Der muskelbepackte Chaosgeist wich einen Schritt vor Merrit Althopian zurück. Der Junge hatte nichts anderes getan, als den Stab sicher zu packen, so wie es ein erfahrener, ein erwachsener Kämpfer mit einem Stecken oder einer Stangenwaffe getan hätte. Das Licht, das Yalomiro heimlich beschworen hatte und das nun oben in dem zerborstenen Kristall saß, glomm auf. Es strahlte klar und rein und hell im kränklichen Zwielicht. Der Stab leuchtete, als hielte der Knabe eine strahlende Laterne in der Hand.

Die Chaosgeister sahen das Leuchten, hell und schön wie Noktámas Silbersterne, und tatsächlich: Sie erschraken davor. Einer nach dem anderen ließ von den verstörten Unkundigen ab. Soweit die Kreaturen sich auf den Beinen halten konnten, wichen sie ein wenig zurück, machten Platz. Ihre Augen, starrend, blind, manche noch erschreckend lebendig, waren auf den Stab und das Licht gerichtet.

Merrit Althopian erkannte, wie beeindruckt seine monströsen Gegner waren. Er trat mutig einen Schritt vor und schwang den Stab, so wie er es endlose Male nachgeahmt hatte, wenn er als kleiner Junge seinen Vater und dessen Waffenknechte bei ihren Übungen beobachtete; wahrscheinlich ohne zu ahnen, auf welchen Ernstfall die Männer sich vorbereiten mochten. An seiner Technik gab es nichts auszusetzen. Die Ritter, die verwirrt zusahen, waren ganz unbewusst voller Anerkennung, das konnte Yalomiro spüren. Die beiden älteren Jungen erlaubten sich sogar eine Spur von Bewunderung, ungeachtet der absurden, albtraumgleichen Situation. Das Muskelmonster stolperte entsetzt einen Schritt beiseite, als Merrit mutiger wurde und mit dem Licht nach ihm stieß. Alle anderen Wesen folgten synchron, wie hypnotisiert, der Bewegung des Lichtes. Das sah beinahe etwas lustig aus.

Merrit versicherte sich mit einem bittenden Blick der Zustimmung seines Vaters, beschrieb einen weiten Bogen mit der leuchtenden Stange, und die Chaosgeister gerieten in Aufruhr. In den Boden zurück fliehen konnten sie offenbar nicht, aber keiner war nun noch weiter als eine Mannslänge an die Menschen herangekommen. Wie fein das Lichtlein funktionierte, seinen Zweck erfüllte, zusammen mit jemandem, der trotz seiner Jugend genau wusste, was er tat. Yalomiro nickte Merrit zu und ging dann zu den Menschen hin, ohne die Chaosgeister weiter zu beachten. Dennoch fragte er sich flüchtig, in wessen Gunst dieser außergewöhnliche Junge stehen mochte. Würde er einmal für Noktáma kämpfen oder für Pataghíu? Wozu formten die Mächte einen so überlegenen, unkundigen Kämpfer? Was wussten sie, das geschehen würde?

Die Männer und die drei anderen Knaben standen immer noch schützend, wenn auch zunehmend ratlos um die teiranda und die Mädchen herum. Wer noch eine Waffe trug, hielt sie aufmerksam erhoben.

„Geh”, sagte Yalomiro zu dem jungen Rotgewandeten. Der war abwartend halb im Zwielichtnebel stehen geblieben und machte keine Anstalten, ihm zu folgen. „Ich kümmere mich hierum.”

Der báchorkor warf einen letzten, sehr sonderbaren Blick auf die kleine teirandanja, die sich immer noch ängstlich an ihre Mutter schmiegte und die Augen vor all den widerlichen Kreaturen fest zusammengekniffen hatte. Dann wandte er sich ab und eilte fort, verschwand im Zwielicht. Irgendwo dort schrie der Verfluchte, mochte das Licht sich seiner erbarmen. Glücklicherweise schienen die Unkundigen das gequälte Kreischen des halb aufgelösten Magiers nicht wahrzunehmen. Ovidáol hatte keine Stimme mehr, die unkundige Ohren hätten hören können.

