
Es war ein Alptraum. Es war schon die ganze Zeit ein Alptraum gewesen, aber obwohl nichts um sie herum so war, wie es richtig und den Mächten gefällig gewesen wäre, fühlte es sich von Moment zu Moment wirklicher an. Der Alptraum verzerrte sich und wurde zu einer verwirrenden, intensiven Realität, jenseits der Wirklichkeit. Und das tat furchtbar weh.
Das Einhorn umzirkelte sie aufgeregt, als wisse es, dass es seinen jungen Herrn vor Ablenkung schützen musste. Es schnaubte und prustete und spreizte drohend seine Schwingen aus, jede lang wie eines der Ruderboote der Fischer daheim in Spagor. Dass das wunderbare Geschöpf dabei verstört aussah wie ein in die Enge getriebenes Reh, das passte zu der erdrückenden Schrecklichkeit. Es war der Sog von Ereignissen, von denen einfach klar war, dass sie misslingen mussten.
Manjév fühlte sich eingeengt zwischen ihren Eltern. Ein seltsamer Widerstreit zwischen dem Schutz, den die beiden ihr mit ihrer Liebe und Sorge boten, und der Hilflosigkeit, der Tatenlosigkeit, zu der sie selbst dadurch gezwungen war, zerrten an ihr.
Kíaná von Wijdlant hatte ihre Stirn auf den Kopf ihrer Tochter gesenkt, die Augen geschlossen, in Erwartung des Unvermeidlichen. Asgaý von Spagor hatte seinen freien Arm um sie beide geschlungen. Ihr Vater beobachtete mit zunehmender Verärgerung, wie der seltsame blonde Junge in den schillernden Gewändern an der Goldnadel in der Hand des Magiers zerrte. Das Kind, das wohl zu den Regenbogenrittern gehörte und ihnen Hoffnung gemacht hatte, versagte gerade in seinem Tun, es scheiterte an einem Stück Haarschmuck. Meister Yalomiro war reglos, wehrlos, wie sie alle dem Verderben ausgeliefert, das sie in wenigen Augenblicken erreichen und zwischen sich zerfetzen würde. Das versetzte die teirandanja in Angst und Schrecken. Was immer hier geschah, es hatte den mächtigen, den gütigen Schattensänger besiegt. Es war vorbei, egal, ob der Junge die Nadel noch lösen konnte. Es war zu spät, für sie alle.
Ob es sehr weh tat, wenn man zertreten oder in einem dieser geifernden Mäuler von Zähnen durchbohrt würde?
Aber der fremde Knabe, der nicht viel älter sein konnte als sie selbst, der gab nicht auf. Er mühte sich, auf eine ganz seltsame, unverständliche Weise angefeuert von dem Mädchen, das zugleich mit dem Kristall auf das Brett eintrommelte. Sang das Mädchen etwa, mit einer sonderbar melodischen, fiebrigen Stimme? Ihre Augen waren neblig, ihr Blick blind und dabei so konzentriert, als blicke sie in sich selbst hinein.
Die wilden bunten Lichtfunken glitten über sie alle hinweg.
„Manjév!”, flüsterte Tíjnje. „Manjév … ich hab Angst!”
Die Fingerspitzen des Kleinen berührten ihren Unterarm. Weiter langte Tíjnje nicht an sie heran, denn Daap Grootplen versuchte, sie und Láas gleichzeitig zu halten. Láas’ Gesicht war kreidebleich. Wie gelähmt starrte der große, kräftige, sonst so überlegene Junge die Grässlichkeit an, die sich vor Merrit aufbaute, sich mit einer lächerlichen Langsamkeit auftürmte und es erscheinen ließ, als würden sich im nächsten Moment eine Horde wilder Waldbären auf ein Mäuslein stürzen.
Und Merrit? Der schien entschlossen, sich nicht kampflos zertrampeln und zerreißen zu lassen. Wie auch immer es zuschlug, er würde es parieren. Mehr als einmal würde er das nicht vollbringen, denn was immer dieser Stab war, was immer er vielleicht in der Hand eines anderen, vielleicht eines Magiers bewirkte, diese Kreaturen wären sicher nicht verständig genug, das zu begreifen. Sie aber, Manjév von Wijdlant und Spagor, sie begriff es. Merrit war entschlossen, sich zu opfern. Vielleicht dachte er, das würde die Monster ablenken, besänftigen oder verwirren, lange genug, bis die Nadel endlich nachgab.
