Ich fragte mich, ob Elosál im Dunklen ebenso gut sehen konnte wie ich und wagte, es zu bezweifeln. Als Dienerin von Sonne und Tageslicht waren ihre alltäglichen Fähigkeiten sicher ganz anders beschaffen als die meinen. Vielleicht konnte sie Farbnuancen wahrnehmen, für die Menschenaugen nicht geschaffen waren. Wie bunt konnte ihre Welt sein? Wie mochte das aussehen?

Wenn ich mich bislang auch noch nicht damit zurechtgefunden hatte, meine eigene Magie sinnvoll einzusetzen, so praktisch fand ich Fähigkeiten wie die Nachtsichtigkeit. In meinem alten Leben, in meiner ursprünglichen Welt, war ich im Dunklen verzagt und ungeschickt gewesen. Nun machte es mir nichts mehr aus, wenn es an Beleuchtung fehlte. Trotzdem … hätte es nicht längst etwas heller werden müssen?

Das, was ich an dem Ort sah, an dem Sonnenstrahl nun gelandet war, verwirrte mich. Hier gab überhaupt nichts Auffälliges zu sehen. Eine kleine Senke eben, inmitten schier endloser Sanddünen. Davon gab es viele, zwischen den Hügeln, die vom Boden aus den Blick in die freie Wüste aus blockieren mochten, bis an den Horizont, der immer noch kein Anzeichen aufziehender Morgendämmerung zeigte.

Was war es, das Pataghíu aufhalten mochte? Worauf wartete der Helle Tag?

„Woher wisst Ihr, dass es hier ist? Und nicht etwa dort hinten?”, fragte ich und hielt mir meinen schmerzenden Rücken. Ich war heilfroh, endlich von dem Einhorn absteigen zu können, denn der Ritt durch die Kuft war alles andere als bequem gewesen. „Wie könnt Ihr so sicher sein?”

„Ich kenne diese Wüste hier seit unzähligen Sommern”, sagte sie und führte ihr Reittier den Hang hinab. „Wir waren erschüttert, als wir erfuhren, was die Unkundigen hier geschehen ließen. Es ist den Mächten sicher nicht gefällig, dass sie gewaltsamen Tod hierher gebracht haben.”

Warum habt ihr es dann nicht verhindert?, dachte ich, aber natürlich hütete ich mich davor, es auszusprechen. Band die Regenbogenritter ihr seltsames Versprechen gegenüber den Unkundigen denn so sehr, dass sie furchtbare Dinge duldeten? War es richtig, sich nicht einzumischen, wenn Unrecht geschah, nur weil man irgendwann in einem ganz anderen Zusammenhang versprochen hatte, sich nicht einzumischen?

Aber – war es Unrecht? Wie konnte ich denn beurteilen, auf welchen Grundlagen die Menschen in Aurópéa ihr Rechtssystem organisierten und über wen sie aus welchem Grund ihre Urteile fällten? Waren meine moralischen Ansichten auf die Wirklichkeit der Menschen dort überhaupt übertragbar?

Ich erkannte, dass ich viel zu wenig Ahnung davon hatte, wie in dieser Welt das Zusammenleben , die Organisation einer so großen Stadt funktionieren mochte. Ich hatte bislang nur einen Blick auf die höfischen Gemeinschaften jenseits des Montazíel erhascht, noch dazu unter ganz und gar unnormalen Umständen. Yalomiro hatte mir später erklärt, das in den großen Städten die Schutzherrschaft von teiranday und yarlay über kleine Gemeinden als rückständig galt. Die Herrschaftsformen würden sich wahrscheinlich früher oder später dem Vorbild von Vírhavet oder eben Aurópéa folgend wandeln. Er schloss allerdings aus, dass das innerhalb unserer Lebensspanne geschehen würde, denn eine solche Veränderung benötigte viel Zeit. Das stimmte mich nachdenklich, obwohl es uns in unserem Wald eigentlich nicht betraf. Vielleicht lag es daran, dass ich wusste wie beliebt Leute wie yarl Althopian oder yarl Moréaval bei ihren Schutzbefohlenen waren und wie verantwortungsvoll und ernsthaft sie handelten. Wäre eine große, bürokratisch organisierte Stadt besser für die Menschen darin?

