
Yalomiro riss die Augen auf. Für einen Atemzug glaubte er, über sich das Gesicht einer schönen jungen Frau zu sehen, aber das konnte nicht sein. Das waren die strahlend grünen Augen von Dýamirée, und die hatte er gerade eben noch auf seinen Armen getragen.
„Papa!”, rief sie erleichtert.
„Könnt Ihr aufstehen?”, fragte ein junger Mann besorgt und packte ihn mit starken Händen, um ihm aufzuhelfen. Der Schattensänger schüttelte sich, und als er sich umsah, war der Spuk auch schon vorbei und Advon Irísolor ein zierlicher Knabe in Dýamirées Alter, wie es sein sollte.
Die Erde bebte immer noch. Tatsächlich, die Chaosgeister waren zurückgekehrt und wälzten sich in panischem Lauf beiderseits an ihnen vorbei. Offenbar hatte die vereinte Magie von Morgenkind und Abendkind so etwas wie eine magieglühende Schutzkuppel um sie alle erschaffen, der sie ausweichen mussten. Eine, die nicht einmal das Widerwesen brechen konnte. Es fauchte und zischte und kratzte daran wie ein wütendes Klauentier an einem verrammelten Fensterladen.
Yalomiro war niemals betrunken gewesen. Aber so wie er nun, das stellte er sich vor, musste es sich wohl für einen Unkundigen anfühlen. Er griff nach seiner durchbohrten Hand und verzog schmerzhaft das Gesicht. Dann stand er mühsam auf.
„Soll ich das heilen?”, erbot sich Advon eifrig. „Das kann ich jetzt nämlich. Ich hab vorhin Farbenspiels Flügel …”
„Wo sind die Unkundigen?”, fiel Yalomiro ihm ins Wort.
„Du hast sie aus dem Chaos herausgezaubert, Papa.”
„Ja, alle bis auf die drei Kinder …”
Kinder? Yalomiro hob den Kopf und sie sah dort, von dem fauchenden, flügelspreizenden Einhorn verteidigt, den Krieger, den Gelehrten und die Herrscherin, die sich geopfert hatten, um Eltern und Freunde zu retten. Advon und Dýamirée hatten die Kuppel gleich auch über sie und das Tier gestülpt, und jenseits davon stimmte etwas ganz und gar nicht mit seiner Wahrnehmung oder dem, was geschah. Etwas stimmte nicht mehr überein.
Die Zeit … die Zeit vibrierte! Die unantastbare Balance zwischen Vergangenem und Künftigem begann, langsam zu kippen. Das Widerwesen war außer sich. Es … verlor nicht gern. Und es durfte diese Drei nicht einbehalten. Das kam gar nicht in Frage!
„Kommt!”, rief er Advon und Dýamirée zu. „Schnell! Schnell! Advon Irísolor, nimm die Nadel mit!”
Er taumelte los, den Chaosgeistern entgegen, die sich nun bewegten, als müssten sie gegen heftigen Wind anstürmen. Das Widerwesen hetzte sie auf, trieb sie, prügelte auf sie ein. Aber den Schutzbann konnten sie nicht durchbrechen.
Er hastete auf die drei Kinder zu, die viel zu alt waren. Advon und Dýamirée folgten ihm, ohne Fragen zu stellen. Vielleicht konnten sie das Stolpern in der Zeit nicht sehen. Die gemeinsame maghiscal reichte aus, um sie zu schützen. Dýamirée drückte den roten Stein fest an sich, in dem nur noch wenige bunte Funken flirrten. Endlos war ihre Kraft nicht.
Schade, dachte Yalomiro. Gerade jetzt wäre ein klein wenig Allmacht so nützlich gewesen. Aber dieser Bannkreis, diese unsichtbare Barriere, die ihnen ihr eigenes Tempo, die Eile gewährte, die war ganz vorzüglich, wenn auch etwas unbeholfen. Nicht schlecht für einen ersten Versuch und atemberaubend in seiner Kraft.