Yalomiro schauderte. Auch kam die plötzliche Eile des jungen Mannes verdächtig vor; fast schien es, als liefe er vor etwas davon. Aber es war nun nicht an der Zeit, sich darüber zu wundern. So schnell es ging, bevor das Widerwesen auf ihn aufmerksam wurde, galt es, die Menschen zu befreien. Zudem durfte er die Kinder nicht zu lange allein lassen! Advon Irísolor schien ein bedachter, verantwortungsvoller Junge zu sein, der meistenteils den Anweisungen jener folgte, denen er vertraute. Aber Dýamirée … nun, vielleicht hatte das Mädchen etwas zu viel vom Leichtsinn seines Vaters geerbt. Er an ihrer Stelle wäre wohl längst vom Einhorn abgestiegen, um sich heimlich heranzupirschen und seine Neugier zu befriedigen.

Der Schattensänger zog sich seinen Hut tief in die Stirn, ließ das Licht auf dem Stab im Vorbeigehen heller aufscheinen und blieb bei den zusammengepferchten Menschen aus Wijdlant stehen. Merrit Althopian scheuchte mit offensichtlichem Vergnügen Kreaturen beiseite, die ihm den Weg versperrten, erkämpfte mit präzisen Gesten wertvollen Raum um sich und die anderen.

„Meister Yalomiro!”, jubelte das kleine Mädchen, wollte wohl zu ihm laufen, aber die teiranda hielt sie fest. Dafür befreite die teirandanja sich aus ihrem Griff, drängte sich zaghaft zwischen ihren Vater und yarl Emberbey und schaute dann auf den verwüsteten Sand hinab. Sie sagte nichts, aber er spürte, wie sehr sein Erscheinen sie erleichterte.

Warum schämte sie sich? Was war geschehen?

„Meister Yalomiro”, flüsterte Kíaná von Wijdlant. „Bei den Mächten, Ihr seid es! Ihr habt uns gefunden! Könnt Ihr uns führen?”

„Das wird sich zeigen”, antwortete Yalomiro, „Wie seid Ihr hierher gelangt?”

„Wenn wir das wüssten”, antwortete Andriér Altabete missvergnügt. „Ihr seid der Magier! Ihr müsst diese Dinge kennen! Das hier habt doch Ihr zu verantworten!”

„Nein. Ich denke, ich bin an allem Schuld”, kam es leise von der teirandanja.

„Wer sich hier für schuldig hält und wer es ist, interessiert mich vorerst nicht, Majestät”, erwiderte Yalomiro mahnend. Die Bemerkung des Mädchens war interessant, aber für den Moment zu umständlich. „Wir haben keine Zeit für Vermutungen und Reue. Was hat sich zugetragen? Osse Emberbey, sprich du zu mir! Ich brauche geordnete Worte.”

Der Junge zuckte überrascht zusammen. Sein Vater schien ebenso erstaunt darüber, dass er, der Magier, das Wort an ihn richtete. Als bedürfe es einer Erlaubnis, stieß er den Jungen sacht an, und Osse trat vor. Wie sah er nur aus, der arme Kerl! Die Brille saß ihm verbogen und schief auf der Nase, er hatte Kratzer und Schrammen am Körper und seine linke Schulter war kraftlos, wie verknickt. Etwas hatte ihn verletzt, zum Glück ohne ihn zu verstümmeln. In seinen Händen zitterte das, was von dem Brett übrig war, mit dem er sein Leben und das seines Vaters verteidigt hatte. Alsgör Althopian schien nicht zu wissen, wohin mit seinen Händen. Sein Schwert hatte der alte Mann an Grootplens Sohn verloren. Yalomiros Blick blieb an dem splittrigen Holz hängen. Was war das?

„Der Turm ist eingestürzt”, stammelte der Junge, weit entfernt von klaren Worten „Unter der Last des Sandes.”

„Sand?”

„Ja. Plötzlich war alles voller Sand … und es wurde immer mehr … und dann haben die morschen Bodendielen nicht mehr gehalten.”

„Genau deswegen durften wir nie den Raum betreten”, warf Jándris Altabete ein, der etwas vorlaut zu sein schien. „Wir dachten immer, der Fußboden sei nur vorgeschoben. Und dann ging die Tür nicht mehr auf.”