Elosál riss mich aus meinen Gedanken. „Fällt Euch etwas auf?”, fragte sie.

„Woran?”

„Am Boden. Merkt Ihr, wie fest er ist?”

„Sollte er das nicht sein?”

„Nein. Das hier müsste feinster Sand sein, nicht viel größer als Staubkörnchen.”

Ich kniete mich hin und berührte den Boden. „Feucht”, sagte ich.

„Das Wasser gehört zu Euch. Wo kommt dieses her?”

Ich schaute ratlos zu ihr hoch, und sie fügte hinzu: „Ihr habt Regen und Hagel und Schnee beschworen.”

„Vielleicht kommt die Feuchtigkeit noch von dem Sandregensturm. Der ist sicher auch hier niedergegangen.”

„Dann wäre es nur eine dünne Schicht oben auf dem weichen Sand. Der Regen traf auf heißen Grund.”

Ich verstand. Der Niederschlag, der über der Wüste gefallen war, hatte nicht zu einer so massiven Matschkruste werden können, wie sie nun diese Senke zukleisterte. Ich und versuchte, mich zu konzentrieren. Wo kommst du her, fragte ich die Feuchtigkeit im Sand. Wie bist du hergekommen?

Einen Moment lang geschah nichts. Dann drängte sich ein Bild in meine Gedanken, das nicht meinen eigenen Sinnen entsprang. Ein tiefes, tiefes Loch. Stein. Dunkelheit. Tief in der Erde. Er brach hervor, quoll nach oben und ergoss sich in Straßen, trieb verstörte Menschen vor sich her. Und dann war da der Geruch von kaltem Rauch, Asche und Verwüstung. Das passte so gar nicht zu einer Überschwemmung.

Ich schrak hoch. Elosál schaute mich erwartungsvoll an.

„Grundwasser”, sagte ich und war irritiert davon, wie schleppend, fast träumerisch meine Stimme klang. „Oder ein unterirdischer Wasserlauf. Ein Brunnen. Nein, eine Quelle. Vielleicht zwei Quellen. Es fließt zur Wüste hin.”

„Wenn das so ist, dann ist es viel zu nah an der Oberfläche”, sagte sie beunruhigt.

„Ist das schlimm? Das hier ist nur Wüste. Hier kann doch nichts passieren.”

„Das hier ist offenbar ein Deckel”, berichtigte sie. „Hier sind sie hervorgekommen. Das Wasser steigt sicher nicht zufällig gerade hier auf. Vielleicht hat der Verfluchte es vor langer Zeit hierher umgeleitet.”

Ich setzte mich auf die Fersen und schaute nachdenklich zu ihr hinauf. „Und nun?”

Sie hockte sich selbst hin und strich mit ihren porzellanweißen Fingern Linien in den Sand. „Habt Ihr die Macht, diesen Deckel zu lüften, wenn mein hýardor und die Ritter kommen?”

„Wie soll das gehen?”

„Vielleicht so, wie Ihr den Regen manipuliert habt. Wir müssen …” Sie dachte nach und warf dann eine unbestimmte Geste über die Senke, „eine Fallgrube daraus machen. Wir müssen sie hier hinein treiben und festhalten, bis die Ritter sie in die Tiefe zurückdrängen.”

„Und dann?”

„Dann versiegeln wir es. Wir scheuchen sie hinein und verriegeln die Tür.”

„Können sie sich nicht gleich nebenan wieder ausgraben?”

„Solange wir keine neuen Menschenopfer darbringen, denke ich nicht, dass das passiert. Sofern die Mächte das Widerwesen zur Ordnung rufen, haben die Chaosgeister keinen Grund, hier im Weltenspiel zu sein.”

Ich fragte mich, ob Elosál nicht unterschätzte, was für ein massiver und dauerhafter Zauber notwendig sein würde, um Chaosgeister einzusperren, um das Widerwesen von .irgendetwas abzuhalten. Dann erinnerte ich mich an die Spinnen, die ich gelegentlich mit einem Becher einfing, um sie später in Freie zu setzen. Vielleicht war das gar nicht so anders. Es musste vielleicht gar nicht lang dauern und halten, nur Zeit verschaffen. Kontrolle herstellen.

