Yalomiros Musik endete mit einem schrillen Quietschen. Der Bogen rutschte von den Saiten ab, und genauso verlosch das Licht, das bunte, heitere, das Dýamirée in den Händen gehalten hatte wie einen Ball und nun geistesgegenwärtig an sich gerissen hatte wie ihr Kuscheltier. Die Kugel aus konzentrierter Magie war flüchtig und substanzlos wie Nebel geworden, oder wie Qualm, der von etwas Verkohlendem aufstieg. Das Mädchen versuchte hastig, nichts davon entkommen zu lassen.

„Schnell!”, sagte Galéon hastig. „Gib es mir!”

Dýamirée starrte gehetzt in die Übelkeit erregende Leere, die feindlicher war als der Schatten. Die Schatten hatte sie verstanden, aber dieser Ort … er tat ihr weh! Und warum war Galéon so plötzlich hier? Wie kam er in eine so schreckliche Umgebung?

„Das ist meins!”, sagte sie verstört. Dass Galéon mitten in diesem grässlichen Nichts auftauchte, erschien ihr weniger verstörend als das Ansinnen, die Magie aus der Hand zu geben.

„Gib es mir! Ich beschütze es für dich! Es geht hier sonst entzwei!”

„Ich darf es nicht weggeben!”

„Hier”, sagte Galéon drängend und hielt ihr einen großen klaren Stein entgegen, der in dem grauen, trostlosen Zwielicht so rot glühte, dass es in den Augen schmerzte. In der anderen Hand hielt er ungelenk eine klobige, schwere Axt. „Hier, leg es hier hinein! Das ist ein Gefäß, das hier Bestand hat und es halten kann! Ich nehme es dir nicht weg!”

„Sicher nicht?”

„Nein! Aber wenn du es nicht tust, dann löst es sich auf!”

„Tu es, kleiner Stern”, ächzte der Vater, so schmerzlich, als litte er von einem auf den nächsten Moment schreckliche Qualen. „Vertrau ihm!”

Dýamirée gab sich einen Ruck. Dann stülpte sie das Gebilde, das drohte, sich zu verflüchtigen, über den Stein in Galéons Hand. Tiefschwarz wurde der Stein, schwärzer als das Dunkel. Nur ganz in seinem innersten, da funkelten kleine bunte Sternchen wie das Lichterspiel auf dem Morgentau. Das Mädchen schaute betroffen hin.

„Du hast die Magie eingesperrt“, sagte sie dann vorwurfsvoll.

„Nein. Ich hab es nur in einen dichten Behälter gelegt.” Galéon betrachtete den bunten Funkenwirbel fasziniert. „Ihr könnt hier nicht zaubern, weißt du? In Pianmurít kann Schattenmagie nicht existieren.” Er lächelte erleichtert und gab ihr den Stein. Warm und lebendig fühlte er sich in ihren Händen an. „Hier. Trag es selbst. Du kannst es später wieder hinauslassen und damit machen, was dir einfällt.”

„Borgst du mir den Stein?”

„Solange du ihn brauchst. Ich bin so froh, euch gefunden zu haben!”

Der Vater rappelte sich auf. Sein Gesicht war bleich wie Kalk, so erschöpft, dass Dýamirée sich davor erschrak. Er blieb schwankend stehen und tastete um sich. Galéon trat näher, wohl um ihn stützen zu können, sollte er den Halt verlieren.

„Wer”, ächzte der Vater, „hat dich gelehrt, dass es diesen Ort gibt? Und wie man hergelangt?”

„Ich bin gerne bereit, Euch die Geschichte dazu zu erzählen”, antwortete Galéon beschwichtigend. „Wir haben jetzt nicht die Ruhe dafür.”

Dýamirée schaute sich um. Wo waren die Schatten geblieben? Und … wo war der böse alte Mann geblieben? Was war das hier, jenseits des Zwielichtes?

„Papa”, beschwerte das Mädchen sich kläglich. Etwas in ihrem Magen begehrte gegen diese wunderliche neue Umgebung auf und schien aus ihr hinaus zu wollen. Und hinter ihren Augen kribbelte es bis tief in ihren Kopf hinein.

„Ich will es trotzdem jetzt wissen!”, fuhr der Vater den báchorkor an, mit einer Wut, die Dýamirée von ihm nicht kannte und die sie umso mehr erschreckte. „Wer hat dich an diesen Ort geführt?”

