Wir treffen Galéon auf einem Marktplatz in dem Städtchen am Fuß der Burg im yarlmálon Rodekliv. Offenbar hat er gerade eine größere Gruppe von Leuten mit einer Geschichte nachhaltig verwirrt, denn die Leute zerstreuen sich leise tuschelnd und murmelnd. Sie geben sich den Anschein, nur rein zufällig an dieser Stelle vorbeigekommen zu sein und dringend andere Dinge zu tun zu haben. Galéon scheint das nicht weiter zu stören. Er wirkt sogar insgeheim belustigt. Er sitzt auf einem Treppchen, das von einer Gasse hinab auf den Platz führt und hat sein übersichtliches Reisegepäck neben sich abgestellt. Es ist Markttag, der Platz ist entsprechend belebt. Allerdings ist das Warenangebot kümmerlich, alles wirkt ziemlich ärmlich und die Leute sind auch nicht gerade bester Laune. Das könnte an dem hohen Aufgebot an leicht bewaffneten, nicht besonders freundlich wirkenden Wachleuten liegen, die wohl für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. Offenbar ist man in Alarmbereitschaft. Wir setzen uns zu Galéon.

Hallo Galéon. Hast du einen Moment Zeit für uns? Wir sind dabei, wichtige Figuren aus den Schattenherz-Chroniken zu interviewen.

„Schattenherz-Chroniken“? Das klingt interessant. Ist das eine Geschichte?

Nun ja, es …

Ich liebe gute Geschichten.

Ich weiß. Du als báchorkor [~ Geschichtenerzähler] machst das ja professionell. Und deshalb frage ich mich, ob du mir etwas über dich erzählst.

Sicher. Ich habe nicht ganz so viele Geheimnisse, wie die Leute vermuten. Was willst du wissen?

Zum Beispiel … woher stammst du?

(Er hebt ratlos die Schultern). Da hast du gleich ein Rätsel gefunden. Ich weiß es nicht ganz genau. Ich musste von zuhause fliehen, als ich ein ganz kleines Kind war. Ich erinnere mich nicht, wo genau ich geboren bin. Irgendwo zwischen Aurópéa und Ivaál muss das gewesen sein.

Wie kannst du vergessen, wo du geboren wurdest?

Ich war wirklich noch beinahe ein Wiegenkind. Jemand zeigt mir eine Straße und sagte zu mir: „Lauf geradeaus, wenn du überleben willst.“ Das ist schon eine Herausforderung für ein kleines Kind vor dem vierten Sommer.

Oha. Das klingt nach einer verstörenden Geschichte.

Ich habe das damals alles gar nicht begriffen. Ich war allein, verwirrt und hatte Angst.

 … und dann bist du losgelaufen?

Ja, immer geradeaus auf meinen kleinen Füßen. Immer dem Falken am Himmel nach. Weg von dem Feuer und dem Verderben hinter mir. So lange, bis ich gutherzigen Leuten in die Quere gekommen bin. Ein Kind mehr oder weniger … das machte in jenen chaotischen Tagen wohl keinen Unterschied mehr. Ich glaube, die Leute wussten bei all dem Durcheinander ohnehin nicht mehr genau, welches Kind zu wem gehörte.

Und wo und wie lebst du jetzt?  

Überall und nirgends. Ich bin ein báchorkor. Wir haben keine Heimat, sind immer unterwegs.

Warum bist du ein reisender Geschichtenerzähler geworden?

Nun … dort, wo ich aufgewachsen bin, wurde ich den Leuten unheimlich. Irgendwann waren sie misstrauisch und die Stimmung gegen mich schlug mit erstaunlicher Geschwindigkeit um. Da bin ich rechtzeitig fortgegangen. Alt genug dazu war ich zu diesem Zeitpunkt.

Welchem Geschlecht fühlst du dich zugehörig und welche sind deine Pronomen?

(Er guckt verdutzt.) Ich war schon immer männlich, falls das deine Frage ist. Was ist ein …

(Wir erinnern uns, dass wir mit so einer Frage in dieser Welt Verwirrung stiften) Vergiss es. Wie würdest du dich einer blinden Person beschreiben?

Willst du wissen, wie ich aussehe? Du sitzt doch neben mir.

Ja, aber nimm an, jemand würde eine Geschichte über dich hören wollen. Beschreib dich einfach.

Gut. Stell dir einen riesigen, gutaussehenden Kerl mit kantigem Kinn, breiten Schultern und makellosem Antlitz vor. Mit goldenen Haaren, stahlblauen Augen und einem gewinnenden Lächeln, furchtlos, edel und vor purer Männlichkeit strotzend, dass alle fánjulaé [~ junge Frauen] mir nur so zu Füßen liegen.

(Wir mustern ihn irritiert): Wie bitte?

Ich bin ein báchorkor. Was erwartest du denn, wenn du einen wie mich um eine Geschichte bittest? Ein bisschen Übertreibung hier und da, ein wenig Dekor und das, was den Zuhörern zu gefallen beliebt. (Er grinst.) Aber, um bei der Wahrheit zu bleiben: Das bin ich nicht, und so käme ich mir auch albern vor. Ich bin von mittlerer Größe, eher schmächtig, aber agil. Ich trage keinen Bart, habe kastanienfarbene  Augen und ziemlich wilde kupferbraune Locken. Meine Bekleidung … nun ja. Zusammengewürfelt. Abgelegtes Zeug von allen möglichen Leuten, das ich hier und da als Bezahlung einheimsen konnte. Alles etwas verwaschen, geflickt  und ausgebleicht, aber wie du siehst, habe ich eine Vorliebe für die Farbe Rot.

