
Das Widerwesen war abgelenkt, von etwas, das es ganz offensichtlich für wesentlich wichtiger hielt als die Menschenwesen, die vorzeiten in seine Domäne geraten waren, wie Staub, der sich in einem Zimmerwinkel absetzt. Gut so.
Galéon hoffte, dass es sich lange genug mit dem abgab, was immer der Schattensänger da zaubern mochte, um seine unkundigen Freunde zu retten, die Erwachsenen, vor allem aber die Kinder. Die Kinder lagen Yalomiro Lagoscyre am Herzen, das hatte Galéon überdeutlich spüren können, obwohl der Magier den weit größeren Teil seiner Gedanken vor ihm versiegelt und verborgen hatte. Nun, dieses Misstrauen war verständlich. Denn wann mochte ein camata’ay einmal etwas Freundliches von einem Rotgewandeten erfahren haben?
Mochten die Mächte geben, dass die Kinder ins Weltenspiel zurückfanden, um dort zu vollbringen, was die Mächte ihnen vorbestimmt hatten. Mochten die Mächte die teirandanja beschützen und Einsicht mit ihr und ihm zeigen. Wirklich darüber nachdenken konnte er jetzt nicht. Nein. Vielleicht war dies das letzte Mittel gewesen, eine gemeine List, um ihn davon abzuhalten, sein Meisterstück zu erfüllen. Oder eine Prüfung.
Galéon hatte die Minderen Chaosgeister um sich versammelt. Das war viel einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Offenbar war das, was ein báchorkor ihnen zu bieten hatte, weit verlockender, als bittere Rache an Ovidáol Etaímalar zu üben.
Die ersten Chaosgeister waren ihm neugierig und vertrauensvoll gefolgt, durch den Nebel, den gefrorenen Sand hinauf, bis sie die Kuppen der Hügel erreichten, an welche Noktámas Domäne angrenzte. Galéon ließ alles andere hinter sich zurück, kletterte so weit nach oben, wie es ging. Bald kamen die ersten Chaosgeister nach, wagten sich zaghaft aus dem wabernden Dunst hervor, der wie eine Wolkendecke um die Hügelkuppe festhing. Es waren bereits mehr als nur jene, die er von dem Verfluchten abgelenkt hatte. Offenbar waren sie sich ähnlich genug, dass sie sich auf irgendeine rudimentäre Art miteinander verständigen konnten. Vielleicht teilten sie die Spur eines gemeinsamen Bewusstseins.
Galéon ließ sich mitten auf dem Hügel nieder und schlug die Beine untereinander. Das letzte Mal hatte er so in der Villa eines reichen Greises gesessen und alten Leuten mit zerbröckelndem Verstand schöne Erinnerungen zurück gegeben.
„Kommt”, lockte er nun die Verirrten und Verschleppten. „Kommt nahe an mich heran. Nicht, dass euch etwas von meinen Worten entgeht. Ich bin einen weiten Weg gegangen, um euch zu finden.”
Er wartete. Mehr und mehr mindere Chaosgeister strömten herbei. Sie umringten ihn. Keiner griff ihn an.
„Setzt euch”, forderte er sie auf. „Es wird eine lange Geschichte werden. So lange müsst ihr nicht stehen. Ruht euch aus. Lasst die bösen Gedanken hinter euch. Hört mir zu!”
Sie scharten sich um ihn, neugierig, aufmerksam, begierig. Es hatte etwas von der Art, wie arglose, vertrauensvolle Kinder einem báchorkor begegneten, der ihnen ein schönes Märchen versprach. Galéon ließ seinen Blick über ihre Reihen gleiten. Dabei geschah etwas Seltsames, so als lichtete sich mit jedem Blinzeln ein Schleier, der ihm zuvor die Sicht getrübt hatte. Er begann, die minderen Chaosgeister in ihrer ursprünglichen Gestalt zu sehen. Erschreckend klar erkannte er, wer von ihnen zu den Unglücklichen gehörte, die Ovidáol geopfert hatte, die halb zerfleischt von den echten Chaosgeistern ins Chaos gezogen worden waren. Einige andere waren scheinbar unverletzt. Doch auch diese mussten Grauenhaftes gesehen zu haben, bevor sie in die Domäne geraten waren, die nicht sein durfte. Bleich und krank und müde sahen sie aus, halb beleuchtet durch den Nebel, der immer mehr von ihnen freigab, halb verdunkelt durch die Schwärze. Merkwürdigerweise machte beides ihren Anblick viel schärfer, greifbarer, je länger Galéon hinschaute. Männer, Frauen, alt und jung, einige wenige Kinder sogar, und ein guter Teil von ihnen in Überresten von Gewändern, die so altmodisch waren, dass sie vermutlich schon viele, viele Generationen hier umhergeirrt sein mochten. Sogar ein halbnacktes, wild aussehendes und zerzaustes Wesen, das nur zerraufte Felle am Leib trug, war dabei.