„Elosál, könnt Ihr Feuer zaubern?”, fragte ich, einer unbestimmten Eingebung folgend.

„Feuer? Was habt Ihr vor?”

„Vielleicht kann ich das Wasser hier nahe an die Oberfläche bringen und dort halten. Wenn Ihr schnell genug viel Hitze hinzufügt, dann explodiert der Dampf und sprengt den Sand weg. Wenn es einen Hohlraum darunter geben sollte, könnte er freigelegt werden. Die Chaosgeister stürzen hinein, Mit etwas Glück ist es ein Portal, das aus dem Weltenspiel herausführt. “

Sie hob skeptisch die Brauen und dachte kurz nach. Dann nickte sie. „Ich kann es versuchen.”

„Gut. Dann probiere ich, das Wasser zusammenzurufen und es zu sammeln, so gut es geht. Aber …”

„Ja?”

Ich zögerte. Würde es zaghaft und dumm klingen, wenn ich meine Bedenken äußerte?

„Angenommen, wir schaffen eine Grube und die Chaosgeister stürzen hinein. Werden Eure Ritter, Euer hýardor die Grube so schließen können, dass sie nicht wieder hinaus kommen?”

„Lange genug, Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Es ist uns bislang immer gelungen. Irgendwie.”

Ich berührte den Boden, konnte das Wasser darin fühlen und schloss die Augen. Ich sandte Ausläufer meiner maghiscal in den Sand, viel dünner und zarter als das Myzel eines Pilzes. Das Wasser fühlte sich angenehm an, frisches, kaltes und klares Wasser, eines, das vom Weg abgekommen war. Nicht Böses oder Verdorbenes war darin, nur eine verstandlose Verwunderung, so als spüre es, dass es sich verlaufen hatte und von seinem natürlichen Weg abgekommen war.

„Es wird regnen”, sagte ich träumerisch.

„Wie bitte?”

„Es wird eine große Wolke aufsteigen. Vielleicht regnet sie über Aurópéa ab. Vielleicht zieht sie nach Norden. Das Wasser …”

„Ist alles in Ordnung, Meisterin Salghiára?”

Und wieder schrak ich hoch. War ich denn weggedöst und in einen Sekundenschlaf gefallen?

„Wie lange hütet Ihr die Chaosgeister schon, Meisterin Elosál? Wie lange seid ihr hier, Ihr und … Eure Ritter?”

„Lange”, raunte sie. Ich spürte, wie auch von ihr etwas in den Boden drang, sich dort ausbreitete, das Wasser umspielte und wartete. „Wir waren von Anbeginn hier.”

„Von Anbeginn?”

„Meine Schwestern und ich. Pataghíu hat uns hergebracht, bevor die Menschen erwachten.”

Ihre Magie berührte die meine in der Tiefe. Zu meiner Überraschung tat es nicht weh.

„Wo kommt Ihr her?”, fragte ich. „Wo wart Ihr zuvor?”

„Ich weiß es nicht. Ich habe es vergessen.” Sie schloss die goldenen Augen. „Und Ihr? Erinnert Ihr Euch?”

„Ja. Ich weiß es ganz genau.”

„Cýelú”, antwortete sie, „weiß es auch noch. Manchmal wacht er nachts auf und weint und schreit und kann sich kaum beruhigen. Seit so vielen, vielen Sommern … aber ich … ich weiß es nicht.”

„Wir haben viel zu reden, wenn uns dies hier gelingt.”

„Ja. Sehr viel.”

„Und nun?”

„Nun warten wir.”

Ich schaute schläfrig auf. Was war das, das mich plötzlich so müde machte?

Elosál hob den Kopf und schaute nach Norden. In der Ferne schwebte der glitzernde Wolkenreif am Himmel, und dahinter Schwärze, ein Loch, ein Portal am Nachthimmel. Das Gleißen war verloschen. Das war gut.

Aber am nördlichen Himmel, oberhalb des Hügelkamms, glühte der Regenbogen in der Nacht wie ein unheilvolles Nordlicht. Sie kamen heran.

***

Wo blieb die Sonne? Was hielt Pataghíu davon ab, im Süden den Himmel zu erhellen und endlich die Nacht abzulösen?