Hast du körperliche Beeinträchtigungen? Wenn ja, welche und wie bist du dazu gekommen?

Wenn ich über all die Unfälle nachdenke, die mir in all der Zeit widerfahren sind, dürfte eigentlich keiner meiner Knochen noch bei dem anderen sein. Aber wie du siehst, ist an mir alles heil.

Bist du ein Mensch?

Ja. Ich glaube schon. Zumindest bin ich kein Chaosgeist geworden, sämtliche Mächte seien gepriesen dafür.

Geworden?

Lange Geschichte. Vielleicht später.

Wie ist dein Verhältnis zu deiner Familie?

Wie gesagt, meine leibliche Familie habe ich früh verloren. Das Verhältnis zu den Leuten, die mich aufgenommen haben, war freundlich, aber pragmatisch. Es waren sehr harte Zeiten. Wenig Zeit und Gefühle für ein fremdes Kind.

Wo hast du als Kind gern gespielt?

Gespielt?

Du hast wahrscheinlich nicht viel Zeit zum Spielen gehabt, richtig?

Nein. Ich hatte im Grunde genug damit zu tun, zu überleben. (Ein Wachmann kommt ganz nahe vorbei und wirft Galéon einen abschätzigen Blick zu, den der junge Mann mit einem freundlichen Lächeln erwidert.)

Wann hat deine Kindheit geendet?

In dem Moment, als mir jemand befahl, dem Falken nachzulaufen und ich zum ersten Mal allein eine Straße entlang rannte. Ab jenem Moment war ich ein Fahrender. Mit Unterbrechungen, natürlich. Ich brauchte ein paar Sommer, um erwachsen zu werden.

Wie lange ist das her?

(Er beginnt, etwas an den Fingern abzuzählen. Damit ist er länger beschäftigt, als man erwarten sollte.) Hundertfünfzig Sommer. So ungefähr.

Hundertfünfz- … das ist wieder eine Geschichte, oder?

Nein. Aber du verstehst vielleicht, dass die Leute misstrauisch wurden, als ich irgendwann aufhörte, zu altern. Ich konnte es mir damals selbst nicht erklären. Also setzte ich meine Reise fort. So fiel es niemandem auf, dass ich seit Generationen im Körper eines jungen Mannes gefangen bin. Eine ziemlich elegante Lösung, wie ich finde, wenn auch eine zu einem hohen Preis.

(Das erinnert uns irgendwie an ein anderes Interview, das wir zuvor geführt haben) Weißt du, warum das so ist? Dir muss doch irgendetwas zugestoßen sein, dass dein Altern gestoppt hat. Wahrscheinlich irgendwas bizarres Magisches.

Ja, ich weiß zwischenzeitlich, woran es liegt. Es ist aber ein Geheimnis, das sich nicht allzu weit herumsprechen sollte. Und ich weiß nicht, warum es auf diese Weise geschehen ist. Es wird sich wohl zeigen.

Nun gut. Wechseln wir das Thema. Welche Tradition magst du gern und ist dir wichtig?

Ach, Traditionen … ich habe doch nicht einmal einen Ort, an den ich gehöre. Aber vielleicht könnte man das, was ich hier tue, mit etwas gutem Willen als Tradition bezeichnen.

Du meinst das Erzählen?

Ja. Ich glaube, sobald Menschen aufhören, einander Geschichten zu erzählen, geht es auch mit dem Weltenspiel zu Ende. Deshalb ist es so wichtig, dass es uns gibt, die báchorkoray. Wir ziehen kreuz und quer über das Weltenspielbrett, vom Meer zur Wüste, vom Eis bis in die Berge und tragen alles weiter, was wir zu hören bekommen. Natürlich alles ein wenig ausgeschmückt und in Form gebracht, sonst wäre es ja langweilig und voller Wiederholungen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Geschichten aufhören.

Das ist dann wohl eine sehr wichtige Aufgabe, die auf euch lastet.

Wir tragen diese Last zu Glück nicht allein. Jeder kann Geschichten erzählen. Jede Mutter tut das, jeder Vater, wen die Kinder danach fragen. Ein kleiner Funke Phantasie reicht aus. Meinesgleichen hat lediglich den Vorteil, ein besonders gutes Gedächtnis zu haben. Und ein gewisses Talent, andere zu unterhalten. Und wild lodernde Phantasie, nicht nur ein Fünkchen.

Welche ist deine glücklichste Erinnerung?

Darüber muss ich nachdenken. Ich glaube, dass mir mein glücklichstes Erlebnis noch bevorsteht. Ansonsten … kann man eigentlich glücklich sein, solange man allein ist? Solange man neben den anderen vor sich hinlebt?

Hast du denn nichts, worüber du dich freust?

