Er hatte seine Wanderung auf der Suche nach einem Ausweg ziellos angefangen, aber dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit und begann, seine Schritte zu lenken. Galéon ließ es geschehen. Es war ohnehin egal, wohin er ging, denn hier gab es nichts mehr zu sehen oder zu unterscheiden. Einmal, in einer diffusen Vergangenheit in einer geregelten Welt, hatte er einen Maler bei der Arbeit beobachtet, der auf einer Palette Farben zu neuen Farben mischte. Das hatte er sehr interessant gefunden, und irgendwie erinnerte ihn das, was um ihn herum geschah, eben genau daran. Denn, das hatte Galéon damals sehr schnell verstanden, wenn alle Farben, und Raum und Zeit und Verstand zusammenfielen und verstrudelten, dann würde nichts übrig bleiben als eine formlose Suppe, oder noch weniger als das.

Für die Chaosgeister mochte das keine Rolle spielen. Die waren ohnehin bereits ein formloses Gemisch, und wenn das Widerwesen seine Domäne neu organisierte, dann würden sie vermutlich bestehen bleiben, so wie ein Knochen in einer Suppe zurückblieb, während das Fleisch zerkochte.

Galéons Magen gab ein Grummeln von sich. Kein Wunder, dass ihn der Gedanke an Suppe so beschäftigte. Wann war es gewesen, dass er das letzte Mal etwas gegessen hatte? Er konnte sich kaum daran erinnern.

Das Widerwesen war zornig. Im Grunde war das ein sehr gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass ihm etwas ganz gehörig misslungen war. Wenn es jetzt so sehr zürnte, dass es seine Domäne nahm und walkte, wie ein Kind, das mit Ton spielte und Figürchen zusammenbuk und neu schuf, dann war es damit jedoch nicht fertig. Es war so zornig, dass es das Chaos regelrecht durchknetete, wie einen Brotteig.

Nimm dich zusammen, schalt er sich. Du wirst schon noch früh genug etwas zwischen die Zähne bekommen. Vorausgesetzt, du kommst hier heraus.

Im Grund war es erstaunlich, wie leicht und unbeschwert er sich in dem brodelnden, fließenden, sich vermischenden Chaos bewegen konnte. Er schien es zu durchpflügen wie ein Fisch das Wasser, es perlte an ihm ab wie Tropfen an den Blüten einer Tümpelblume. Da war etwas um ihn herum wie eine zweite Haut, etwas Ätherisches, Gewicht- und Substanzloses, das er mit sich trug und das jeder seiner Bewegungen folgte. Es dauerte einen Moment, bis sich in ihm die Erkenntnis durchsetzte, dass er soeben seine eigene maghiscal entdeckt hatte.

Und dann fand er, was ihr zu sich geleitet hatte. Es war verzweifelt und kämpfte im Chaos wie eine Maus, die in einen Siruptopf gefallen war.

„Wieso seid ihr noch hier?”, rief Galéon und begann, zu rennen. Etwas Wütendes, Mächtiges und doch Hilfloses stemmte sich ihm entgegen, aber er lief unbeschadet mitten hindurch, offenbar zur Verwirrung der Wesenheit.

„Galéon!”, jubelte Dýamirée. Das Mädchen war nassgeschwitzt, ihr Haar klebte ihr im Gesicht, und sie zerrte an etwas, dem Farbenspiel offenbar im Weg lag. Der Hengst hatte die Augen verdreht, hechelte mit weit aufgerissenem, fangzahnbewehrtem Maul und schüttelte den Kopf, so als hielten ihn Fesseln und Zäume am Boden.

Aber tatsächlich war es wohl Advon Irísolors Wille. Der Junge war nicht minder verzweifelt und mühte sich ebenfalls ab. Beim Näherkommen sah Galéon, dass die beiden versuchten, den reglosen Körper von Yalomiro Lagoscyre auf den Rücken des Einhorns zu ziehen. Der Schattensänger war in tiefer Bewusstlosigkeit und dabei viel zu schwer und unhandlich für die beiden Kinder. Zumal das Widerwesen ihn seinerseits gepackt hatte und versuchte, ihn in den Chaosteig hineinzuzerren.

„Galéon, bitte!”, rief Advon. „Hilf uns! Er ist schwer wie ein Sack Steine!”