Cýelú hatte das Zeitgefühl verloren. Noch am Morgen hatte er das kleine Mädchen in den Cielástel gebracht, zwei Tage, ganze Tage war er mit ihr geflogen. Und doch kam ihm die Spanne zwischen dem Kampf mit dem unkundigen Ritter in Boscargén bis zu jenem Morgen viel länger vor als die ab seiner Rückkehr in das Heiligtum am Wüstenrand bis jetzt.

Cýelú Irísolor war erschöpft, sich zu konzentrieren und wachsam zu bleiben fiel ihm zunehmend schwer. Die schier endlose Nacht zehrte an seinen Kräften, und ab und zu überkam ihn die flüchtige Sehnsucht nach der Sicherheit des Cielástel, der Wunsch, sich dort niederzulegen und zu schlafen, einfach nur zu schlafen … in Elosáls Armen zu liegen, sicher und behütet und ausruhen zu dürfen.

Er musste am Morgen ausgeruht sein! Er hatte Advon versprochen, mit ihm in die Wüste zu reiten. Mit ihm und seinem Einhorn um die Wette zu galoppieren. Endlich mit seinem Sohn gemeinsam die Dinge zu erleben, die ein Vater seinem Kind bieten sollte. Nun, da dieses grässliche, bösartige Weib Siledaú entlarvt und verschwunden war, nun war es doch ausgestanden! Sie mussten sich nicht mehr fürchten, vor einer diffusen Gefahr aus dem Norden, die sich als nichts weiter entpuppt hatte als ein einzelner anmaßender, aber doch wohl ehrenhafter Schattensänger.

Perlenglanz buckelte unter dem Sattel, so als spüre er, dass sein Herr vor Erschöpfung einzudösen drohte. Cýelú schrak hoch und blickte sich um. Elosál war bei ihm. Jeder aus der zwar geschmälerten, aber immer noch riesigen Schar aus Regenbogenrittern um ihn herum war ein Teil von ihr, existierte allein durch ihre Kraft und ihren Willen. Aber er, der Mensch, dem Pataghíu die Magie geschenkt hatte, um ihr beizustehen, der durfte nun nicht locker lassen. Er musste ihr beistehen, wie es in seiner Macht stand.

Unter ihnen rannten, galoppierten, sprangen, schlängelten und kugelten die Monster, die Kreaturen, die Schöpfungen des Widerwesens vor ihnen her wie eine aufgescheuchte Herde wilder Tiere. Ab und zu versuchte eines, seitlich auszubrechen oder blieb hinter den anderen zurück, doch die Regenbogenritter ließen sie nicht entkommen. Wann immer es nötig war, änderten sie ihre Formation, trieben die Kreaturen wieder zusammen, verlangsamten sogar ihr Tempo und kesselten die Wesen ein, bis langsamere Nachzügler den Pulk wieder eingeholt hatten. Keines sollte zurückbleiben. Keines von ihnen hatte auf dieser Seite des Chaos etwas zu suchen.

Das lief soweit ganz gut. Offenkundig waren sie gerade noch rechtzeitig zur Stelle gewesen, bevor die Monster sich zu weit hatten verstreuen und auf das Weltenspiel losstürmen können. Wenn nur Elosál keinen Schaden daran nahm, ganz allein diese gewaltige Aufgabe zu bestehen!

Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Der schimmernde Reif, wie ein Portal, schwebte immer noch horizontal über den Türmen, aber das Gleißen war wieder der Schwärze gewichen. War das gut? Zumindest war es ein Schritt zurück zu dem, was zuvor gewesen war, vielleicht ein Zeichen dafür, dass die anderen, dass der Schattensänger, wie immer er in diese Dinge verwickelt war, zeitgleich seinerseits etwas bändigte, das ihnen, den Farbenmagiern, nicht möglich gewesen wäre.

Wenn nur dieser wunderliche báchorkor derweil gut auf Advon achtgab!

„Ist alles in Ordnung?”, fragte der Indigofarbene, der ganz in Cýelús Nähe ritt. Der Goldene schrak auf.

„Ja. Ja, natürlich. Ich bin nur plötzlich so … müde.”