„Hört mir zu”, lockte Galéon. „Ich bin gekommen, um euch eine Geschichte zu erzählen. Wisst ihr, wie mächtig Geschichten sind? Sicher denken viele von euch, báchorkoray seien nur im Weltenspiel, um euch zu amüsieren, zu belehrten oder Erinnerungen an Vergangenes zu bewahren. Um Lob und Ehre großer Helden und mächtiger Leute zu verbreiten. Das ist wahr. Das verschafft uns Brot und Obdach, einen um den anderen Tag. Aber einige von uns haben mächtige Geschichten.”
Nur zu, kommentierte das Traumphantom aufmerksam. Sie können dich alle hören.
Seine Anwesenheit machte Galéon nervöser als die Gegenwart der Chaosgeister. Kein falsches, schwaches oder belangloses Wort durfte ihm nun über die Lippen kommen. „Geschichten”, raunte Galéon beschwörend, „die heilen und führen können. Hört mir nun zu. Hört eine Geschichte, die euch den Weg weisen wird. Eine Geschichte, über den Ort, an dem ihr endlich Frieden findet..”
***
Ich hatte sehr naive Vorstellungen von dem gehabt, was in der Nähe einer gewaltigen Dampfexplosion alles passieren würde. Ich hatte mir gedacht, dass das Wasser sich verflüchtigen und der dabei entstehende Hohlraum unter dem Sand einfach zusammenfallen würde, vielleicht wie bei einem Hefeteig, der zu lange steht.
Es zeigte sich, dass ich ebenso wenig Ahnung vom Backen hatte wie von physikalischen Zusammenhängen und der schieren Energie, über die Elosál zusammen mit Cýelú verfügte. Ihr Bann erhitzte das Wasser unter der Senke in einem Sekundenbruchteil so enorm, dass es schlagartig zu Gas wurde, sich um ein Vielfaches ausdehnte und die feste Materie ringsum so mühelos wegsprengte, als habe man in eine Wolke Seifenschaum gepustet.
Die Wucht der Explosion schleuderte riesige Brocken in die Höhe, eine Woge aus siedendem Dampf brandete über die Senke und alles im näheren Umkreis weg. Das Kreischen und Heulen der Chaosgeister würde ich nie im Leben mehr aus den Ohren bekommen. Die feuchte Hitze überbrühte uns alle, ich konnte es spüren und wusste, dass ich ohne meine Magie (und die Unsterblichkeit, die mir anhaftete, seit ich Gor Lucegaths Schwert berührt hatte) nun mit absoluter Sicherheit gar gekocht und tot gewesen wäre.
Die mit der Detonation einhergehende Druckwelle hatte mich soweit durch die Luft geworfen, dass mich erst eine aufragende Düne in beachtlicher Entfernung auffangen konnte, zum Glück eine aus dem feinen weichen Sand, den Elosál in diesem Teil der Wüste erwartet hatte. Die Kuppe dieser Düne hatte sich allerdings durch den Stoß in weiter Entfernung verteilt.
Ich spuckte, um all die harten Steinchen aus dem Mund zu befördern, blieb einen Moment platt liegen und rappelte mich schließlich mühsam auf. So viele verschiedene Stellen am Körper taten mir weh, dass sie sich zu einem einzigen großen Schmerz vermengten. Aber offenbar war nichts gebrochen oder gerissen, und auf die Schnelle konnte ich auch nicht feststellen, dass ich irgendwo blutete. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir die Chaosgeisterfalle im Gebirge hätten aufbauen müssen – oder dichter bei der Stadt. Ich strich mir vorsichtig den Sand aus Gesicht und Augen und starrte hinüber zur Senke.
Die gab es nicht mehr. Stattdessen hatte sich ein Krater aufgetan, aus dessen Tiefe ein entsetzliches Heulen und Jammern ertönte.