„Was ist passiert?” Galéon lief um das Einhorn herum. Das zähe Chaos wich vor seiner maghiscal zurück. Er packte die Beine des schwarzgewandeten Magiers und versuchte, ihn anzuheben. Die Kinder zogen weiter und tatsächlich, nun ging es leichter. Aber wie erschreckend ausgelaugt, wie unmagisch fühlte der Schattensänger sich an. Klägliche Reste der einst mächtigen Silbermagie an seinem Körper waren nicht intensiver als ein bisschen Schmutz an seiner Kleidung.

„Wir haben für die Unkundigen alle Magie weggegeben”, sagte Dýamirée und griff ihren Vater an der Schulter. „Dein Stein … ich hab deinen Stein kaputt gemacht, Galéon. Aber ich weiß nicht, wie …”

„Nicht schlimm, Dýamirée. Du hast genug Magie übrig, in dir drin. Sobald ihr hier heraus seid, musst du dich ausruhen. Ganz lange und fest musst du schlafen. Dann steigt neue Magie in dir auf, wie aus einer Quelle. Machst du das?”

Sie nickte. „Und Papa? Kannst du ihn heil machen, Galéon? Es ist so schwer und stickig hier …”

„Bringt ihn einfach so schnell wie möglich hier heraus, an einen Ort, an den ihn eine Weile niemand findet und er zu Kräften kommen kann.”

„Ich weiß so einen Ort”, sagte Advon. Der Junge hatte nun den Gürtel des Schattensängers gegriffen und zerrte ihn bäuchlings zwischen die Einhornflügel. Farbenspiel regte sich. Er wollte dringend aufstehen. „Sogar einen Wald mit echten Bäumen! Da kommt niemand hin.”

„Sehr gut. Advon, du hast nur noch wenig Magie übrig. Bring damit Dýamirée und ihren Vater ins Weltenspiel zurück. Und dann …”

„Dann?”

„Dann gehörst du auch langsam dringend ins Bett. Deine Eltern werden sich Sorgen machen.”

„Ja”, sagte der Junge gehorsam und verblüfft über diese Banalität. Das schmelzende Chaos tropfte von ihm ab.

„Was ist mit dem Fetzenmann?”, fragte Dýamirée und rückte Arme und Beine ihres Vaters zurecht, wie sie es vollbrachte. „Verfolgt der uns?”

Galéon bückte sich nach dem Zauberstab, den die Kinder achtlos liegen gelassen hatten. Das daran klebende Chaosgeistblut machte das Werkzeug nicht brauchbarer, obwohl Advon den Silberstern eingesetzt hatte. Warum Ovidáol das Fragment einst entfernt und gesondert bei sich getragen hatte, dieses Geheimnis hatte er hinter die Träume genommen. Nun, wahrscheinlich hatte er es getan, für den Fall, dass das Werkzeug in die Hände von Unbefugten fiel – was letztlich ja auch geschehen war.

„Nein. Der kann euch nichts mehr antun. Aber du solltest das hier mitnehmen, Dýamirée Lagoscyre. Wenn ihr es zurücklasst, war der ganze Wirbel hier müßig. Lasst Eure Eltern entscheiden, wo es aufzubewahren ist. Und nun beeilt euch.”

„Aber du kommst doch mit?”, rief Advon erschrocken aus. „Schnell, sitz auf!”

„Nein, Advon Irísolor. Farbenspiel kann euch und ihn sicher tragen. Ich wäre eine zu große Last, wenn ich noch mitkäme. Sein Rücken reicht nicht aus für einen vierten Menschen. Abgesehen davon … ich habe ein anderes Ziel als ihr.” Er klopfte Farbenspiel den Hals, sprengte dabei ein wenig von seiner frischen maghiscal auf Beine und Flügel des Tieres. Der Hengst erhob sich staksig, ohne dass Advon ihn freigebannt hatte. Der Junge sagte nichts dazu, aber er, sie beide schauten Galéon erschrocken und ungläubig an.

„Aber du bist unser Freund“, beharrte Dýamirée und versuchte, den Stab so zu halten, dass er nicht störte. „Wir müssen zusammen gehen!”

„Ich bin euer Freund. Ich werde immer euer Freund sein. Aber ich bin ein báchorkor, Kinder. Ich muss allein gehen.”

„Aber … wir sehen dich doch wieder, nicht wahr?”, fragte Advon leise. „Du kommst doch zurück nach Aurópéa?”

„Und in den Boscargén?”

„Natürlich. Ihr wollt doch sicher eine Menge schöner Geschichten von mir hören, oder?”