„Ihr werdet bald ausruhen können”, rief der arcaval’ay ihm aufmunternd zu. „Wir haben sie im Griff.”

„Aber wir sind noch nicht am Ziel! Wir wissen nicht, was dort geschieht!”

„Es ist alles vorbereitet”, versicherte der Regenbogenritter. „Eure hýardora ist bereits dort und wartet auf Euch!”

Cýelú war einen kurzen Moment versucht, ihn zu fragen, woher er das wissen wollte. Dann wurde ihm klar, dass der Indigofarbene es natürlich wissen musste, denn letztlich war es Elosáls Wille, der ihn gerade belebte, lenkte, ihm vorgab, was zu tun war.

„Wir werden niemals ausruhen können”, murmelte der Goldene bei sich. „Nicht, solange sie jederzeit zurückkehren können. Wir werden sie ewig bewachen müssen.”

„Gleich”, spornte der Indigofarbene ihn an. „Gleich sind wir am Ziel. Außerdem … wir sind nicht mehr allein!”

***

Dafür, dass der Großteil seines Körpers nicht existierte, gar nicht vorhanden war, das empfindlich und verwundbar war,war der Schmerz verstörend real. Und er hörte nicht auf, solange sie an ihm zerrten, rissen und sich mit ihren teils deformierten, spitzen Zähnen nicht nur dort verbissen, wo noch Reste von Fleisch und Knochen waren. Sie schienen Genuss daran zu finden, ihn zu attackieren wie eine Meute tollwütiger Wildwölfe ein wehrloses Beutetier. Sie attackierten etwas, das nicht existierte, unfassbare Qual, unabhängig von einem fleischlichen Leib!

Unter all dem überwältigenden Schmerz fragte Ovidáol sich, ob sie ihn wohl erkannt hatten. Er sah nicht mehr aus wie Úldaise Tiáramalé, der alte Mann, der ihnen das Leben weggenommen hatte. Erinnerten sie sich überhaupt? Oder waren sie einfach wahnsinnig geworden, als die Chaosgeister sie hierher gezerrt hatten?

„Weg!”, kreischte er und versuchte, sie beiseite zu stoßen, sich loszureißen und von ihnen zu befreien. „Lasst mich in Ruhe!”

Es war lächerlich, unwürdig, vollkommen sinnlos. Sie würden keine Gnade mit ihm haben, und er hatte nicht die Mittel, sich zu verteidigen. Er hatte keinen Körper, keinen Stab, um ihnen zu drohen, und keine Kraft.

Die Erkenntnis, dass all die Mühe, völlig vergebens gewesen waren, dämpfte für einen Moment den grauenhaften Schmerz. All die Zeit, all das Leben, das er verschwendet hatte, um auf diese blamable Weise zu scheitern, überwältigt von einem Schattensänger, einem Kind und einem unbedarften báchorkor! Ganz blank und erschöpft war sein Geist, und irgendwo in der Nähe hörte er die Stimmen von Menschen, die er nicht zuordnen konnte. Lebendige Menschen, hier, an einem Ort, wo sie nicht sein sollten?

Was war hier los?

Ganz, ganz weit weg, am Rande seines Bewusstseins, hörte er die Stimme des Jungen, des verfluchten Balges, das drohende Grollen und Schnauben eines Einhorns. Wie war der Knabe hierher gelangt? Wie konnte er hier existieren? War das hier nicht der Ort, an dem sich nichts aufhalten durfte, das über einen eigenen Willen verfügte? Wieso duldete das Widerwesen all das flüchtige, primitive, lästerliche menschliche Leben in seine unantastbaren Domäne jenseits des Weltenspiels?

Und dann … dann war da etwas Körperloses, etwas Unsichtbares, etwas, das nicht vorhanden schien und doch die ganze gewaltige Weite des Chaos einzunehmen schien. Ovidáol starrte entsetzt mit dem letzten Rest seines Auges hin. Er spürte es. Es … beobachtete.

Ja, es betrachtete ihn, still und ohne einen Laut. Es schaute ungerührt dabei zu, wie die Kreaturen versuchten, ihn zu zerstören. Es war interessiert, aber es schien keine Genugtuung zu empfinden, ihn leiden zu sehen. Es … nahm es zur Kenntnis.

