er wird es doch wohl ohnehin zu hören bekommen! Jedenfalls war da dieses kleine, traute Festturnier in Valvivant. Ich weiß gar nicht mehr, was der alte teirand da zu feiern hatte, einen Gedenktag oder so was. Wir waren alle da, und am Vorabend hatten die Damen ein eigenes Fest, nur für die Frauen.“

„Es waren báchorkoray zu deren Unterhaltung da“, fiel Merrit ihm ins Wort. „Und Musiker. Und der teirand -“

„Truda“, redete Jándris ungerührt darüber hinweg, „hatte spät am Abend die Idee, dass alle Damen ihre Favoriten für das Kampfspiel am nächsten Tag im Geheimen bestimmen sollten. Also haben sie Zettelchen geschrieben und in einem Topf gesammelt. Und nun rate mal, wie es ausgegangen ist.“

„Nun, ich nehme an, jede yarlara hat ihren jeweiligen hýardor gekürt, so sie einen hatte. Oder ihren eigenen Sohn, sofern Mütter unter den Gästen weilten. Das wäre das Klügste.“

„Da waren nicht nur yarlaraé. Truda hat alle Kammerfrauen, Zofen und Mägde mitmachen lassen. Sonst wäre es ja auch zu langweilig gewesen. Ich glaube, es waren sogar drei oder vier opayraé von den jüngeren Mädchen dabei. Die Damen und fánjulaé hatten sehr viel Kurzweil dabei. Vielleicht war auch der eine oder andere Krug Wein zwischen ihnen herumgegangen.“

„Was hat unsere teirandanja dazu gesagt?“, fragte Osse, überrascht und verlegen, dass ausgerechnet seine eigene Schwester einen so übermütigen Unfug angestiftet hatte. Und das noch als Gästin des benachbarten teirand.

„Die hat am Ende geholfen die Zettelchen zu ordnen. Die Damen fanden das alles sehr unterhaltsam. Man konnte sie bis ins Zeltlager draußen vor den Mauer lachen hören.“

„Die Damen waren ausgelassen und übermütig. Nichts, was von Bedeutung wäre.“

„Fall mir nicht ins Wort, Merrit! Und am nächsten Morgen, zur Eröffnung des Turniers, hat Manjév den Herren feierlich vorgelesen, welches Urteil die Damen gefällt haben.“

„Und?“

„Herr Jándris Altabete“, sagte Merrit steif, während er Baumzweige beiseite strich, die auf den Weg überhingen, „hätte beinahe gesiegt. Würde er nicht unentwegt so viel dummes Zeug reden, wären ihm die Damen noch wesentlciher gewogener gewesen.“

„Selbst wenn man sämtliche yarlaraé herausrechnet“, stichelte Jándris, „hat Merrit die Burg für sich eingenommen, bevor er auch nur eine Lanze anlegen musste.“ Jándris grinste breit. „Und wer weiß, was passiert wäre, wenn er das getan hätte.“

„Was?“, fragte Osse verwirrt.

„Na, seine Lanze präsentieren. Bei den Mächten, nicht auszudenken! Reihenweise wären die Damen dahingesunken!“

Er duckte sich lachend weg. Merrit hatte in einer blitzschnellen Bewegung seinen Schild angehoben und dessen Kante in Jándris Richtung geschwenkt.

„Du solltest besser wieder zurück nach hinten reiten und die jungen Leute hüten“, rief der junge Mann ärgerlich aus. „Nicht, dass die fánjulaé da hinten sich Sorgen um dich machen.“

Jándris seufzte geziert. „Die sind so anstrengend. Die Mädchen sind unentwegt am Plappern. Die sind außer sich vor Aufregung, dass sie Manjév begegnen und in der Burg wohnen werden. Und die Kerle fragen mich um Rat, wie man denn mit den fánjulaé in Wijdlant anbandelt.“

„Wieso fragen sie ausgerechnet dich das?“, knurrte Merrit.

Jándris schnaubte gekränkt, grinste Osse zwinkernd zu und wendete sein Pferd.

Zwischenzeitlich hatten sie die Gärten hinter sich gelassen. Auch die Kinderschar konnte nicht mehr Schritt mit ihnen halten. Der Tross bewegte sich unter dem blaustrahlenden Himmel voran, in gemächlichem Tempo. Und doch zog sich die Gruppe immer weiter auseinander. Der Reisekarren der eld-yarlara zuckelte in gleichmäßiger Geschwindigkeit voran, aber die Mitreisenden mit dem Gepäck fielen immer weiter zurück. Das lag nicht nur an den Packziegen.

„Das Turnier, um das es gerade ging“, sagte Merrit nach einer Weile, „habe ich übrigens gewonnen.“

„Tatsächlich?“

„Es war ein schweres Stück. Am Ende ging es gegen den yarlandor von Tjiergroen, Herrn Tessorú. Der hat einen starken Arm, das sag ich dir. Drei Lanzen hab ich an dem zerbrochen, bevor er endlich vom Sattel war.“ Er überlegte kurz und fügte hinzu: „Benjus von Valvivant schickt ihn beim vasposár wieder in die Schranken. Das wird ein harter Kampf. Ich glaube, die Schmach will der Kerl nicht auf sich sitzen lassen.“

„Diesmal brauchst du nur zwei Lanzen. Ganz bestimmt. “

Merrit lächelte matt. „Weißt du, was Jándris da so daherplappert – das mag ja recht und billig sein. Aber es interessiert mich alles gar nicht.“