Sie musterten ihn beide auf eine sehr sonderbare Weise. Auf die Art, wie wenn Kinder es genau spürten, wenn ein Erwachsener sie mit einem Versprechen zu etwas bewegen wollte. Wenn ihnen genau klar war, dass man versuchte, sie zu vertrösten.

„Geht”, bat er sie. „Bringt euch in Sicherheit. Und … Advon Irísolor, eine Bitte an dich. Die anderen Kinder, die Unkundigen, die dürfen nicht erfahren, dass es mich gibt. Nicht, bevor ich ihnen selbst begegne.”

„Ich versteh schon. Ich werde der teirandanja ganz bestimmt nichts von dir sagen.”

„Dann fliegt. Kehrt zurück ins Weltenspiel. Die neue Partie beginnt nicht ohne euch!”

Er ließ eine weitere Portion seiner eigenen maghiscal über das Einhorn fluten, und Farbenspiel sprengte los, als habe man ihm ein Startsignal zu einem Rennen gegeben. Dýamirée warf sich geistesgegenwärtig über den Körper ihres Vaters und versuchte, sich an den Flügelwurzeln zu halten. Advon klammerte sich am Hals des Einhorns fest und grub seine Hände in die flauschige Mähne. Das Ganze sah bedenklich instabil und waghalsig aus, zumal Farbenspiel sich beim Emporpreschen in die Kurve legte und sich für einen atemberaubend steilen Winkel entschied, um das Portal zu erreichen. Galéon hörte ihn aufgeregt brüllen, buckeln und auskeilen, als das Widerwesen nach ihnen haschte, und die Kinder panisch kreischen. Dann war da ein goldener Nebel von Magie. Vermutlich wollte Advon mit aller Macht, dass niemand abstürzte. Nur gut, dass der Schattensänger für den Moment nicht mehr war als unmagisches, willenloses Gepäck. Sicher hätte es ihm nicht gefallen, unter den Bann eines arcaval’ay zu geraten, dazu noch unter einen so jungen!

Galéon schaute den Kindern und ihrem Reittier besorgt nach. Dann spürte er, wie sich das schwere, klebrige Chaos an ihm zu schaffen machte, versuchte, ihn zu umspülen und einzuschließen, mitsamt der maghiscal, wie in magisches Harz. Der báchorkor schaute sich um. Hatten die Unkundigen oder die Kinder noch etwas hier gelassen, was nicht in die Chaosmasse geraten durfte?

Ja, das hatten sie. Dort drüben im Sand funkelte es rot. Galéon schüttelte den unsichtbaren Griff ab, ging hin und sammelte zwölf rote Kristallscherben auf.

Das Chaos erbebte. Diesmal war es ein besonders heftiger Schlag. Das, was er für das Widerwesen hielt, tobte und wütete, und das, was noch stabil genug gewesen war, stürzte endgültig ein und zum Mittelpunkt zusammen. Das Portal schloss sich so schnell, dass es kaum noch groß genug war, um ein Einhorn mit ausgespannten Flügeln hindurch zu lassen.

Der Mittelpunkt, das begriff Galéon und staunte über seine Gelassenheit, das war er. Dem Widerwesen war alles entglitten, das es erbeutet und zusammengesammelt hatte, offenbar nicht zum ersten Mal. Wenigstens ihn, den wollte es nun nicht gehen lassen.

Galéon legte das Dutzend Scherben ruhig in einem kleinen Kreis um sich herum aus. Dann hoffte er von ganzem Herzen das, wer auch immer das Werkzeug ursprünglich erschaffen hatte, ihm wohlgesonnen sein würde.

Da wogte das Chaos heran, das Widerwesen brüllte so schrill, dass er sich entsetzt die Ohren zuhalten musste. Und dann stürzte er, tief, schnell und schmerzhaft, hinab wie damals, in den Brunnenschacht. Nur, dass es diesmal kein Seil gab, das ihn an ausgerenkten Armen stoppte.

***

Jóndere Moréaval trug Tíjnje ins Freie. Seine wild zuckenden Gedanken kamen langsam zur Ruhe, je länger er sie festhielt und ihr Herzchen schlagen hörte und den Mächten dankte, dass es nicht nur ein kleiner kalter Körper war, den der Turm freigegeben hatte. Dass sie aufgeregt auf ihn einplapperte wie ein Sturzbach und dabei rätselhaftes Zeug über ganz viel Sand und Nebel und grässliche Monster berichtete, drang gar nicht zu ihm durch. Die Mächte hatten ihm sein Kind gelassen. Vater und Bruder seiner hýardora waren wohlauf. Seinen Freunden und deren Söhnen schien es gut zu gehen. Und seine teiranday und die teirandanja, die waren auch wieder da. Nun konnte er von der Verantwortung lassen. Alles war gut.