(Er lacht.) Vor einiger Zeit bin ich zwei Kindern begegnet, die mir aus einer ziemlich misslichen Situation geholfen haben. Ich denke, die Mächte haben gewollt, dass ich mit diesen Kindern zusammenfinde. Das und die Dinge, die danach kamen, die trage ich nun ganz tief im Herzen.

Welche ist deine schmerzhafteste Erinnerung?

Es macht mich traurig, dass ich mich kaum an meine Mutter erinnern kann. Ich versuche oft, mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sie aussah und wie ihre Stimme klang. Aber es ist alles verschwunden, in Nebel, Rauch und Asche. Ich war zu jung.

Was ist mit deiner Mutter passiert?

(Er schaut zu Boden.) Ich hoffe, dass sie rasch hinter die Träume fliehen konnte. Es ging so schnell. Sie fielen in den Ort ein, in dem wir lebten, und bevor jemand sich besinnen konnte, war alles voller Blut und Flammen.

(Wir rechnen kurz nach): Hundertfünfzig Winter, ja? Die Chaoskriege?

Ja. Aber es war nicht der Verfluchte, der Schattensänger, der Chaosgeister beschworen hatte. Es war keine Magie im Spiel, wenn auch Magier in der Nähe waren, um sich das Spektakel anzusehen. Die Mörder meiner Familie waren Menschen. Lauter Menschen mit schmutztriefenden Herzen. Manchmal frage ich mich, was aus ihnen geworden ist. Ob sie möglicherweise … noch da sind.

Nach hundertfünfzig Jahren?

Sicher. Zeit ist belanglos für mich. Was weißt du über mich, abgesehen davon, dass ich ein báchorkor bin? Ich vermute, du weißt, worauf ich hinaus will.

Nun ja. Es wird gemunkelt, dass du ein Rotgewandeter bist, ein goala’ay. Also ein Magier, der Seelen ins Jenseits geleiten kann. Da, wo ich herkomme, gibt es sogar ein Wort dafür: Psychopomp.

(Er kichert.) Das klingt witzig. Aber es ist noch nicht ganz weit. Solange ich lebendig bin, kann ich selbst die Welt hinter den Träumen nämlich nicht betreten. Und wenn ich sie einmal betreten haben werde, kann ich nicht wieder zurück, zumindest nicht im Sinne eines Weltenreisenden. Vorerst bin ich also nichts weiter als ein Magier, der noch sehr viel zu lernen hat. Es ist alles noch ziemlich neu für mich. Aber … ich kann davon erzählen.

Stimmt es, dass du der Schüler von Gor Lucegath bist?

Macht dich das nervös?

Ein wenig.

Gor hatte eine äußerst unglückliche Lebensgeschichte, die ihn zynisch, verbittert und gefährlich gemacht hat. Aber das sollte so niemals sein. Ich bemühe mich sehr, dem Licht zu dienen, wie es gedacht ist. Man könnte auch sagen, unter den Rotgewandeten, die sich jetzt im Weltenspiel bewegen, bin ich der „nette“.

Du bist der Einzige!

Ja. Und vielleicht verstehst du etwas besser, was ich vorhin über Glück und Einsamkeit sagte. Ich bin in der Tat der Letzte. Aber vielleicht wird der Weg für etwas Anderes frei, wenn ich einmal auch nicht mehr da bin.

Jetzt muss ich doch eine sehr persönliche Frage stellen.

Nur zu.

Wenn du mehr als hundertfünfzig Jahre alt bist und trotzdem aussiehst wie Mitte zwanzig – bist du unsterblich?

Sagen wir es so: Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft Leute aus den verschiedensten Gründen versucht haben, mich umzubringen. Weißt du, ein báchorkor wird in der Regel nicht vermisst, wenn er von der Bildfläche verschwindet, also haben gewisse Leute nur wenig Skrupel, sich an uns abzureagieren. Schnöde Raubüberfälle, gelangweilte Gewalttäter, eskalierte blutige Schlägereien, in die ich hineingeraten bin, sogar Hinrichtungen habe ich überlebt. (Er wirft einen finsteren Blick hinüber zu der Wachtruppe, die jeden in ihrer Nähe nervös zu machen scheint.) Und natürlich eine Reihe von Unfällen und Krankheiten. Du denkst wahrscheinlich, das sei etwas, wofür ich dankbar bin.

Bist du das?

Nein. Ich bin bei alldem nämlich nicht unverwundbar.

Was ist das für ein Gefühl, nicht zu sterben?

(Er lehnt sich zurück und schaut zum Himmel auf.) Weißt du … Unsterblichkeit in einer vergänglichen Welt ist wider das, was die Mächte sich vorgestellt haben. Es gab und gibt in meinem persönlichen Umfeld einige Personen, die in der Tat zurzeit nicht sterben können, genau wie ich. Aber das ist etwas ganz anderes, als tatsächlich unsterblich zu sein. All diese Leute – und ich genauso – sind gegen ihren Willen und teils sogar ohne ihr Wissen Opfer eines sehr komplizierten magischen Rituals geworden. Jemand wird das eines Tages unter ganz bestimmten Bedingungen in Ordnung bringen müssen. – Du magst solche Überlegungen nicht. Frag mich was anderes.

Worauf achtest du als Erstes bei einer anderen Person?

Auf den Charakter. Das ist sehr anstrengend und oft auch sehr enttäuschend.

Wie meinst du das?