„Aber wir hätten Merrit Pfannkuchen unter der Tür durchgeschoben”, plapperte Tíjnje Moréaval los. „Damit er nicht verhungert. Und dann haben wir mit den schönen Kronen die Axt golden gemacht.”

„Was?”, fragte Yalomiro verwirrt.

„Wir nahmen an, damit Euren Zauber zerschlagen zu können”, gestand Waýreth Althopian. „Es war doch Euer Zauber, der die Tür versiegelt hielt, nicht wahr?”

Yalomiro schaute von einem zum anderen und dann auf Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor. Dass die beiden ihre Kronen nicht trugen, fiel ihm erst jetzt in der allgemeinen Zerzaustheit der Unkundigen auf. An der Axt in Althopians Händen schimmerten winzige Reste Gold, die sich in Schrammen und Scharten der jüngsten Kämpfe eingegraben hatten. Yalomiro reimte sich zusammen, was passiert sein musste. Dann konnte er es nicht mehr zurückhalten. Er begann, zu lachen, sehr zur Bestürzung der Unkundigen. Merrit Althopian schien davon nichts zu bemerken. Aufmerksam vereitelte er jeden Versuch der Chaosgeister, sich erneut zu nähern. Nichts konnte ihn ablenken.

„Wollt Ihr uns jetzt verspotten?”, empörte sich Andriér Altabete.

„Ich?”, brachte Yalomiro hervor und rief sich zur Ordnung. „Aber nein. Ihr habt besonnen, tapfer und mit einer Klugheit gehandelt, die mir imponiert, Herr Andriér. Aber es gibt Dinge, die ihr nicht wissen konntet. Gib mir das, Junge.” Er nahm Osse Emberbey das Brett aus der Hand. Welche Gunst der Mächte hatte dem Knaben dieses Stück Holz zur Verwahrung gegeben! Ein Anker, ein Magnet, ein vortrefflicher Ausgangspunkt für genau den Zauber, den er sich vorgenommen hatte, auszuprobieren. Das Brett war durchtränkt von Spuren dunkler Magie, ein Stück Treibholz, das mit ihnen ins Chaos geraten war, an das sie sich klammern konnten wie Schiffbrüchige,

„Es begann also in Gor Lucegaths Turmzimmer?”, fragte er in Richtung der teiranda. Sie nickte. Und damit war auch das Rätsel ergründet, was damals, als er so überstürzt auf Salghiáras Hilferuf hin die Burg verlassen hatte, den Sand in seinen Schuh gestreut hatte. Es hatte tatsächlich dort gelauert, wo einmal eine Passage zwischen dem Chaos und dem Stück davon war, das es damals dem Rotgewandeten überlassen hatte.

Welche Raffinesse hatte das Widerwesen besessen, bis jemand diese Falle bestückt und ausgelöst hatte! Mit welcher Präzision hatte es Dinge angestoßen und in Gang gesetzt! Nie hätte Yalomiro es für möglich gehalten, dass der Weltenspielverderber diese kleinen Details auch nur wahrnehmen würde, ohne ein Werkzeug, einen Sterblichen, der ihm innerhalb der Vergänglichkeit Auge, Ohr und Verstand war, so wie einst der unglückliche Gor Lucegath. Ovidáol Etaímalar, so viel stand ja nun fest, war kein Diener des Widerwesens gewesen. Der Verfluchte hatte immer auf eigenes Risiko gehandelt und würde das nun ewig bereuen.

Yalomiro zögerte. Und wenn es Zufall war? Nichts weiter als ein äußerst bizarrer Zufall?

„Das spielt doch alles keine Rolle!”, brauste Asgaý von Spagor aufgeregt auf. „Meister Yalomiro! Bei den Mächten, steht uns bei! Bringt uns fort von hier!”

„Ich werde sehen, was ich tun kann. Was ich Euch nicht versprechen kann, ist, wo es enden wird.”

„Wenn es nur an einem Ort im Weltenspiel ist”, sagte Alsgör Emberbey demütig. „Oder hinter den Träumen, einerlei. Bitte … bringt uns hier heraus.”