Merrit Althopian war bereit, zu sterben, damit sein Vater, sein Freund und die anderen die Chance hatten, zu leben. Vielleicht warf er sein Leben auch vor sie, seine teirandanja, wie einen Schild, der zerbrechen würde.
Manjév ächzte von Scham.
„Irre”, stammelte Jándris panisch. „Das Wiegenkind ist komplett irre!”
„Jándris”, kam es von Andriér Altabete, mit einer Zärtlichkeit, die Manjév noch nie an ihm gehört hatte. Der Ritter verzog das Gesicht, als wolle er vor den anderen nicht weinen. Wie unnötig, nun Stärke zeigen zu wollen. „Jándris … so sollte es nicht sein!”
„Vater! Ich …” Jándris schluchzte. Dann packte er fest die Hand der yarl.
„Ich will“, beschwor der Blonde wütend die Nadel, den Stein, das schwarzhaarige Mädchen, vielleicht auch alles zugleich, „ich will, dass es gelingt! Ich will, dass der Zauber bricht! Ich will! Ich will! Ich will, dass niemand hier zurückbleibt!”
Ja … er wollte. Aber war das nicht kindisch und lächerlich? Nicht einmal eine teirandanja bekam alles, was sie wollte. Das hatte Manjév schon als kleines Mädchen erfahren und sich damit abgefunden. Aber, wenn man es nur geschickt genug anging, das hatte sie gelernt, bekam man dennoch manchmal mehr, als man verdiente.
„Tíjnje”, flüsterte sie Tíjnje zu, „ihr kommt alle hier heraus, Meister Yalomiro und die beiden Kinder zaubern euch ganz bald wieder zurück nach Wijdlant. Und Merrit … Merrit sorgt dafür, dass die hässlichen Monster nicht nachkommen.”
„Aber das sagst du nicht nur so … Manjév?”
Ein herzzerreißendes Schluchzen traf Manjév wie ein Hieb. Waýreth Althopian hatte tatsächlich begonnen, zu weinen. Er rief nicht nach seinem Sohn, versuchte weder, ihn zum Gehorsam zu rufen noch umzustimmen. Er hätte mit beidem keinen Erfolg. Seine Kumpane und der teirand vermieden es taktvoll, ihn anzuschauen. Und dann war es Alsgör Emberbey, der seinen Sohn losließ. Er langte über die Köpfe der beiden fremden Kinder hinweg und legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes.
„Waýreth”, flüsterte der alte Mann, und es war vielleicht das erste Mal, dass er ihn vertraut mit Namen ansprach. „Wir gehen zusammen.”
Der eisige Sand unter ihren Füßen vibrierte. Dann hatte der erste Chaosgeist Merrit erreicht. Das Wesen, ein seltsam länglicher Leib auf vier zehenlosen Füßen, mit einem ballrunden Kopf und nur einem riesigen, glühenden, lang bewimperten Auge, stutze beim Anblick des Jungen mit der Stange. Seine Arme – davon hatte es drei – waren etwas oberhalb seiner Hüfte angesetzt. Der mittlere versuchte, mit einer vielzuvielfingrigen Faust nach Merrit zu grabschen. So, wie man nach einer dreisten Fliege hascht.
Merrit aber schnellte aus dem Stand in die Höhe und schlug dem Wesen den Stab mitten ins Auge. Irgendetwas Ekelhaftes sprühte heraus.
Das Wesen röhrte auf, taumelte und hielt sich eine der anderen Hände vor das empfindlich getroffene Auge. Ein weiteres Ungeheuer glitt mit einer merkwürdigen Kreiselbewegung auf Merrit zu. Es klatschte dabei mit seinen Gliedern, einer grotesken Mischung aus wirbelnden Lederflügeln, ähnlich einer Fledermaus, und nassen Putzlappen, wie sie die Mägde zum Flurwischen benutzten. Merrit sprang über die Ausläufer der Hautlappen hinweg und riss mit einem weiteren Streich der Stabspitze einen Fetzen heraus. Das geblendete Monster stolperte über das trudelnd aus der Bahn geworfene.
„Bei den Mächten!”, rief Grootplen fassungslos aus. „Der Junge ist verloren!”
Manjév hörte ihren Vater tonlos sagen: „Wir auch. Es sind zu viele!”
„Meister Yalomiro hat sich geirrt”, wisperte ihre Mutter. „Es holt sich uns alle …”
Das mochte stimmen, aber offenbar brachte Merrits Einsatz Unruhe in die Stampede von Monstern. Nachdrängende Wesen wurden von den strauchelnden, taumelnden, aus dem Takt geratenen Wesen seitlich abgedrängt. Die Horde wich den gestürzten Körpern aus, die zu einer Art Wellenbrecher im Strom wurden. Der Ansturm teilte sich und begann, beidseitig an den um das Brett zusammengedrängten Menschen vorbeizuströmen.