Ich lerne langsam, es zu kontrollieren und zu verbergen. Wie den meisten anderen Magiern auch sind mir Äußerlichkeiten vollkommen egal. Stattdessen bin ich in der Lage, bei einer Begegnung mit einer fremden Person genau zu spüren, wie die Persönlichkeit beschaffen ist. Es lässt sich schwer erklären. Schau zum Beispiel der Bursche dahinten. Der Waffenknecht, der gerade ganz unverfroren der Marktfrau ein Brot geklaut hat. Siehst du, wie empört sie ist, sich aber nicht traut, etwas dagegen zu tun, um keinen Ärger mit ihm zu bekommen? Sie hat Angst vor ihm. Er ist derjenige mit der Axt unter dem Gürtel. Das Brot und den Verdienst schreibt sie ab. Sie verflucht ihn mitsamt seiner Familie und dem Herrn, dem er dient.

Ja … aber …

Ja, er hat das Brot gestohlen und seine Überlegenheit ausgenutzt. Er hätte es kaufen können, dafür hat er genug Geld bei sich. Aber er will das Brot gar nicht für sich, und im Herzen schämt er sich, die arme Frau bestohlen zu haben. Er weiß, dass seine Kameraden ihn beobachten und misstrauisch geworden wären, wenn er sich nicht benommen hätte wie einer der Kerle des Herrn von Ferocrivé.

Und was hat er mit dem Brot vor?

Er wird es jemandem geben, der es braucht. (Galéon schaut dem Dieb nach. Die jammernde Marktfrau scheint ihn nicht zu interessieren.) Jemandem, den er mag und um den er sich sorgt. Vielleicht hat er einen bedürftigen Verwandten oder Freund, zu dem er sich nicht öffentlich bekennen kann oder mag. Vielleicht eine hýardora [~ Gefährtin], die er geheim halten muss.

Das ist wieder eine Geschichte, oder?

Ja. Jeder hat eine Geschichte. Und es ist eben meine Gabe, dass ich sie in groben Zügen in ein paar Herzschlägen wahrnehmen kann. Keine Details, dazu sind solche Begegnungen zu flüchtig. Der da, der Brotdieb, der jetzt wieder mit seinen Kumpanen lärmend weiterzieht, ist jedenfalls nicht das, was er auf den ersten Moment zu sein scheint. Es sind nicht alles stupide Mistkerle oder Haudraufs, (Er seufzt.) Es ist unglaublich anstrengend, dass ich all diese Dinge wahrnehmen kann. Andererseits ist es für einen goala’ay sehr wichtig, all diese komplizierten Seelendinge schnell entschlüsseln zu können. Manchmal haben wir nicht viel Zeit, wenn wir … nun … handeln müssen.

(Aus irgendeinem Grund ist es auch sehr unangenehm, ihn nicht als harmlosen báchorkor, sonders als eine Art Todesboten zu sehen). Welche Rolle nimmst du in einer Gruppendiskussion oder einer Gruppenarbeit ein?

Meinesgleichen passt nicht gut in Gruppen. Da ich immer allein bin, würde ich sagen, ich bin der Einzelgänger. Ich bin kein Draufgänger. Leichtsinn kann gerade für einen Heimatlosen wie mich schnell böse Folgen haben. Ein Mitläufer bin ich nicht, da ich mich niemals jemandem anschließen muss. Ein Feigling … hm. Auf Außenstehende könnte manches, was ich tue, wirken als sei ich nicht sonderlich konfrontationsfreudig. Meist halte ich mich aber aus Dingen einfach heraus, weil es einem goala’ay eigentlich nicht ansteht, Partei zu ergreifen. Wir sind Beobachter. Ja, Beobachter. Das gefällt mir.

Was kannst du besonders gut?

Ohne falsche Bescheidenheit würde ich sagen, dass ich ein gewisses Talent zum Geschichtenerzählen habe. (Er ist definitiv belustigt.) Außerdem gelingt es mir immer wieder, mich in bedrohliche Situationen zu bringen und mich aus denselben wieder herauszuwinden.

Was kannst du überhaupt nicht?

Ich weiß nicht. Als báchorkor muss man gut improvisieren können. Aber ich habe wohl noch genügend Zeit, um herauszufinden, wobei ich versage.

Was würdest du gerne können?

Mein Ziel ist es, einmal ein würdiger  goala’ay-Meister zu werden. Ich möchte mich frei in den Träumen und der Welt dahinter bewegen können und den Sterblichen den Weg dahin weisen.

Das ist gruselig.

Nein, ist es nicht. Glaub mir. (Er lächelt. Er hat ein unglaublich beruhigendes, gütiges Lächeln.) Gruselig wäre es, wenn niemand da wäre, um einen zu führen.

(Das Thema ist unangenehm und passt auch nicht zur Situation. Vielleicht bekommen wir ihn auf positivere Gedanken.) Welcher ist dein innigster Wunsch?

Ich möchte nicht allein sein. Versteh mich nicht falsch: Ich werde immer ein ruhelos Umherziehender sein. Der Gedanke, sesshaft zu sein ist für mich absurd. Aber ich möchte andere um mich wissen, vor denen ich kein Geheimnis haben muss. Die erkennen, wer und was und warum ich bin und mit denen ich über Dinge reden kann, die andere verstören würden, so wie dich gerade jetzt. Nun, da ich andere Magier kennengelernt habe, kann dieser Wunsch wahr werden.