Abgesehen davon war der gigantische, bunte Schwarm der arcaval’ay fort!
***
Was tust du da?
Das Widerwesen war ihnen nahe, viel zu nahe, aber der Bann aus Staub, Magie und Blut, den Yalomiro um die Unkundigen herum sang, hinderte es daran, einen von ihnen zu berühren. Der Schattensänger konzentrierte sich, obwohl seine Gedanken immer fahriger und erschöpfter wurden. Nun durfte er nicht aufgeben. Er musste so lange wie möglich bei Bewusstsein bleiben, die Unkundigen an dieses jämmerliche Überbleibsel aus dem Turm fesseln.
Noktáma, wisperte Yalomiro. Seine Lippen bebten, aber seine Stimme drang nicht an die Ohren der verwirrten Menschen. Bitte, Noktáma, gib mir die Macht. Nur ein Herzschlag, ein einziger Herzschlag …
„Meister Yalomiro!”, hörte er dumpf, weit fort, wie unter Wasser die besorgte Stimme von Merrit Althopian. „Ist Euch nicht wohl?”
„Können wir Euch beistehen?”, fragte Asgaý von Spagor. „Irgendetwas tun?”
Er konnte es also nicht vor ihnen verbergen, dass seine Kräfte schwanden. Die Goldnadel in seiner Hand fesselte seine Magie nicht, wie es ein Ring oder ein Reifen oder auch nur eine hübsche kostbare Schleife aus mit Goldfaden bestickter Seide getan hätte, aber sie störte den Fluss seiner Kräfte. Sie machte Dinge instabil, insbesondere den Zauber, der auf der Tür gelegen hatte und das Widerwesen ebenso wenig gebremst hätte wie ein Vorhang aus Gaze.
Das sollte genau so sein. Die Unruhe, die Verwirbelung, die das Gold in den Fluss seiner Magie brachte, würde alles zerstören, womit er damals das Leck in der Wirklichkeit zwischen Pianmurít, dem Chaos und dem Weltenspiel hatte verschließen wollen. Es war unverzeihlicher Leichtsinn gewesen, Menschen an diesen Grenzpunkt zu bringen, nur um ein Geheimnis zu bewahren.
Yalomiro stellte sich das, was er tat vor, als zöge er langsam, ganz langsam eine Spielkarte aus der untersten Etage eines Kartenhauses.
Nur ein Herzschlag … der Staub… sie durften das Brett nicht aufgeben …
„Nur … ein Herzschlag …”, wisperte er abwesend.
„Was redet er da?”, wisperte yarl Grootplen.
„Vielleicht fiebert er. Der mestar hat uns einmal erzählt, wie -“
„Still, Jándris! Lenkt ihn nicht ab. Was auch immer er da tut, er muss mit den Gedanken dabei sein!”
Yarl Altabete rief seinen vorlauten Sohn zur Ordnung. Yalomiro lächelte kraftlos. Vielleicht war der Ritter doch zu versöhnen. Später
„Sicher ist das ein geweihtes Ritual”, vermutete Osse Emberbey ehrfürchtig. „Er würde uns nicht im Stich lassen.”
Die Kinder vertrauten ihm also. Sehr gut.
Das Zwielicht wurde immer trüber. Das silberne Blut vermengte sich mit dem so lange zurückliegenden Bann.
Du kannst es nicht ungeschehen machen. Darüber hast du keine Macht!
Heißt es nicht, flüsterte der Schattensänger, in deinem Reich sei Zeit nebensächlich?
Hier, sagte das Widerwesen, ist alles und gar nichts zugleich.
Dann, versetzte er, konntest du also nur an diesem Ort mit den Menschen spielen. Das Weltenspiel kannst du nicht betreten, nicht ohne ein Gefäß, das in der Zeit ist. Das Weltenspiel ist für dich … zu schnell. Du hast Raum und Zeit nachgebaut, ein Kistchen, um Menschen darin zu halten wie ein Kind einen Käfer gefangen nähme … aber wie?
Es wird dir nichts nützen, das zu wissen.
Was, fragte Yalomiro am Rand seines Geistes, ist denn ein Herzschlag hier im Chaos für das Weltenspiel? Macht es einen Unterschied, wann Dinge geschehen?
„Bei den Mächten, er stirbt!”, sagte Alsgör Emberbey, ganz leise und weit weg.