Unvermittelt kam Leben in den zuvor so starren Láas. „Wir müssen ihm helfen!”, rief er aus und wollte sich von seinem Vater befreien, aber Daap Grootplen vereitelte das. „Hierbleiben! Denk an deine Mutter! An deine Schwestern!”
„Aber-“
„Du hast Verantwortung, Láas!”
„Aber die schafft er nicht alle!”, pflichtete Jándris bei.
Wayreth Althopian bäumte sich auf. Er konnte es wohl nicht mitansehen, wollte seinem Sohn zur Hilfe kommen, sich sinnlos ebenfalls in diesen fiebertraumartigen Kampf stürzen. Aber es gelang ihm nicht. Die Magie des Schattensängers zog sich um seinen Arm herum zusammen und fesselte ihn, rankte sich um ihn wie eine dicke Schlingwurzel. Manjév konnte es sehen, das bunte Funkeln setzte sich darauf ab wie eine Flechte auf faulendem Holz. Manjév staunte schaudernd. Je mehr sich jemand regte, desto fester umschlang ihn das Silberlicht.
„Hört auf!”, wies das schwarzhaarige Mädchen sie zornig mit blitzenden Augen zurecht. Manjév zuckte zusammen. Hatte da ganz kurz Silber aufgeleuchtet wie ein Lichtreflex? „Es ist schwer, euch alle zu halten! Und so zerbrechlich! Mein Papa hat nicht genug Kraft für so viele Leute auf einmal, wenn ihr so zappelt!”
„Ja”, stimmte der Junge mit ein. „Das ist wie ein morscher Korb mit ganz vielen Steinen drin!”
„Wir sind also zu viele?”, fragte Osse Emberbey ruhig. „Wir sind zu schwer?”
„Viel zu schwer”, murmelte das schwarzhaarige Mädchen bedachtlos.
Manjév spähte zu ihm hinüber. Er nahm seine Hand sachte von seinem Vater, der immer noch yarl Althopian festhielt, als fürchte er, allein gelassen zu werden.
Und dann schrie Merrit Althopian auf. Ein Chaosgeist mit einem Leib, der an einen Bullen erinnerte, setzte über die gefallenen und am Boden kriechenden, von ihresgleichen niedergetretenen Artgenossen hinweg. Anstelle von Hörnern hatte er ein breites Geweih, hart wie Stein, mit nach vorn ragenden Enden. Damit erwischte er den Jungen wie mit einer Schaufel, schleuderte ihn hoch und beiseite. Der Stab entglitt der Kinderhand und verschwand irgendwo im aufgewühlten Sand.
Manjév sah, wie Merrit durch die Luft geworfen wurde und unsanft am Boden aufschlug, viel zu gefährlich nahe in der Laufbahn der vorbeiströmenden Ungeheuer. Aus irgendeinem Grund schien dies das Einhorn zu interessieren, denn es lenkte seine Aufmerksamkeit von den Menschen am Brett auf den Knaben auf dem Boden. Mit einem dumpfen Tröten, das gar nicht zu einem so ätherischen Tier passen wollte, jagte es auf Merrit zu und bäumte sich über ihm auf, das Horn drohend in Richtung des grässlichen Hirschbullen.
„Farbenspiel!”, rief der blonde Junge besorgt, besann sich und zerrte an der Nadel. Seine Hände waren bereits ganz silbern von dem sonderbaren metallischen Blut des Magiers, das aus der Wunde hervor pulste.
Es ist nicht recht, meldete sich etwas in Manjévs Kopf zu Wort. Etwas Fremdes, das für sie dachte. Traurig, für seinen Vater. Aber du, du musst ihn jetzt nicht mehr ertragen. Du bist frei. Du muss dich nicht schämen. Du …
„Still!“, rief Manjév aus, aber das hörte niemand, denn die Stimme von Waýreth Althopian, die panisch nach seinem Sohn rief, übertönte die ihre in seinem Schmerz. Die teirandanja dachte nicht nach. „Zu schwer! Ich bin zu schwer!” Unwillig griff sie nach der silbernen Perlensandmagie, die sie an das Brett bannte, und riss sie entzwei.
Ihr gegenüber hatte Osse Emberbey genau dasselbe gedacht und getan. Er schlüpfte unter der hektisch zugreifenden Hand seines Vaters durch und rannte.