Woran glaubst du aus tiefster Überzeugung?

Ich glaube, dass das, was im Weltenspiel geschieht, ursprünglich perfekt und sinnvoll war und es wieder werden kann.

Wovor hast du am meisten Angst?

Ich bin einmal den echten, den puren Chaosgeistern begegnet. Manchmal habe ich Alpträume davon. Sie sind entsetzlich. Ich habe Angst davor, was geschieht, wenn die Grenzen des Chaos einmal zusammenbrechen und diese Wesen auf das Weltenspiel losgelassen würden. Niemand wäre in der Lage, sich gegen diese Schrecken zu verteidigen.

(Wenn selbst er so etwas für denkbar hält, ist es ziemlich beängstigend. Schnell wechseln wir das Thema.) Was schenkt dir innere Ruhe?

Das lässt sich einem Menschen sehr schwer erklären. Es hängt mit Dingen zusammen, über die ich bereits Bescheid weiß. Dinge, über die ich nicht nachrätseln und mir darum Sorgen und Gedanken machen muss. Das ergibt eine gewisse Gelassenheit.

Kannst du mir mehr darüber erzählen?

Nein. Jetzt noch nicht. Du bist noch nicht so weit, dass du diese Geschichte brauchst. Frag mich nach etwas Greifbarem.

Na gut. Worüber freust du dich?

Ich freue mich darüber, wenn ich Leute mit meinen Geschichten bewegen, ihnen eine Freude machen oder sie zum Lachen oder Weinen bringen konnte. Je nachdem, was sie gerade brauchen, was gut oder heilsam für sie ist. Und ich freue mich, wenn sie mir dafür etwas zurückgeben. Eine Mahlzeit zum Beispiel, oder einen sicheren Schlafplatz für die Nacht. Ein bisschen Geld ist auch nicht schlecht.

Das klingt unerwartet belanglos …

Ich bin ein báchorkor. Ich muss jeden Tag zusehen, womit ich mein Leben bestreite. Ich brauche zu essen, und es ist nicht sonderlich angenehm, nachts unter freiem Himmel zu übernachten. Da ist es schon erfreulich, wenn jemand meine Darbietungen zu honorieren weiß und ich mich für den Moment nicht um Brot und Schlaflager sorgen muss.

Hättest du als goala’ay, als Magier nicht ganz andere Möglichkeiten, dein tägliches Leben zu verbessern?

Was soll ich deiner Meinung nach machen? Mir ein kleines Häuschen zaubern und einen Acker und etwas Vieh gleich dazu? So funktioniert das nicht. Goala’ay waren schon immer Fahrende. Die meisten haben sich allerdings mit unerfreulicheren Tätigkeiten ein Auskommen gesichert als ich. Wenn du dich ein wenig mit uns auskennst, weißt du, wie ich das meine. Den Mächten sei Dank, das ist mir erspart geblieben.

(Das können wir uns vorstellen.) Wofür bist du sonst noch dankbar?

Ich danke den Mächten, dass ich endlich so etwas Ähnliches wie meinesgleichen gefunden habe. Ich sehe langsam klarer, was meine Bestimmung im Weltenspiel ist, was von mir erwartet wird. Ich weiß endlich, was es mit mir selbst auf sich hat, und muss nicht mehr darüber nachrätseln.

Kannst du denn dann nicht einfach im Etaímalon oder im Cielástel unterkommen?

Nein. Im Heiligtum von Pataghíu oder Noktáma habe ich nichts zu suchen. Ich muss nahe bei den Menschen bleiben.

Was findest du unheimlich?

Unheimlich … es gibt nichts, was ich schauerlich finden würde, wenn du das meinst. Es gibt keine Gespenster oder heimtückische Monster im dunklen Wald. Es gibt aber Dinge, die ich fürchte, wie die bereits erwähnten Chaosgeister. Und es gibt Dinge, die mich beunruhigen. Vor allem das, was Menschen imstande sind, anderen Menschen anzutun, und aus welch sonderbaren Beweggründen heraus.

Und was findest du erotisch?

Ich weiß wirklich nicht, was ich drauf antworten soll.

Was findest du an einer Frau – oder anderen Männern – körperlich anziehend?

Ich bin zurzeit nicht interessiert an körperlichen Begegnungen mit irgendwem. Also verschließe ich meine Augen vor Reizen jeglicher Art. Nicht, dass gewisse fánjulae nicht gelegentlich andeuten würden, dass sie … gewillt wären. Aber ich bin es nicht.

Du hattest in hundertfünfzig Jahren noch keine Beziehung oder na ja … S*x?

Nein. Und das ganz bewusst nicht. Ich bin, in Sommern und Wintern gerechnet, ein Greis, aber ich altere nicht. Ich habe keinen festen Platz in dieser Welt, und ich hätte nichts, womit ich einer hýardora Sicherheit bieten könnte. Ich lasse mich nicht verführen und … (er unterbricht sich und schaut nachdenklich ins Leere). Frag mich das in ein paar Wintern noch einmal. Ich werde dir dann vielleicht eine andere Antwort geben.