Yalomiro schaute von einem zum andren. Kíaná von Wijdlant vermied es, ihn anzusehen. Die Männer schienen unschlüssig, was zu tun war. Die Söhne von Grootplen und Altabete aber staunten ihn an, neugierig, gespannt und mit einer gewissen Hoffnung, die er nicht enttäuschen wollte. Die beiden befanden sich in einem Abenteuer, in dessen Anschluss sie viele weitere erleben wollten. Sie hatten noch nicht mit dem Weltenspiel abgeschlossen, so wie der arme, verbitterte yarl Emberbey.

Er zauberte das Licht beiläufig erneut etwas heller, sodass die Kreaturen noch mehr vor Merrit zurückschraken.

„Osse Emberbey”, sagte er so beiläufig, wie es ihm möglich war. „Die Mächte haben dir die Vorsehung verliehen, kluge Entscheidungen zu treffen. Weißt du, was das für ein Brett ist, das du mit dir trägst?”

„Nein. Es … lag einfach herum.”

Yalomiro legte das ramponierte Brett, einen Trümmer einer verzauberten Tür im Burgturm von Wijdlant, einem Ort, so unendlich weit weg vom Chaos, in die Hände der teirandanja. Die Unkundigen aus der Reichweite des Widerwesens zu schaffen, das war das Dringlichste. Über das Was und Wo und vor allem über das Wer nachzudenken, das hatte Zeit.

„Ich werde versuchen”, erklärte er sachlich und griff in seine Tasche, „einen Durchschlupf, einen Fluchtweg für Euch zu öffnen, einen, der für ujoray gefahrlos zu passieren ist. Wie Ihr seht, bin ich in Eile damit, denn Ihr seid in höchster Gefahr. Merrit Althopian, sorge du dafür, dass die Chaosgeister Abstand halten, bis ich fertig bin.”

„Meister, was ist das für eine Stange? Ist das eine Zauberwaffe?”, fragte der Junge fasziniert.

„Nein. Es ist eher ein Hütestab. Kannst du damit umgehen?”

Der Junge nickte ernsthaft und wirbelte den Stab spielerisch herum. Die Chaosgeister hielten respektvoll Abstand. Das war bemerkenswert. Der Sab schien sie so sehr zu täuschen, dass sie gar nicht begriffen, dass ein kleiner Junge ihnen die Stirn bot.

„Was sollen wir tun, Meister Yalomiro?”, fragte Waýreth Althopian.

„Das Brett berühren. Steckt Eure Waffen weg, die braucht ihr nicht, solange Euer Sohn den Stab in Händen hat. Legt Eure Hände auf das Holz und achtet sorgsam darauf, nicht loszulassen, egal, was passiert.”

„Wie soll das funktionieren?”, fragte Asgaý von Spagor misstrauisch. Doch die Präsenz der Monster schien in der Wahrnehmung der Menschen in Gegenwart des Magiers immer mehr in den Hintergrund zu rücken. Natürlich klammerten sie sich in ihrer Hoffnung an das Unmögliche fest, das der Magier vollbringen würde, einfach, weil Magie ihnen die Lösung für all ihre Probleme versprach. Das war einerseits rührend. Andererseits setzte es Yalomiro unter Druck, denn mehr als ein Versuch würde ihm nicht zugestanden werden. Nicht, bevor das Widerwesen bemerkte, dass Magier in seiner Domäne anwesend waren. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es einschritt. Wahrscheinlich war es längst alarmiert. Vielleicht aber lenkte Ovidaól Etaímalar es nicht mehr lange ab mit seinen grauenhaften Schreien.

„Erinnert Ihr Euch an den verfluchten Talisman, den Ihr einmal in Händen hieltet, Majestät? Ein Stück Spiegelglas an einer Schnur?”

„Nein.”

Natürlich erinnerte er sich nicht. Yalomiro seufzte. Genaugenommen war es seine eigene Magie gewesen, die einen Teil der Erinnerung des teirand und seiner Männer ausreichend verwischt hatte, um ihren Verstand zu schonen. „Jedenfalls … ich habe etwas Ähnliches vor. Haltet Euch bereit.”

„Wird das eine Abendtüre?”, fragte Tíjnje ehrfürchtig.

„Aventüre”, zischte Láas Grootplen.

„Bitte”, mahnte Yalomiro. „Vertraut mir. Ihr auch, Herr Andriér, was immer Ihr auch Arges erwarten mögt. Ich werde ein offenes Ohr für Euch haben, sobald wir wieder in unserer Domäne sind.”