Galéon blickte mit seinen sanften dunklen Augen wie verträumt an ihm vorbei und sagte dann rätselhaft: „Jemand, der denkt, dass es recht und ehrenhaft Euch gegenüber ist. Jemand, der sich gleichermaßen über Euren ungebrochenen Stolz amüsiert und ärgert.” Er verstummte kurz und fügte hinzu: „Und der Euch etwas zu vergelten hat, durch das, was ich hier tue. Solange ich es kann. Ihr müsst nur einmal wagen, mir zu vertrauen.”

Der Vater musterte den báchorkor überrascht. Dann neigte er kurz den Kopf von ihm. „Ich hoffe, ich begehe damit keine Dummheit.”

„Glaubt mir, es ist auch in meinem Interesse, diesen Ort so schnell und so heil als möglich wieder zu verlassen. Ich habe Dringlicheres zu tun!”

„Papa! Da kommt gleich was Bitteres aus mir raus”, jammerte Dýamirée und schloss die Augen vor dem grässlichen grauen Licht. Als viel kleineres Kind hatte sie einmal von den süßen orangenen Beeren genascht, die unter den großen Bäumen am anderen Seeufer wuchsen. Das hatte sich ähnlich angefühlt und sie hatte es einen viel zu langen halben Tag bereut. Als sie später nachgeschaut hatte, waren die Beeren mitsamt den Büschen fort gewesen und die Mutter sehr erleichtert.

„Nehmt Ihr den Stab”, sagte Galéon knapp. „Nun, da die Magie vorerst heraus ist, könnt ihr ihn unbeschadet anfassen. Und dann kommt endlich!”

Der Vater steckte seine Geige und den Bogen hastig in seine Tasche und nahm Dýamirée endlich den furchtbaren, sperrigen Stecken ab. Dann hob er das Kind auf den Arm. Er tat das selbst mit letzter Kraft, und Dýamirée befürchtete, sie könne nicht an sich halten und auf seinen schönen silberbestickten Mantel spucken. Sie drückte den Stein an sich, in dem es bunt glitzerte und glomm, schloss die Augen und versuchte, die Bitternis zu schlucken. Ihr Vater trug sie zwei, drei Schritte weit, dann spürte sie, wie seine Arme nachgaben. Wie schrecklich! Wie konnte das sein, dass er offenbar an diesem Ort all seine Kraft verlor, nachdem er sie doch zuvor so stark und unermüdlich durch die Schatten getragen hatte?

Wieso spürte sie es nicht ebenso? Dýamirée betrachtete ratlos das im Stein gefangene Funkeln ihrer maghiscal. War hier etwas, das sie beschützte?

„Ich hoffe”, sagte der báchorkor und hob seine Axt, „das funktioniert noch einmal.”

„Bei den Mächten”, ächzte der Vater entgeistert, „was ist denn das für ein stümperhaftes Werkzeug?”

„Eines, das die Unkundigen geschaffen haben.” Galéon lachte bitter auf. „Fragt nicht, wie und wo und warum. Auf die Geschichte bin ich selbst gespannt.”

„Funktioniert es?”

„Es brachte mich her, zusammen mit dem Willen von Advon Irísolor.”

„Advon?”, rief Dýamirée aus und bereute es sofort wieder, denn bitterer Speichel schwappte aus ihrer Kehle. „Advon ist hier?”

„Er ist bei dir, Dýamirée. Er ist immer bei dir! Ihr könnt ohne einander nicht mehr sein.”

„Und wo ist er? Also, ganz wörtlich genommen?”, fragte der Vater matt.

„Im Chaos, bei den anderen. Und jetzt spart Euch Eure Neugier auf und kommt! Hältst du es noch einen Moment aus, Dýamirée?”

Sie nickte und staunte, dass Galéon so energisch geredet hatte, dass der Vater nicht widersprach.

„Dann gib mir deine Hand und komm!”

Sie zögerte. Da sie den Stein festhalten musste, hatte sie nur eine Hand frei und musste sich entscheiden, wen sie damit festhalten mochte. Galéon war in Eile und hatte darüber sicherlich einfach nicht nachgedacht. Aber ihr Vater, der wäre vielleicht gekränkt, wenn sie nicht die seine nahm, wie sie es immer getan hatte, seit sie ein ganz kleines Krabbelkind gewesen war.

„Ich geh allein”, entschied sie. „Ich kann das allein. Kommt, bevor der Fetzenmann uns noch einholt!”

„Fetzenmann?” Nun war Galéon verwirrt.