„Nein”, widersprach die teiranda energisch. „Das ist nicht möglich!”
„Aber du siehst es doch, Geliebte! Das Leben entrinnt ihm mit jedem Atem, den er nimmt!”
„Meister Yalomiro!” Eine kleine Hand rührte ihn sacht an, eine niedliche Kinderstimme redete zu ihm. „Geht nicht weg! Ich dürft jetzt nicht hinter die Träume.”
„Tíjnje Moréaval …”, flüsterte er, „die Blumen … die Samen … bring sie zum Blühen …”
„Lass ihn, Tíjnje! Das ist doch jetzt alles unwichtig!”
Ein anderes Kind tastete nach ihn, scheu und vorsichtig. Manjév von Wijdlant und Spagor berührte seine Stirn. „Bitte, Meister”, sagte sie leise. „Verlasst uns nicht! Ich habe alles im Herzen, was Ihr mir gesagt habt.”
„So zerbrechlich, so unschuldig …”, murmelte Yalomiro und schloss die Augen. Die Nadel in seiner Hand hatte ihr Werk vollbracht. „Mut und Geist und Liebe …”
Und dann war es aus.
***
Das Wasser wurde weniger. Auf dem Burghof standen dort, wo die Pflastersteine etwas abgesenkt waren, tiefe Pfützen. Aber der Wasserfall, der sich über die Stufen ergossen hatte, war nur noch ein zartes Tröpfeln.
Die yarlara horchte an der Tür. Im Inneren des Turms war es nun still. Sie zögerte. Dann nahm sie den Zauberstein aus der Lücke heraus, die der Steinmetz in die Mauer geschlagen hatte.
Jóndere Moréaval ruckte vorsichtig an der Tür. Dann entfernte er sich wortlos, stapfte durch die Wasserlachen hindurch und verschwand in der Burg.
Die yarlara betrachtete mutlos den bunt schillernden Stein. In seinem Inneren sprühten funkelnde bunte Farben, entflammt von dem bisschen Feuer, das sie in der Laterne mit sich führten. Die Dame schaute sich das mit leerem Sinn an. Sie hatte nicht mehr die Kraft, irgendetwas Geordnetes zu erdenken.
Wie schön, wie ruhig und heiter und heilsam die Farben in dem kleinen Stein tanzten, ein zuckender, lebendiger Reigen aus Licht und Feuer und der Dunkelheit ringsum, die es nur noch deutlicher und besser sichtbar machte. Die Dame drehte den Stein hin und her und war so versunken in das Schauspiel, dass sie weder Notiz davon nahm, wie lange ihr hýardor verschwunden blieb, noch davon, dass er zurückgekehrt war.
„Geht beiseite”, sagte er sanft. „Ich brauche Platz.”
Sie blickte auf. Er hatte die wahrscheinlich größte Breitaxt in der Hand, die er in der Burg hatte finden können, ein bedrohliches Ding, das vielleicht vor langer Zeit ein fýntar geführt haben mochte, kein Ritter im Kampf. Als Reserve trug er in der anderen eine etwas kleinere Spaltaxt, die sicher der Zimmerer in seiner Werkstatt zurückgelassen hatte.
„Und wenn es immer noch nichts nützt?”
„Und wenn ich bis ans Ende meiner Tage zuhauen muss”, sagte er. „Ich werde nicht ruhen, bis ich Tíjnje aus dem Turm geborgen habe. Und Láas und deinen Vater.”
„Und all die anderen”, sagte sie und wandte sich zerstreut wieder dem Stein zu.
„Bitte”, sagte er. „Geliebte. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir darüber dein Herz und der Verstand zerbrechen. Willst du nicht lieber hinüber ins Haus gehen?”
Sie schüttelte den Kopf. Natürlich sagte er das, weil er erwartete, niemanden mehr lebendig hinter der Tür vorzufinden.
„Nein”, sagte sie. „Wir tun es gemeinsam. Wäre es doch nur nicht zu spät. Wäre all das doch nie geschehen.”
***
„Papa!”
Dýamirée sprang von Farbenspiels Rücken ab, bevor Advon sie festhalten konnte. Sie rannte los, drängte sich zwischen die Unkundigen, die dort so seltsam in der Runde standen, und ließ sich neben Meister Yalomiro niedersinken, der da ganz seltsam verkrümmt mehr hing als hockte, seine Hand ganz wunderlich an einem Brett, dass die zwölf Unkundigen festhielten.