Die Erwachsenen zögerten zweifelnd. Doch die Kinder ließen sich nicht zweimal bitten. Yalomiro wartete, bis alle sich um das splitterige Stück Holz drängten, danach griffen und ihn ratlos anschauten. Die vielen Hände fanden gerade so eben Halt daran.

Einige dreiste Chaosgeister wagten sich vorsichtig erneut näher heran. Merrit Althopian bemerkte es, ohne hinzuschauen und schwang den Stab gegen sie. Dann berührten auch seine Fingerspitzen das Brett. Ganz scheu und zaghaft lagen sie dicht bei denen der teiranda.

Yalomiro wunderte sich über die heiße Welle von Unbehagen, die von dem Mädchen ausging und die nichts damit zu tun hatte, dass sie alle aus dem Weltenspiel herausgerissen waren. Aber er hatte keine Gelegenheit, sich darum zu kümmern. Hastig versiegelte er seine Sinne gegen die wirren, panischen, zweifelnden, hoffnungsvollen Gedanken und Gefühle, die von den Unkundigen auf ihn einstürzten. Dann nahm er das Döschen mit dem Sand aus der Tasche heraus, den sie vor unendlich langer Zeit – am frühen Morgen – im Etaímalon aufgekehrt hatten. Wüstensand, der nicht ins Chaos gehörte, vermischt mit Staub und Schmutz von einem Fußboden im Boscargén. Yalomiro schloss die Augen, flehte zu Noktáma und öffnete den Behält-

Was treibst du da, Yalomiro Lagoscyre? Willst du mir etwa wieder Spielzeug stehlen?

***

Die Menschen, die vom Wasser aus den Toren Aurópéas in die Ebene getrieben worden waren, schauten mit bangen Blicken hinüber zum Cielástel, während sich hier und dort Wasser in reißenden, aber nicht allzu tiefen Bächlein über die Wege wälzte und sich mit dem Gefälle zur Wüste hin ergoss und nach und nach im Boden versickerte. Über der Burg schwebte die Finsternis wie ein Loch im Himmel, umgeben von dem unheilvoll schimmernden Ring, den der Regensturm zurückgelassen hatte. Dieses Leuchten war im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass man die Burg vor dem Nachthimmel überhaupt noch ausmachen konnte, denn das magische Glimmen der bunten Farben war komplett verloschen. Vage waren die Formen der hohen Mauern und der filigranen Türme noch zu erahnen, aber den Glanz und das Leuchten hatte Pataghius Heiligtum verloren. Dafür schwebte weiter im Süden etwas über der Wüste, zu niedrig, um ein Produkt von Pataghíus Glanz oder Noktámas Juwelen zu sein, aber dennoch von einer mächtigen Schönheit, fließend und wabernd und bunt. Fast so, als hätten die Farben sich zu einem Schwarm vereint und wären aus dem Cielástel ausgeflogen. Und dieses Leuchten entfernte sich.

Ein paar besonders mutige (und ebenso aufgebrachte) Bewohner der Stadt entschieden sich dazu, den Dingen auf den Grund zu gehen. Natürlich hatten sie bei der Flucht aus der Stadt Pferde und Maultiere gerettet, so dass an Reittieren kein Mangel herrschte. Um den Stalldiener, der im Cielástel arbeitete, dort die Einhörner pflegte und ausgerechnet an diesem schicksalhaften Abend nicht in der Burg gewesen war, hatten sich bereits einige Männer und Frauen geschart, die sich die Sache näher anschauen wollten.

„Hab sowas noch nie erlebt”, beteuerte er eins ums andere Mal auf ihre Fragen. „Ist noch nie ausgegangen, das Licht. War immer bunt, auch nachts!”

„Was kann das bedeuten?”, fragte jemand.

„Keine Ahnung! Sind ausgeflogen, alle miteinander! Haben sie nie gemacht! War immer einer von ihnen da!”

„Was geht da vor? Das hat doch hängt doch alles zusammen, der Sandsturm, dieses Wolkenloch, dieser mordshelle Blitz …”

„Und das Wasser! Die halbe Stadt ist weggespült!”