„Das Wenige, das vom Verfluchten blieb. Noktáma hat ihn nicht gerichtet”, brachte ihr Vater hervor. „Nun beeil dich, was immer du vollbringen kannst, bevor es zu spät ist.”

Der báchorkor packte die Axt und schaute sich alarmiert um, sein Blick blieb richtungslos im Leeren hängen.

„Seid unbesorgt”, sagte er dann. „Ich denke, um den Verfluchten kümmern sich nun andere.”

Dann hob er das Werkzeug und holte weit damit aus.

***

Da bist du ja, sagte das Traumphantom. Hat Noktáma dich herausgeworfen aus ihrem Reich wie ein Wirt einen Besoffenen aus der Schankstube?

Ovidáol ächzte lautlos, obwohl er hier, in dieser merkwürdigen Blase einer Zwischenwelt, sogar eine Stimme gehabt hätte, wenn auch nur noch eine leise, lallende, mit einem halben Mund und einer fadenscheinigen Zunge. Der Verfluchte riss sich vom diffusen Anblick des báchorkor in dem Dämmerstrahlen los, der es fertig gebracht hatte, diesen Ort zu erreichen, und von dem des Stabes, den der ebenso schemenhaft wirkende Schattensänger umfasst hielt wie einen Krückstock, so schwach schien ihn die neue Umgebung zu machen. Noktámas Schatten waren fort; hatten ihn ausgespien.

Der, der da sprach, tat ihm den Gefallen, flüchtig und wohl nur für sein noch sehendes Auge die Illusion einer Erscheinung aufzubauen, ansonsten war er ebenso eines mit dem Zwielicht und noch fragiler, denn nicht einmal die Reste eines Körpers hatte er hergebracht. Ein goala’ay. Ein charismatischer, Ehrfurcht gebietender Magier. Wie lächerlich sah er dagegen aus, der báchorkor, dem die Axt, die er schwang, viel zu schwer war für den ausgezehrten, schmächtigen Körper.

„Wer bist du?”, hauchte der Namenlose.

Wir sind einander nie begegnet, das ist wahr. Aber du wirst von mir gehört haben, irgendwann. Deinesgleichen hat vor mir gezittert. Ich war Gor Lucegath.

Das, was von dem Schattensänger noch übrig war, stutzte. Dann grinste er.

„Ich verstehe. Dann bist du wohl der, der mir den da, den Schüler meines Erzfeindes weggeschnappt hat, nicht wahr?”

Es war nicht mein Plan. Aber im Nachhinein betrachtet, kommt es mir zupass. Wie es enden wird, weiß ich noch nicht.

„Und der báchorkor? Dieser alberne Kerl? Der auch? Den hast du auch dem Licht vorenthalten?”

Nun. Einer muss am Ende die Ordnung machen.

Ovidáol schaute hinüber, auf das gespenstische Bild, auf das Kind mit dem funkelnden Stein, den entkräfteten Schattensänger mit dem nutzlosen Zauberstab und den báchorkor, der unter den skeptischen Blicken des Vorgenannten Löcher ins Nichts hieb. Das kleine Mädchen feuerte ihn eifrig an und schlug sich dann die Hand vor den Mund, wahrscheinlich, um Auswurf zurückzuhalten.

„Ordnung?”

Selbst das Chaos hat seine Ordnung und Gesetze, denen kein Menschenwesen entrinnen kann. Zumindest nicht ohne kundige Hilfe. Ich habe damals viel von dir gehört, Ovidáol Etaímalar. Der, der mein Meister war, dem war es nicht vergönnt, dich zu besiegen. Wer hat es damals verhindert? Ich habe es nie erfahren.

Der Verfluchte kämpfte sich durch das trostlose Leuchten näher heran, aber im selben Tempo wich das Phantom vor ihm zurück. War es vielleicht nur eine Spiegelung? Ein eingebildetes Trugbild, das er sich in dieser unerträglichen Halbheit einbildete?

„Du willst wissen, was damals geschehen ist? Wieso er mir entkommen ist, der Emporkömmling, der Größenwahnsinnige, der, den meinesgleichen in Schande verstoßen hat, für eine Lächerlichkeit?”

Als es geschah, war ich längst vor ihm und seinem Wahnsinn geflohen. Und er hat niemals ein Wort darüber entrinnen lassen. Ich war erstaunt, dass du ihn am Leben gelassen hast. Und dies ist meine letzte Gelegenheit, zu erfahren, warum du ihn nicht ebenso mühelos vernichtet hast, so wie all die anderen Schattensänger, die für Noktáma kämpften. Warum hast du ihn laufen lassen, den Namenlosen? Hattest du Mitleid?