Das klingt jetzt aber sehr mysteriös.

Ja. Es hat den Grund, dass ich glaube zu wissen, warum ich in all der Zeit so jung geblieben bin. Ich glaube, die Mächte wollen, dass ich … warte.

Warten? Worauf?

Darauf, dass mich jemand … einholt. Ich will jetzt nicht darüber sprechen. Ich wünschte, ich würde mich in dieser Sache irren.

(Nun sind wir aber erst recht neugierig.) Wenn du sagst, in ein paar Wintern …

Ich bin meiner hýardora begegnet, als sie noch ein kleines Mädchen war. Aber sie weiß nichts von mir, den Mächten sei es gedankt. Und ich werde mich hüten, ihr vor der Zeit zu begegnen.

DAS ist gruselig!

Ja.

Du weißt, dass du einmal jemanden attraktiv finden wirst, der noch ein Kind ist?

Ja. Und aus diesem Grund habe ich mich seither fernab von den Orten aufgehalten, an denen ich ihr zufällig über den Weg laufen könnte. Ich weiß, wer und wo sie ist. Ich weiß, dass wir füreinander sind, weil ich sie als für mich bestimmte hýardora erkannt habe. Wenn sie sich überhaupt noch an mich erinnert, wird sie aufgrund ihrer Jugend jedoch nichts Derartiges gespürt haben. Wenn die Mächte es aus irgendeinem okkulten Grund so für sie und mich bestimmt haben, will ich doch zumindest, dass sie sich deswegen nicht entsetzen muss und mir im Alter ebenbürtig ist. Sie soll es aus freiem Willen entscheiden. Und ich hoffe, dass sie eine andere Wahl trifft, zuvor einem anderen hýardor begegnet. Ich wünschte, es wäre anders. Es sollte anders sein. Ich empfinde … ja, ein schlechtes Gewissen, obwohl ich gar nichts willentlich dazu beitrage.

(Er scheint dieses Thema nicht weiter vertiefen zu wollen. Wir machen uns unsere eigenen Gedanken. Wahrscheinlich steckt eine wirklich verwickelte Geschichte dahinter.) Kannst du gut stillsitzen oder brauchst du immer etwas zu tun?

Ein báchorkor ist nie lange an einem Ort. Daher genieße ich es, wenn ich einmal für eine Weile die Gelegenheit habe, mich auszuruhen, einfach eine Weile nichts tun, außer den Gedanken nachzuhängen. Neue Geschichten ersinnen. Ausruhen. Das ist eine sehr kostbare Zeit.

Wann warst du das letzte Mal so richtig wütend – und warum?

(Er schmunzelt.) Du würdest niemals, nie im Leben, einen wirklich wütenden goala’ay erleben wollen. Ich denke, ich bin ein sehr gelassener und friedfertiger Mensch. Es gehört schon einiges dazu, mich ernsthaft wütend zu machen. Vielleicht bin ich noch nicht bereit für Wut.

Wann hast du das letzte Mal geweint – und warum?

Geweint? Ich nehme an, du meinst jetzt nicht gerade alltägliche Situationen, in denen mir von Schmerzen oder Rührung die Tränen kamen. Das passiert mir nämlich des Öfteren. Das letzte Mal, als wirkliche persönliche Emotionen im Spiel waren, habe ich am Grab meines Meisters gestanden. Es war ein sehr persönlicher Moment.

Inwiefern?

Ich habe ein Geschenk erhalten. Ein sehr wertvolles Geschenk, von dem ich befürchte, dass ich mir eines Tages wünschen werde, ich hätte es nicht bekommen. Aber wer weiß? Ich kann nicht in die Zukunft blicken. Vielleicht wird alles ganz anders kommen. (Er wirft einen nachdenklichen Blick auf sein Reisegepäck. Ein länglicher Gegenstand ist dabei, aber da er in Stoff eingewickelt ist, kann man nur spekulieren, was es sein könnte.)

Worüber hast du dich das letzte Mal so richtig gefreut?

Über ein ganz anderes Geschenk. Ein kleines Mädchen hat mir einmal für eine Geschichte eine Blume geschenkt. Das war einerseits sehr süß, andererseits hatte es eine besondere Symbolik, denn ich weiß, was es mit dieser Blume auf sich hatte. Eine freundliche Erinnerung an ein anderes kleines Mädchen, dem ich vor langer, langer Zeit ebenfalls einmal ein Märchen erzählt habe. Aber das ist fast schon wieder eine eigene Geschichte wert und würde weit von hier weg und zurück in der Zeit führen.

Wann musstest du das letzte Mal richtig lachen – und warum?

Mit dem Humor ist das so eine Sache, bei goala‘ay ebenso wie bei báchorkoray. Ich mag die Märchen, die jemand, den ich zwischenzeitlich gut kenne, aus einer anderen Welt mitgebracht haben – sie sind so herrlich albern. Ich kann mich daran kaum satthören. Als báchorkor muss ich natürlich meinem Publikum auch derbere und zotige Sachen vortragen können, aber das gefällt mir persönlich nicht. Auch, wenn gewisse Kreise hier einen sehr schlichten Geschmack haben, was das betrifft. (Er schaut zu einem weiteren Trüppchen von Wachleuten aus Ferocrivé hinüber und erntet seinerseits finstere Blicke.) Ich selbst mag Witze, die niemandem weh tun oder herabwürdigen. Wortspiele, Scherzfragen und solche Dinge. Geistreiche Unterhaltung, wie sie in Ivaál beliebt ist. Ich mag es nicht, wenn Leute einander auslachen oder schadenfroh sind. Das macht keinen Spaß und ist zu billig.