Draußen stand yarl Emberbey mit einem mageren, schüchtern dreinblickenden Jungen. Das war wohl der Sohn, der, über den der Ritter so selten ein Wort verloren hatte. Was war dem Knaben zugestoßen? Wer hatte ihn so schrecklich zugerichtet?

„Osse!”, rief Tíjnje. „Schau, das ist mein Papa! Papa, das ist Osse. Er hat ein Monster verprügelt, das uns fressen wollte! Ganz feste!”

„Hast du das wirklich getan?”, fragte Moréaval, um höflich zu sein.

„Ja, Herr. Aber … es hat mir wenig gefallen.”

Moréaval wechselte einen raschen Blick mit Emberbey, dessen Gesicht unbewegt war wie immer. Dann warf er einen Blick auf den Burghof hinab.

„Was ist denn hier passiert?”, rief er aus und setzte Tíjnje ab.

„Was soll passiert sein?”, fragte Daap Grootplen, der immer noch nicht ablassen konnte von seiner Tochter.

Moréaval starrte auf den Hof. Sauber gefegt war er, ordentlich standen Gerätschaften und Behältnisse, und sogar die Feuerschalen, die zuvor Sand und Regen gelöscht hatten, waren noch da und spendeten Licht. Das Kopfsteinpflaster und die gestampfte Erde waren sauber gefegt.

„Wo sind denn alle?”, fragte Altabete verwundert. „Das ist ja menschenleer, und kein Ton zu hören!”

„Ja, Moréaval”, schloss sich Asgaý von Spagor an. „Wo sind die Leute?”

„Wo ist das Wasser, Herr?”, fragte die yarlara zurück.

„Und der Sand?”, fragte Manjév. „Wo sind der Sand und die Trümmer?”

So standen sie einen Moment ratlos, bis Waýreth Althopian sagte: „Es ist nie geschehen.”

„Nein”, murmelte Moréaval. „Da war nur eine Tür. Eine ganz furchtbar verzogene und verklemmte Tür. Und ein Unwetter. Ich hatte die Leute bis zum Morgen aus der Burg geschickt, Herr. Wegen des Dings dort oben.”

„Welches Ding?”

Sie schauten zum Himmel empor. Einige sachte Wolkenschleier zogen am Mond vorbei.

„Majestät”, sagte Moréaval tonlos. „Mein Verstand hat offensichtlich großen Schaden genommen.”

„Haben andere es gesehen?”

„Ja”, sagte die yarlara. „Ich. Und wahrscheinlich alle Schutzbefohlenen in und um die Burg.”

„Dann”, sagte Kíaná von Wijdlant, „wird man uns wohl morgen davon berichten. Und sobald der Zimmermann wieder da ist, soll er das Turmzimmer verschließen. Mit Brettern und Eisen.”

„Warum lassen wir es nicht gleich zumauern?”, fragte Altabete.

„Ich bin dabei”, rief Grootplen. „Eigenhändig! Láas, du und …” Er unterbrach sich. Alle Erwachsenen wandten sich den Kindern zu. Da standen sie, die vier Jungen und das kleine Mädchen, und scharten sich um ihre teirandanja.

„Ihr ruht euch aus”, bestimmte Kíaná von Wijdlant. „Bei den Mächten, ihr habt genug durchgemacht in dieser Nacht.” Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und bemerkte, dass etwas fehlte auf ihrem Kopf.

„Und der Goldschmied, der soll neue Kronen machen, gleich morgen”, fügte sie hinzu. „Das weist Ihr an, edle yarlara.”

„Wir haben noch die Steine”, rief Tíjnje fröhlich und schwenkte ihr samtenes Gürteltäschchen. „Bis auf einen. Der war schlecht.”

„Das macht wohl nichts, Tíjnje”, mahnte die yarlara das vorlaute Kind. „Aber Majestät … wenn ein Stein fehlt, dann ersetzt ihn gern mit diesem. Ich glaube, der hat Euch und uns Glück gebracht.”

Moréaval sah, wie sie den magischen Opal in die Hand der teiranda legte. Kíaná von Wijdlant bestaunte die Güte des Steines im Flackern der Fackeln. Und ihm entging nicht, wie die teirandanja Láas hinter ihrem Rücken am Ärmel zog, etwas zuzischte und dann einen kleinen Gegenstand zusteckte, der kurz golden aufblitzte.