„Manjév!”, kreischte Kíaná von Wijdlant, herausgerissen aus ihrer stummen Verzweiflung. Augenblicklich wurde der Zauberfaden um sie zu einem dicken Strang und hielt sie fest.
Und endlich, genau in diesem Moment gelang es dem fremden blonden Jungen, die Nadel zu lösen. Der Arm des Schattensängers war frei, sein Körper sackte schlaff zu Boden und die farb- und lichtsprühende Magie stieß die Chaosgeister links und rechts beiseite wie Murmeln, die aneinander abprallten, und blendete Manjév. Aber sie schaute nicht zurück, als die Rufe und Entsetzensschrei der anderen vom allgemeinen Lärm zur Gänze verschluckt wurden. Entschlossen rannte sie hinter Osse her, der sich gar nicht von dem tänzelnden, drohenden Einhorn beirren ließ. Vielleicht sah er es gar nicht richtig mit seinen schlechten Augen. Er schaute sich hektisch um, entdeckte die Stange im aufgewühlten Boden. Unbesonnen und blind taumelte er mitten zwischen die Monster und riss sie gerade noch rechtzeitig an sich, bevor der schwere Huf eines Monsters darauf treten und sie brechen konnte. Dass derselbe Huf ihm dabei um ein Haar den Kopf zerquetscht hätte, schien er nicht bemerkt zu haben.
„Osse!”
Manjév hielt den Atem an. Die Kreaturen würden ihn umstoßen und zertreten und …
Die teirandanja keuchte auf. Ein betäubender Schmerz flutete durch ihre Augen, und für einen Moment sah sie dort inmitten der Monster keinen schmächtigen, blassen Jungen mit verbogener Brille. Da stand ein hagerer junger Mann, glatt rasiert, mit vornehmer Robe und gestrenger Miene. Aber, die kraftlose Schulter … Genauso wie es der Stein der Roten Dame ihr gezeigt hatte!
„Lebt er noch?”, rief Osse Emberbey, ihr mynstir, und hielt den Stab selbst so wenig drohend und dennoch tapfer genug empor, dass es die anstürmenden Wesen zu verwirren schein. Vorsorglich wichen sie im Vorüberrennen beiseite, sicher nicht seinetwegen, doch sie fürchteten den Stecken wie ein Tier eine Peitsche.
Manjév fasste sich ein Herz, tastete nach Merrits leblosem Leib. Es kostete sie Überwindung, ihn zu berühren und umzudrehen.
Wenn du Glück hast, ist er tot, raunte das Etwas in Manjév und sie schrie zornig auf vor ihrem eigenen Gedanken. Nein, das war nicht ihr eigener Wille! Das war …
Merrit sah seinem Vater sehr ähnlich. Nur seinen Bart trug er anders, verwegener. Sein Gesicht war voller blutiger Schrammen und sein Eisenzeug verbeult, als sei er seinem Pferd unter die Hufe geraten. Er stöhnte und schaute fiebrig zu ihr auf.
„Majestät?”, murmelte Merrit Althopian und blinzelte sie mit einem nebligen, wasserblauen Auge an.
„Ja”, wisperte sie verstört. „Ja, ich bin bei dir!”
„Herrin …”, wisperte er wirr und träumerisch. „Ich lebe … nur für Euch …”
Wie? Was redete er da für einen Unfug? Das klang fast nach dem vertrauten Geturtel zwischen Herrn Jóndere und Tíjnjes Mutter, das die Mädchen einmal heimlich belauscht hatte. Wie ungebührlich!
„Ruhig, Merrit. Wahrscheinlich hast du dich am Kopf verletzt”, sagte sie hastig und rieb sich die Augen. Ihr Blick richtete sich wieder. Der Junge vor ihr ächzte schmerzhaft.
„Merrit!” Osse wich mit dem Stab zu ihnen hin zurück, während das Einhorn weiter versuchte, den entgegenkommenden Monster zu drohen. „Kannst du aufstehen? Vor dir haben sie Respekt!”
Er versuchte es, aber es gelang ihm nicht gleich. Manjév versuchte, an gar nichts zu denken, und stützte ihn. Osse gab ihm seine Waffe zurück, vielleicht als Krücke. Das Einhorn stand mit gesenktem Horn vor ihnen und bot den Chaosgeistern die Stirn, hatte sich wohl entschieden, ihnen freiwillig beizustehen. Die buntfunkelnde Magie war verschwunden, und ihre Eltern und Tíjnje, Láas, Jándris und deren Väter waren fort.
Hinterlasse einen Kommentar