Erzähle etwas über die Person, der du am meisten vertraust!

Nicht, dass ich einer Reihe anderer Leute nicht vertrauen würde … aber ich glaube, den meisten Halt gibt mir Gor Lucegath.

Der tot ist. Ernsthaft?

Ja, warum denn nicht? Vergiss nicht, dass für einen goala’ay zwischen dem Weltenspiel und den Träumen nur eine sehr, sehr dünne Grenze besteht. Ich habe Wege, um mit ihm in Kontakt zu treten, und er lässt es sich nicht nehmen, aufzutauchen, wenn ich seinen Rat oder einfach nur seinen Zuspruch brauche. Oder wenn er mich belehren will. Natürlich spielt sich das alles nur ein meiner Wahrnehmung ab. Er kann meinen Geist und meine Träume betreten, aber natürlich nicht mehr die Welt der Lebenden. Aber das ist ganz egal. So sind wir unter uns. Gor Lucegath ist ein kluger Mann und ein überaus mächtiger Magier gewesen. Wenn ich mir vorstelle, was aus ihm hätte werden können, wenn er seinerzeit nicht den falschen Leuten gefolgt und darüber so zynisch und verbittert geworden wäre … Und außerdem: Ihm verdanke ich, dass ich damals dem Massaker entkommen bin. Er war der Mann, der mich aus dem Gemetzel herausgefischt und zur Straße gebracht hat. Er hat sein eigenes Leben riskiert, um ein kleines Kind vor der Meute zu retten, der er selbst angehörte. (Er denkt einen Moment nach.) Wenn ich darüber nachdenke … das war zu einer Zeit, als er noch Gerechtigkeit und Güte im Herzen gehabt haben muss. Ich weiß, dass er in jenen Tagen rein und aufrichtig geliebt hat. Er ist mein Mentor, auch wenn er zum Phantom geworden ist, und ich vertraue ihm bedingungslos. Er ist sehr streng und lässt mir keinen Fehler durchgehen. Aber ich könnte mir keinen besseren Meister wünschen. Auch wenn man bedenkt, dass es etwas gruselig anmuten mag, dass mich genaugenommen ein Toter unterrichtet.

(Man rechnet wirklich nicht damit, dass jemand der so nett und unauffällig daherkommt wie Galéon, so leichthin über solche beunruhigenden Themen redet.)Von wem oder aus welchem Ereignis hast du etwas Wichtiges gelernt – und was war das?

(Jetzt grinst er.) Neugier, lieber Freund, ist der Weg ins Abenteuer und zu einer Menge Unannehmlichkeiten. Immer, wenn ich meine Nase in Dinge gesteckt habe, die besser unentdeckt geblieben wären, habe ich eine Menge Prügel eingesteckt und Leuten Schadenfreude bereitet. Als ich es einmal auf die Spitze getrieben hatte, habe ich mich unwillentlich mit einem wirklich grausamen und furchteinflößenden Gegner angelegt. Aus der Sache wäre ich aus eigener Kraft nie wieder herausgekommen. Unterschätze niemals alte Leute, das ist die Lehre, die ich aus meiner Begegnung mit Úldaise Tiáramalé gezogen habe. Das habe ich gelernt. Und, dass im Weltenspiel nichts so absurd wäre, dass es nicht geschehen könnte.

Wenn du zwei Dinge in deinem Leben revidieren könntest, welche wären das – und warum?

Ich hätte seinerzeit nicht selbst nachschauen dürfen, ob es ein paar Kindern gut geht. Ich fürchte, das war der Moment, in dem ich mich unwissentlich zu nahe an eine Sache herangewagt habe, aus der noch viel Ärger erwachsen wird. Andererseits – ich habe nicht wissen können, was ich damit angerichtet habe. Und zum anderen hätte ich nie im yarlmálon Rodekliv um ein Nachtlager bitten sollen. Was gäbe ich darum, diese Erinnerung tilgen zu können. Ich hätte wissen sollen, was sich diese Scheusale unter Unterhaltung vorstellen.

Du bist hier nicht weit von Rodekliv entfernt …

Ich weiß.

Warum bist du überhaupt hier?

Ich … beobachte. (Er schaut zu den Wachmännern hinüber. Ein weiterer junger Waffenträger hoch zu Ross hat sich nun zu ihnen gesellt. Er trägt ein anderes Wappen, gehört also nicht zu der örtlichen Gruppe. Es findet ein sachlicher Wortwechsel statt.) Lass uns über etwas Angenehmeres sprechen.

Woran denkst du, wenn du zu den Sternen emporsiehst?

(Die Männer scheinen ihn zu beunruhigen. Er wirkt geistesabwesend.) Ich ärgere mich, dass ich es offenbar nicht geschafft habe, mir ein Dach über dem Kopf für die Nacht zu organisieren. (Die Bewaffneten auf dem Marktplatz scheinen seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen.). Tut mir leid, falls du etwas Romantisches erwartet hast.