Das war übertrieben, denn die Mauern und die überwiegende Zahl der steinernen Häuser standen mit Sicherheit noch. Nur die verheerende Unordnung, die würde sich erst in ihren Ausmaßen besichtigen und beseitigen lassen, wenn wieder Pataghiùs Glanz die Szenerie erhellte.

Doch der ließ auf sich warten, und seit der Gong verstummt war, hatten sie alle ihr Gefühl für das voranschreiten der Zeit verloren.

„Was bringt es, zur Burg zu reiten, wenn ohnehin keiner da ist?”, fragte jemand. „Wie sollen die helfen, wenn sie weg sind?”

„Die haben uns allein gelassen! Und dann ist die Stadt überschwemmt! Das ist deren Schuld?”

„Deren Schuld? Warum?”, fragte der Stalldiener begriffsstutzig.

„Na, ist doch deren Sache, sowas zu verhindern? Wozu haben die denn ihre Zauberkräfte, wenn sie keine Katastrophe verhindern können?”

„Denen hab ich nie getraut!”

„Und wenn sie nun ganz weg sind? Wenn sie die Burg verlassen haben?”

Unter den Umstehenden breiteten sich ungute Gedanken aus. Das spürte der Stalldiener. Die Sache bereitete ihm Unbehagen.

„Sag mal”, wollte einer von ihm wissen, „ist wohl vollgepackt mit Schätzen und schönem Zeug, die Burg, oder?”

Der Stalldiener zuckte zusammen. Der Anlass dieser Frage lag auf der Hand, denn immerhin war er hier mitten unter dem Nachtvolk von Aurópéa. Inmitten der verstörten, besorgten, verärgerten Menge trieb sich auch einiges an zwielichtigem Volk herum. Dessen Interessen veränderten sich nicht, nur weil das Wetter verrückt spielte und die Wüstenstadt geflutet wurde.

„Na ja”, antwortete er, denn Schweigen wäre ihm schlecht bekommen, „Gold eben.”

Der Fragesteller schnaufte verächtlich. „Pah! Gold … Was ist mit echten Reichtümern? So wie’s da glitzert, ist doch sicher alles randvoll mit Klunkern und vornehmem Krempel, oder?”

„Gibt ‘ne Menge Edelstein”, gab der Knecht zu. „Das meiste in den Mauern eingelassen.”

„Genug für uns alle?”

Der Stallknecht ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Die Angst war pragmatischem Interesse gewichen, zumindest bei jenen, die in Hörweite standen. Einige schauten sich bereits nach griffigen Steinen um, mit denen sich lästiges Glas zerschmettern ließ. Dann schaute er hinauf zu dem finsteren Loch am Himmel. Wären sie tatsächlich so gierig, sich diesem Gebilde zu nähern? Überwog die Gier die Vernunft, die Sorge um das eigene Leben?”

„Seid ja wahnsinnig”, knurrte der Stalldiener. „Wenn die Ritter zurückkommen, geht’s Euch schlecht!”

Die, die sich zu einer Antwort herabließen, taten es mit verächtlichem Lachen. Dann trabten die ersten los, auf der nunmehr matschigen Straße zum Cielástel. Der Stallknecht zögerte kurz. Dann schwang er sich auf eines der geretteten Pferde aus dem Mietstall seines Bruders und folgte ihnen.

***

Die Obstbauern in den Hügeln schauten nicht auf den Cielástel, und ihre Gedanken hätten nicht weiter entfernt sein können von der Lust auf bunte kostbare Steine und erlesenen Zierrat. Es war schwer zu erkennen in der Nacht und abseits von dem schimmernden Wolkenring und dem leuchtenden Regenbogen, der sich südwärts entfernte. Aber die Geräusche waren beunruhigend, viel zu laut und zu … seltsam für eine so trockene Gegend.

Es kam aus der Richtung von Úldaise Tiáramalés verbranntem Garten. Es war ein unheimliches, sattes Schmatzen und Ploppen. Hätten sie nicht ihr ganzes Leben am Rand einer trockenen Wüste verbracht, vielleicht hätten einige der Obstbauern an schlammiges Moor und darin aufsteigende Sumpfgase gedacht. So aber klang es, als mache sich etwas beunruhigend Großes über etwas Durchweichtes her. Vielleicht ein monströses Waldschwein über einen Trog voll mit Eintopf.