Ovidáol Etaímalar hörte sich selbst kreischen und schrien und flehen, so wie er selbst so oft andere gehört hatte, die er verletzt, vernichtet und zuletzt sogar den Chaosgeistern vorgeworfen hatte. Sein Verstand reichte kaum mehr dazu aus, diese Laute mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Die minderen Chaosgeister waren entfesselt. Viele von ihnen, wenn auch nicht alle, schienen instinktiv eine Verbindung zwischen ihrem eigenen Schicksal und demjenigen, der es verursacht hatte, herzustellen. Wenn sie noch dazu in der Lage waren, so etwas wie Wut, Rache und Lust zu empfinden, Reste dessen, was sie einmal als Menschen im Herzen getragen haben mochten, dann genossen sie ihre Genugtuung und kosteten sie aus.

„Nein!”, schrillte er, und es war nichts mehr an ihm, das nicht voller Qual und Wunde war, „lasst mich! Lasst mich in Ruhe! Holt Euch die anderen!

Das Wesen, das die Kontrolle über das zu haben schien, was sich in seiner Domäne abspielte, schaute zu, mit einem passiven, sachlichen Interesse, vielleicht so, wie ein forscor ein seltenes Insekt unter einer Lupe betrachten würde.

„Bitte”, jammerte Ovidáol Etaímalar unterwürfig, „bitte! Wenn du das Widerwesen bist, dann vergib mir! Vergib mir meine Anmaßung! Hab Gnade mit mir!”

Aber es ließ sich nicht einmal dazu hinab, mit ihm zu reden.

„Bitte”, stieß er hervor, „bitte! Wenn es keine Rettung für mich gibt, dann lass mich wenigstens hinter die Träume! Mach, dass es aufhört!”

Du hast mir viele neue Spielzeuge geschenkt, sagte das Widerwesen. Viel mehr, als das Weltenspiel mir zugestanden hat.

„Ja!”, rief Ovidáol Etaímalar aus. „Ja! Sie gehören dir! Sie sind alle für dich! Ich kann dir mehr verschaffen, wenn du willst! Wenn du mich rettest!”

Ab und zu, fuhr das Widerwesen fort, da habe ich selbst ein Menschenwesen gefunden. Manchmal sind sie irgendwie in meine Spähre geraten. Das war … interessant. Aber die da, die dir so lästig fallen …

„Bitte”, flehte der Verfluchte. „Bitte! Gebiete ihnen Einhalt! Schone mein Leben, oder lass mich sterben, aber ruf sie zurück …”

Tand und Plunder, sagte das Widerwesen. Was soll ich mit Kehricht aus dem Weltenspiel?

Ein Hoffnungsfunke keimte in Ovidáol auf. „Sind sie dir lästig? Dann lass sie mich entfernen! Dann lass mich sie zurückführen ins Weltenspiel, und …”

Nicht jetzt. Nicht alle. Und nicht dich.

„Ich …. ich kann dir von großem Nutzen sein! Ja! Wenn du mich verschonst und mir einen Körper überlässt …”

Was dann?

„Es kann einer von denen hier sein! Das würde mir schon ausreichen! Nur lass sie von mir ablassen! Bitte … ich … du wirst es nicht bereuen!”

Ich bereue niemals. Du kannst mir nichts bieten. Und ich werde mir von dir nichts bieten lassen.

Es wandte sich gelangweilt ab, und schien sich dann wieder den anderen Menschen zuzuwenden, die es auf irgendeinem obskuren Weg ins Chaos verschlagen haben mochte. Offenbar waren die kurzweiliger.

„Bitte! Hab Erbarmen! Wie soll es denn enden? Wie lange soll es noch gehen? Wie lange soll ich das ertragen?”

Wie lange?, hörte er das Widerwesen. Was fragst du nach Zeit an einem Ort wie diesem? An einem Ort, an dem das Licht keine Macht hat?

Ovidáol Etaímalar stöhnte, litt und fuhr damit fort, nicht zu sterben, während die minderen Chaosgeister die Reste seines Körpers liegen ließen und stattdessen nun versuchten, stattdessen seine Seele zu zerfetzen.