Ihr plötzliches Auftauchen erschreckte die Unkundigen, vor allem die Kinder, die geblendet gewesen waren und sie beide und vor allem das Einhorn zuvor nicht gesehen hatten. Die Erwachsenen waren weniger überrascht, fragten sich wohl eher, wo er so plötzlich wieder hergekommen war. Sicher hatten sie ihn und Galéon für ein Trugbild gehalten.
Advon erfasste in einem blitzartigen Gedanken, was hier geschah. „Nein! Nicht!”, rief er geistesgegenwärtig aus. „Nicht das Brett loslassen! Nicht den Bann brechen!”
Er glitt zu Boden und rannte heran. Farbenspiel folgte ihm, beinahe auf Tuchfühlung.
„Wer seid ihr?”, rief der dunkelhaarige Junge, der ältere in grünem Gewand. „Ist das ein Einhorn?”
„Nein, ein Ziegenbock!”, versetzte Advon ärgerlich. Mussten sie nun mit solchen Nebensächlichkeiten kommen? „Bleibt stille stehen! Ich …” Er besann sich auf das, wozu er fähig war und schloss: „Ich will, dass ihr alle tut, was ich sage!” Er zögerte kurz, entsann sich seiner Manieren und setzte hinzu: „Bitte. Bitte, Majestät. Wenn sich einer von Euch bewegt, zerreißt das vielleicht, was immer er da macht.”
Der Ritter mit den blauen Hausgewändern, der wohl gelernt hatte, Magisches nicht zu hinterfragen, sprach als erster wieder. „Sohn der fajía! Weißt du, was hier geschieht?”
„Mein Papa macht … er macht etwas, das hier heraus führt”, sagte Dýamirée. Ihre Stimme zitterte beunruhigt. Sie strich dem Besinnungslosen eine grausilberne Haarsträhne aus der Stirn. „Ich … ich verstehe nicht, wie das geht!”
„Er hat sich einfach die Nadel durch die Hand gehauen”, sagte der älteste Junge in weizengelber Gewandung. „Das muss biestig weh getan haben!”
„Wo hatte er die Nadel her?”
„Von meiner Mama”, erklärte das kleine Mädchen zutraulich. „Und wer seid ihr?”
Dýamirée antwortete nicht. Sie legte ihre Stirn an die des leblosen Mannes. Vielleicht konnte sie aus seinen Gedanken etwas erahnen, aber Advon glaubte es nicht recht. Er versuchte fieberhaft, zu verstehen, was Dýamirées Vater getan hatte. Alle Unkundigen berührten das Brett und waren umwoben von einem silbrigen Netz. Das Brett war also wichtig. Sein Vater hatte ihm einmal eine spannende Geschichte von einem schiffbrüchigen Abenteurer erzählt, der sich an einem Stück Planke über Wasser halten und rettendes Land erreichen konnte.
„Egal, was geschieht”, sagte er dringlich. „Lasst dieses Stück Holz nicht los.”
„Wir vertrauen dir, Sohn der fajía“, sagte die teiranda. „Sag uns, was wir tun sollen.”
Advon richtete seine Aufmerksamkeit auf die unkundigen Kinder. Zu seinem Erstaunen hielt einer der beiden jüngeren Knaben, der blonde mit den wasserblauen Augen, den Zauberstab gesenkt in der Hand. Dýamirées Vater musste ihn ihm anvertraut haben und hatte das sicher nicht ohne guten Grund getan.
Farbenspiel, so aufgeregt er war, stellte aufmerksam die Ohren auf und schnupperte am Gesicht des Jungen. Furchtlos blieb der stehen. Das war gut. Offenbar erkannte der Hengst in dem Rittersohn jemanden, der gut mit Tieren stand. Auch das kleine Mädchen war sichtlich begeistert, auf eine unbefangene, kindliche Art, die es dazu trieb, flauschige Tiere streicheln und herzen zu wollen. Der Junge mit der Brille war offensichtlich über die Gegenwart des Einhorns beunruhigt. Schade. Er schien sich vor großen Tieren zu fürchten.
Die teirandanja hingegen hatte kein Auge für den riesigen, bunten Farbenspiel. Sie schaute fasziniert nur Dýamirée an. Nun, da er beide so dicht beieinander sah, kam Advon für einen Wimpernschlag die Idee, dass das eine Mädchen ein verschobenes Spiegelbild des anderen war. Sie ähnelten einander, die eine blond, die andere schwarzhaarig, eine mit blauen, die andere mit laubgrünen Augen.