„Ich hab Mama beim Üben zugeschaut”, erklärte Dýamirée, ohne dass er eine Frage aussprechen musste.
„Meister Yalomiro!”, rief Manjév von Wijdlant und Spagor freudig aus und kurz schien es, als wolle sie auf ihn zustürmen. Er breitete die Arme aus und sie blieb erschrocken stehen. Warum starrte sie ihn so an? Als was erschien er ihr? Als uralter Greis? Nun, es schien nur einen kurzen Moment anzuhalten. Die Monster tobten ringsum, langsam und lahm wie eine Schnecke.
„Keine Zeit”, rief er den drei Unkundigen entgegen. „Merrit Althopian! Gib mir den Stab zurück!”
Der Ritter warf ihm gehorsam den Zauberstab zu. Der Eiskristall an der Spitze war wieder heil. Jemand hatte den Silberstern darin eingepasst. Ekelig verklebt war das kostbare Werkzeug. Offenbar hatte der künftige Krieger Ovidáol Etaímalars kostbares Meisterstück für ganz handfeste Dinge zweckentfremdet. Yalomiro lehnte den Stab gegen seine Schulter und neigte sich zu ihnen hin.
„Kinder”, fragte er die beiden jungen Männer und die Dame eindringlich, „wie fest seid ihr einander verbunden? Seid ihr stark genug, um auch künftig zu widerstehen, egal was euch begegnet und zu verführen versucht?”
Wenig verwunderlich, war es Osse Emberbey, der Gelehrte, der begriff, worauf er hinaus wollte.
„Wir haben beide zweimal unser Treueversprechen gegeben”, sagte er sachlich.
„Auf eigenen Wunsch?”
„Auf meinen Wunsch”, sagte Manjév von Wijdlant und Spagor fest, eine fánjula, deren Anmut und Liebreiz einst die Begierde zahlreicher eifriger Männer entflammen würde. „Aber … dafür gibt es keine Zeugen.”
Nun, das war egal. Solange die drei es voreinander bezeugten, würde es reichen. Yalomiro seufzte müde, und die drei erschienen seinen Augen wieder in ihrer unschuldigen Kindergestalt. Das Widerwesen und seine Geschöpfe randalierten jenseits des Schutzschildes.
„Legt eure Hand in meine”, wies er sie an. „Das Blut könnt ihr später abwaschen, aber für den Moment müsst ihr es berühren. Advon Irísolor, die Nadel …”
Der Junge eilte heran und hielt ihm das Kleinod skeptisch entgegen. Wahrscheinlich fürchtete er, er könne sich erneut damit verstümmeln.
„Die gehört tatsächlich der yarlara von Moréaval? Der hýardora von Herrn Jóndere? Ganz ohne Zweifel?”
Die teirandanja nickte. „Tíjnje und ich haben uns oft das schöne Geschmeide ihrer Mutter angeschaut.”
„Dann nehmt es und haltet es gut fest. Ich werde jetzt mit euch und der Nadel versuchen, was ich zuvor mit dem Brett getan habe. Die Sache ist nur, dass ich keine Gewalt über Gold habe, aber es ist das einzige Objekt, das nach Wijdlant gehört, das uns verfügbar ist. Dýamirée? Kannst du noch ein letztes Mal meine Magie stützen?”
„Mir tut das Gold nichts an. Ich weiß nur nicht, wie es geht. Zeig es mir, Papa!”
„Und was mache ich?”, fragte Advon begierig. Die teirandanja nahm ihm die Nadel vorsichtig ab.
„Du fängst dein Einhorn ein und hältst dich bereit. Wenn das hier glückt, ist von mir keine Magie für uns mehr übrig. Dann müsst ihr um euer Leben laufen. Dann musst du meine Tochter beschützen.”
„Ich? Aber …”
„Ich vertraue darauf, dass du mein Vertrauen nicht enttäuschst, Advon Irísolor. Du wirst einmal verstehen, wie ich das meine.”