„Nein. Er .. hatte Hilfe. Zu zweit waren sie stark genug, um zu entkommen. Und … ich hatte wichtigeres zu tun, als sie zu verfolgen, diese törichten Idioten.”

Sie?, fragte das Phantom.

„Diese verfluchte rotgewandete Dirne, die sich überall einmischen musste!”

Die Rote Dame? Sie hat ihm geholfen, dir zu entrinnen?

Sie hatte Mitleid mit ihm. Die Närrin. Vielleicht hat sie gedacht, sie könnte ihn vor seinem eigenen Wahn retten.”

Der Rotgewandete lächelte und wandte sich dann dem Idioten zu, den er sich offenbar als Schüler auserkoren hatte und der wie besessen und mit wachsender Verzweiflung auf das Nichts einhakte, während er dringliche Mahnungen ausrief. Er solle sich konzentrieren. Er solle es wollen! Er solle sich, bei allen Mächten und dem Widerwesen selbst, nicht ablenken lassen und einfach nur wollen!

Ovidáol lächelte hämisch. Auf den Jungen, auf das Drecksbalg, das Pataghíu ins Weltenspiel gebracht hatte, war wohl kein Verlass. Wie tragisch. Advon Irísolor war ihnen nun nicht mehr von Nutzen, und sie waren gestrandet in etwas, das erfreulich stabil war, wenn auch so unwirklich und lästerlich im Spiel der Mächte, wie es nur sein konnte.

Ovidáol, sagte das Phantom, ich glaube, Noktáma hat dich nicht verstoßen. Das würde sie nie mit einem ihrer Diener tun.

Er stutzte. Was wollte diese absurde Geistererscheinung in diesem wahnsinnigen Alptraum ihm damit sagen?

„Nein?”, fragte er misstrauisch.

Nein. Im Gegenteil. Sie hat dich ausgeliefert. Oder hast du das Widerwesen etwa um Erlaubnis gebeten, mit seinen Püppchen zu spielen?

„Advon!”, zürnte der báchorkor, „wir wollen zurück! Verflucht, bring uns zurück!”

Der Schattensänger trat vor und fiel dem jungen Mann in den Arm. „Lass es gut sein. Der Junge ist entweder zu schwach. Oder er ist selbst in Gefahr.”

Der báchorkor drehte sich zu ihm um. Ovidáol sah, dass er den Tränen nahe war. In seinem Gesicht stand so viel Verzweiflung, dass es Ovidáol erheitert hätte, wenn da nicht die Worte des geisterhaften goala’ay in seinem verbliebenen Ohren nachgehallt hätten.

„Das Widerwesen?”, fragte er. Aber das Phantom war fort. Aufgelöst im grauen Zwielicht.

„Lass mich versuchen”, sagte das Kind und trat vor. Mit beiden Händen streckte sie den Kristall von sich, in dem das Licht ihrer Magie kreiste und wogte wie ein Schwarm winzigkleiner Bienen. Das Gesicht des Mädchens passte nicht zu dieser feierlichen Geste, denn offensichtlich war ihm speiübel.

„Schau, Advon”, sagte sie. „Schau unser schönes Licht. Ich bin hier! Kannst du mich sehen? Komm zu uns! Hol uns hier raus!”

Und … das Licht glomm auf, hell wie eine Laterne, wie ein tausendfarbiges, in allen Regenbogenfarben schillerndes Leuchtfeuer, und es verdarb das kranke graue Zwielicht mit kraftstrotzender Energie und Zuversicht.

Die Kapsel aus Nichts, aus Resignation und Hoffnungslosigkeit zog sich zu, brach in Splitter und Scherben zusammen und löste sich schneller auf, als Ovidáol selbst oder einer der lebendigen Menschen dort Atem holen konnte, und wurde zu Nebel, aus sich selbst heraus leuchtendem Nebel unter einem pechschwarzen Oben, geläuterten Schatten, die nun wieder frei waren von lästerlichen Störungen und ungebetenen Besuchern.

Ovidáol sah das alles, ohne es so schnell zu begreifen, und dann waren das Hände, mehr oder weniger menschliche Hände, die nach dem griffen, was man an ihm noch greifen konnte, und die versuchten, ihn zwischen sich zu zerreißen und in einen unglaublichen Tumult hineinzuzerren.