„Du bist also die Tochter von Meister Yalomiro?”, fragte die teirandanja ehrfurchtsvoll. „Er hat von dir erzählt.”
„Manjév!”, flüsterte ihre Mutter. „Störe das Mädchen jetzt nicht.”
Dýamirée nickte ihr zu. Dann sagte sie zu dem kleinen Mädchen. „Bist du die Tochter von dem freundlichen Ritter?”
„Dýamirée!”, mahnte Advon. „Was ist mit deinem Vater? Ist er hinter den Träumen?”
„Nein. Aber er ist zu erschöpft, um seinen Zauber zu beenden. Ich mach das.” Sie holte den Stein hervor. „Da ist noch genug Magie drin.”
„Wieso hast du jetzt diesen Stein?”, rief der älteste Junge aus.
„Galéon hat …”
„Wir haben keine Zeit!”, fiel Advon ihr schnell ins Wort. Bestimmt wäre es Galéon nicht recht, wenn die Unkundigen über ihn redeten, und schon gar nicht jetzt, wo es auf Momente ankam. „Dýamirée, was können wir tun? Was muss geschehen?”
Sie umarmte ihren Vater, den Stein in der Hand. „Ich weiß nicht”, sagte sie leise. „Er hält die Magie fest.”
„Vielleicht muss er loslassen”, schlug der Junge mit der Brille bescheiden vor.
„Loslassen?”
„Ja”, sagte der Junge. „Wie eine Türklinke.”
Advon runzelte verwirrt die Stirn.
„Ist das nicht möglich?”, fragte der dunkelhaarige Junge, und sein Freund, der älteste fügte hinzu: „Das Eulengesicht ist schlau. Der hat kluge Einfälle.”
Der schnauzbärtige Ritter versetzte seinem Sohn einen tadelnden Schubs. Der alte Ritter seufzte tief. Der Junge mit der Brille tat würdevoll, als rühre das Spottwort ihn nicht an.
„Meister Yalomiro sagt, dieses Brett sei ein Trümmer von einer Tür”, erklärte die teirandanja. „Sagt dir das etwas, o Sohn der fajía?”
„Eine Tür von dem Ort, von dem ihr hierher geraten seid?”
„Ja.”
„Meine Mama”, sagte Dýamirée, „ist auch von einem fremden Ort gekommen. Durch eine Tür. Mit einem Schlüssel.”
„Mein Vater”, sagte Advon überrascht, „kommt auch von einem anderen Ort.”
„Ist er auch durch eine Tür gekommen?”
„Nein, durch ein helles Licht.”
Dýamirée runzelte verwirrt die Stirn. Aber es war wirklich nicht genug Zeit, um ihr zu erklären, was damals mit seinem Vater geschehen war. Immerhin konnten die minderen Chaosgeister jeden Moment wieder auftauchen.
„Versuchen wir es”, sagte er. „Weißt du, wie du die Magie aus dem Stein heraus bekommst?”
„Galéon hat gesagt, ich kann sie einfach wieder herauslassen.”
Die teirandanja hob fragend die Brauen. Der erneut genannte Name ließ sie aufhorchen.
„Gut”, sagte Advon hastig. „Ihr alle … egal, was geschieht: Haltet das Brett fest, als hinge Euer Leben daran fest. Wir versuchen, den Zauber weiterzuspinnen, den Meister Yalomiro begonnen hat.”
„Und wenn das schiefgeht?”, fragte der blonde Junge zweifelnd.
„Es kann nicht mehr schiefgehen, als dass es nicht funktioniert”; behauptete Advon leichthin, obwohl er keine Ahnung hatte, was geschehen würde. Die Hand auf dem Brett hielt den Bann auf den Unkundigen, eine Leine, wie eine mit der Kinder an einem windigen Tag ein Himmelsbanner steigen ließen.
Dýamirée hielt ihren Stein fest in beiden Händen und schloss die Augen. Die Unkundigen schwiegen andächtig. Advon streckte die Hand nach der Haarnadel aus, die die Hand des Schattensängers an das Brett heftete.
„Ich will …”, begann er. Und dann erschütterte ein lautloses Zittern das leere Zwielicht des Chaos.
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