Der Junge wandte er sich seinem Ross zu und begann, es mit beschwichtigenden Rufen zu locken. Merrit Althopian trat vor. Ehrfürchtig legte er seine Fingerspitze an die Nadel, mit erstaunlicher Behutsamkeit angesichts dessen, dass er eben noch Monster hatte erschlagen wollen. Osse Emberbey tat es ihm gleich, mit einer Hand, die einmal für seine teiranda kein Schwert, sondern die Feder führen würde.
„Und wenn es nicht glückt?”, fragte Manjév leise.
„Fürchtet Ihr Euch?”
„Ein wenig, Meister Yalomiro.”
„Majestät, dazu besteht kein Anlass. Nicht, solange ihr eure Herzen unbefleckt und euren Geist lauter und gerecht haltet. Das mag euch dreien nun klingen wie das weise Gefasel eines alten Mannes, der nichts von dem weiß, was in euren jungen Seelen vorgeht. Aber vielleicht erinnert ihr euch zur rechten Zeit an meine Worte. Und nun greift zu. Nehmt meine Hand.”
Er lächelte der teirandanja aufmunternd zu und versuchte zu überspielen, wie beunruhigt er tatsächlich war. Da war etwas in den Geist des Mädchens eingedrungen, etwas Giftiges, etwas Fremdes, das es selbst bemerkt hatte und das ihr Angst machte. Sie war sich dessen bewusst und würde es im Zaum halten, solange sie konnte. Mochten die Mächte geben, dass das Widerwesen von ihr abließ, bevor sie es nicht mehr zum Schweigen bringen konnte. Darüber würde er wachen müssen. Manjév von Wijdlant und Spagor durfte es nicht bekommen!
Sie zögerte. Dann fasste sie mit ihrer Hand nach denen der Jungen. Fünfzehn Kinderfinger verschränkten sich ineinander und um die Nadel herum. Die anderen fünfzehn lagen auf seiner Hand und wurden klebrig vor Blut. Gern hätte er das vermieden, aber um noch einmal eine magische Schnur zu erschaffen, reichten weder Zeit noch Material. Yalomiro nickte Dýamirée zu.
„Wir kommen euch besuchen”, sagte Dýamirée zu den Kindern.
„Wir werden euch erwarten, dich und deinen Freund und eure Eltern”, antwortete Manjév. „Am Meer. In Spagor.”
Schattensänger!, tobte das Widerwesen dumpf jenseits der Barriere. Das nützt dir gar nichts! Sie sind verloren und gehören mir! Wenn du sie mir wegnimmst, dann soll niemand sie haben!
Du hast wenig Macht im Weltenspiel, antwortete Yalomiro kalt. Zu schnell. Zu flüchtig. Zu wenig Zeit. Du hast keinen Körper, der für dich schaut und handelt. Sie werden dir entwischen wie die tanzenden Mücken über einem Teich!
Du ahnst nicht, wie weit meine Macht reicht! Du hast überhaupt keine Ahnung, was geschehen kann! Was ich noch im Weltenspiel habe! Aber du wirst es bald zu spüren bekommen, wenn du es wagst! Wenn du nicht augenblicklich einhältst mit deinen wirren Zaubereien!
„Kleiner Stern?”
Sie legte ihre Hand in die seine. Ihre eigene dunkle maghiscal verband sich mit der seinen, und er begann, zu singen. Sie hörte einen Moment zu und stimmte dann mit ihrer süßen Kinderstimme ein, als habe sie das Lied schon tausendmal gesungen.
Ein Herzschlag nur, flehte er, Noktáma, schenke den Kindern nur den einen Herzschlag, so wie du es den anderen gewährt hast.
Das Einhorn trabte heran, Advon Irísolor auf dem Rücken, und keinen Moment zu spät.
„Ich will”, rief der Sohn der fajía, das mächtige Abendkind aus. „Ich will!”
Und im selben Gedanken zersprang der rote Stein in Dýamirées Hand und die allerletzten Partikel ihrer Magie zuckten in den Zauber und in die Kinder hinein und ließ drei Herzen rückwärts schlagen.
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