Osse schwieg auffordernd. Merrit druckste einen Moment lang herum, seufzte und blickte verlegen auf seinen Sattel hinab. „Wer weiß, wessen Namen Manjév auf ihren Zettel geschrieben hat. Dieser eine Zettel mit meinem Namen in ihrer Schrift, der würde mir so viel mehr bedeuten als aller Ruhm und Bewunderung. Was soll ich denn mit all den anderen? Das ist doch alles leere Eitelkeit.“

„Warum kümmert es dich dann?“

„Nun, was mag Manjév nur annehmen? Vielleicht genau das Verkehrte?“

„Wenn ich es verhindern kann, dann versuche ich, dass Truda ihren unschuldigen Unfug nicht noch einmal wiederholt.“

„Danke. Das würde mich beruhigen.“ Merrit lächelte. „Du darfst nichts Sonderbares von mir denken, Osse. Diese Schwärmereien sollten mich ehren, ich weiß. Aber ich mache mir nichts daraus.“

„Solange sich Láas und Jándris auch nichts daraus machen?“

„Jándris ist ein Schalk. Der hat nur Spaß daran, mich aufzustacheln. Und Láas, nun …ich glaube, sobald man seine hýardora gefunden hat, werden Schwärmereien nichtig wie Rauch im Wind. Keine Eifersucht, keine Missgunst mehr. Die beiden sind mir voraus.“

Osse horchte auf. Hier, unter freiem Himmel, in Hörweite von Mitreisenden, war es vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt und Ort. Aber wenn es Merrit gerade jetzt danach war, mehr zu erzählen …

Aber es kam nicht dazu. Diesmal war es Tíjnje, die ihren falben Zelter zwischen das Maultier und das wuchtige braune Streitross lenkte. Vornehm und liebreizend sah sie auf. Über ihren dunklen Locken trug sie einen Kopfputz mit einem bunt bestickten Schleier und ein zartgrünes Gewand. In die Mähne ihres Pferdes waren farblich darauf abgestimmte Schleifchen eingeflochten. Sie sah bezaubernd aus. Sicher würde sie beim vasposár die Blicke mancher junger Herren auf sich ziehen.

„Was habt ihr zwei mit Jándris gemacht?“, erkundigte sie sich. „Er klagt, du bist gemein zu ihm gewesen, Merrit!“

„Er konnte seinen Mund nicht halten. Irgendwann werd ich ihn …“

„Ach so.“ Tíjnje winkte ungerührt ab. „Hört mir jetzt zu, solange Großmutter abgelenkt ist und die Stoppelfelder bestaunt. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir heute Abend zeitig in der Herberge ankommen. Wahrscheinlich machen die Gastwirte ziemlich großen Aufwand. Immerhin ist ihre yarlara zu Gast, und wir sind angekündigt. Seid artig und höflich und benehmt Euch vorbildlich bei Tisch. Und wenn der Bote kommt, dann tut ihr ganz überrascht. Gebt euch Mühe!“

„Welcher Bote?“

„Der, den ich dorthin bestellt habe. Es ist ein Eilbote aus Wijdlant.“

„Natürlich. Woher sonst?“

„Er hat einen Brief von Manjév. Merrit Althopian und Osse Emberbey haben sich auf ihr Verlangen unverzüglich und ohne Umschweife nach Wijdlant zu begeben.“

„Ein Brief von Manjév?“, fragte Merrit mit zaghafter Überraschung. „Tatsächlich?“

„Sie hat ihn geschrieben und zwei Tage nachdem wir losgeritten sind, abgeschickt. Es soll doch alles echt erscheinen.“ Sie griff zu ihm hinüber und legte ihre schlanke Hand auf seine Armschiene. An seine Schulter reichte sie nicht heran. „Wenn alles gelungen ist, müsste es so geschehen.“

„Dann kommt mir dieser vorgebliche Brief gerade recht. Es treibt mich, mein Amt zu beginnen und der teirandanja endlich wieder zu Diensten zu sein.“

„Das wollte ich hören. So habt ihr zwei eine Entschuldigung, euch vom Troß meiner Großmutter zu entfernen. Wir kommen mit dem Gepäck nach. So schnell die Ziegen es zulassen. In ein paar Tagen kannst du deine Sachen in dein Amtszimmer räumen, Osse. Ich bin neugierig, wie es dir gefällt. Den Wandteppich habe ich selbst ausgesucht.“

„Das hast du großartig geordnet, Tíjnje.“

„Ich weiß“, sagte sie hoheitsvoll. „Nicht auszudenken, wenn ich die jungen Herren allein hergeschickt hätte. Im tiefen Wald herumirren würdet ihr jetzt, alle vier.“ Sie trieb ihren Falben an, um umzudrehen und fügte im Vorbeitraben hinzu: „Übrigens, Merrit, vergiss nicht, auf dem Weg zur Burg im Hauptdorf Halt zu machen. In der Schmiede ist was für dich, zum abholen.“

„Für mich? Was denn?“

„Ein zweites Pferd“, sagte sie über die Schulter. „Die teiranday glauben doch, du bist eines in Althopian holen, oder nicht? Die würden komisch dreunschauen, wenn du statt einem neuen Ross nur den neuen mynstir mitbringst.“

„Wo hast du das hergenommen?“

„Sag ich nicht. Ich bin doch Manjévs Geheimkurierin.“

Sie lächelte lieblich und galoppierte zurück zu Láas und dem Reisekarren, der schon wieder weit zurückgefallen war.