Welcher ist der idyllischste Ort, den du kennst?

Ich kenne so ziemlich jeden Ort im Weltenspiel. Jeder hat seinen Reiz. Ich glaube, der schönste und zugleich sonderbarste Ort ist der Gipfel des Montazíel. Von dort oben schaut man in alle Richtungen. Und es ist unglaublich still. Nur der Wind und die Vögel am Himmel. Ab und zu ein verirrtes Gebirgs-Windninchen. Weite grüne Blumenwiesen über den Wolken. Man sieht an manchen Tagen Pataghíus Glanz und Noktámas Juwel zugleich am Himmel. Leider ist es ein gewisser Aufwand, nur für etwas Ruhe dort hinaufzusteigen. Aber es lohnt sich.

Wie sieht dein Alltag aus?

Sobald ich morgens aufwache, mache ich mich auf die Suche nach Publikum. Leute, die meine Geschichten hören wollen. Je nachdem, wo ich gerade bin, ist das mehr oder weniger zeitaufwändig. In Städten komme ich in einer Taverne oder auf einem Marktplatz zuweilen zu ein paar kleinen Münzen, von denen ich mir eine Mahlzeit leisten kann und manchmal ein billiges Zimmer. Auf dem Land kann es schwierig sein, überhaupt Leute außerhalb der Reisestraßen zu treffen. Und so bin ich eigentlich den ganzen Tag beschäftigt. Und natürlich höre ich selbst auch zu. Wenn báchorkoray aufeinandertreffen, tauschen sie Geschichten miteinander aus. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz – Geschichtenerzähler müssen ihre Geschichten teilen und einander bereichern. Und weißt du, was immer gut und unterhaltsam ist? Such dir einen Ritter und bitte ihn, dir von seinen größten Abenteuern oder Turniersiegen zu erzählen. Das wird er ohne zu zögern tun, denn meinesgleichen trägt seinen Ruhm in die Welt hinaus. Zumindest denken sie das. Ich sage dir, das ist eine Fundgrube an Anekdoten und Prahlereien, manchmal auch aufrichtiger Heldentaten. Die Geschichte von dem Ritter, der einen Drachen zähmen wollte, die ist legendär.

Konsumierst du Rauschmittel – und wenn ja, warum und in welchem Maß?

Ich trinke durchaus geistige Getränke, wenn mir welche angeboten werden, aber ich hüte mich davor, trunken zu werden. Das ist gefährlich. Ein báchorkor muss immer aufmerksam und fluchtbereit sein. Rauschzeug mag ich nicht. Als junger Mann – vor hundertdreißig Sommern oder so – war ich eine Weile in Forétern unterwegs. Warst du schon einmal in Forétern? Da reicht es mancherorts aus, eine Taverne zu betreten, um berauscht zu werden. Es ist beängstigend, die Leute zu erleben, die das Zeug auch noch zu sich genommen haben. Irgendetwas muss daran sein – aber ich denke, ich bin nicht bereit dafür und brauche es nicht. Magier erleben zuweilen Sinneszustände, die einem Rausch ähneln sollen, habe ich mir sagen lassen.

Liebst du dich selbst?

Selbstverliebt sein? Selbst verliebt sein? Sich selbst lieben? Ein sonderbarer Gedanke. Sagen wir es so: Angenommen, ich könnte mich verdoppeln und mit mir selbst umgehen. Ich denke, ich würde ganz gut mit mir auskommen. Vermutlich würde ich mir nach einer Weile furchtbar auf die Nerven gehen und mich selbst zum Chaos wünschen, aber ich würde wohl nicht anfangen, mir selbst an den Kragen zu wollen. Dafür bin ich zu gutmütig.

Bist du glücklich?

(Er lächelt wieder und steht auf. Ohne Eile packt er seine Siebensachen, hängt den mysteriösen länglichen Gegenstand über seinen Rücken und schultert seine Tasche. Auf der anderen Seite des Platzes ist Bewegung in die Gruppe der Bewaffneten gekommen. Und zwar bewegen sie sich genau auf uns zu.) Nein. Noch nicht. Aber du darfst mir gern Glück wünschen, wenn ich jetzt ganz schnell weglaufe und in dieser Stadt untertauche. Es war ein sehr inspirierendes Gespräch. Vielleicht mache ich eine Geschichte daraus. Wir werden sehen.

Er verneigt sich und schlendert davon. Die Waffenträger beschleunigen ihre Schritte. Auch er wird schneller. Dann rennt der erste los und es bricht Geschrei und Getümmel auf dem Marktplatz um. Marktstände fallen um, Sachen gehen in Scherben, Menschen rufen empört durcheinander, im Hintergrund flattern aufgebracht gackernde Hühner durchs Bild. Die Wachtruppe hetzt in die verwinkelten Gassen hinein und Galéon hinterher, der wirklich erstaunlich flink ist. Wir schauen der wilden Jagd verwirrt hinterher. Der junge Mann, der zu den Wachleuten gestoßen war, ist nicht mitgerannt. Er reitet mit beunruhigendem Grinsen an uns vorbei, auf der breiten Gasse, die in Richtung Burg führt.

Auf seiner Satteldecke ist ein Wappen mit drei Fischen aufgenäht.