
Dýamirée begriff nicht, worüber ihr Vater mit dem unheimlichen Mann redete. Vielleicht würde er ihr es erklären, später. Im Augenblick war nur wichtig, dass er ihn lange genug ablenkte.
Das Mädchen hatte zwischenzeitlich verstanden, dass das überhelle Licht von dem Stab ausging und dass offenbar sie selbst dafür verantwortlich war. Ganz gegen seinen Willen war das Kind zunehmend fasziniert davon. Dýamirée hatte eine grobe Vorstellung davon, wie die Mutter und der Vater ihre Magie konzentrieren und lenken konnten, um sie auf bestimmte Ziele zu richten. So ähnlich musste es sich mit diesem Stab verhalten. Sicher, der Eiskristall an der Spitze war zerbrochen, ein Scherbenstück fehlte, und wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass die Magie durch sie hindurch und einfach daraus hervor strömte und Noktámas Domäne so gruselig hell machte.
Es war wie eine Kanne, bei der ein Stück vom Ausguss abgebrochen war. Jemand musste das Loch im Eis versiegeln. Aber wo sollte sie hier etwas hernehmen, was sich hineinstopfen ließ, um die Magie darinnen zu halten? Hier gab es überhaupt nichts mehr, nicht einmal Dunkelheit.
Ich will, dachte Dýamirée, dass der Stab aufhört, zu leuchten! Ich will, dass es wieder dunkel wird!
Aber mit schierem Willen, das war ihr klar, kam sie nicht weiter. Etwas einfach zu wollen, das war nicht die Weise, auf die Noktámas Magie funktionierte. Vielleicht hätte Advons Vater so etwas bewirken können, aber der war nicht hier. Und Advon … ob Advon nach ihr suchte?
Natürlich tat er das. Advon war ihr Freund. Sie war ihm begegnet und hatte sofort gewusst, dass er und sie zusammengehörten. Er war ihr auf seine Weise so ähnlich, dass es sich anfühlte, als habe sie ein Stück von sich selbst entdeckt.
Ob es der Mutter mit dem Vater ähnlich ergangen war?
So dicht war Advon hinter ihr gewesen, als sie auf den Hof gerannt war. Er musste gesehen haben, was geschehen war. Sie alle mussten es gesehen haben, Advon, die Mutter, die ebenfalls die Treppe hinab gelaufen war, Galéon musste es wissen und die schöne Dame, die Advons Mama war. Ob sie alle nach ihnen suchten? Die Mutter würde sich doch denken, dass sie sich in den Schatten verlaufen hatten!
Vielleicht mussten sie sich einfach bemerkbar machen, für den Fall, dass das unlöschbare Zauberlicht sie in den Schatten verschüttet hatte, sodass die anderen sie nicht mehr bemerkten.
Dýamirée umfasste den Stab mit beiden Händen. Den Vater sah sie als fahles Schemen im Licht, er trug wohl genug Dunkelheit in sich, um vor ihren Augen nicht gänzlich zu verglimmen. Der unvollständige Mann war kaum auszumachen. So schwach und doch so böse …
Und wenn Advon ganz nahe war und nur ausgesperrt aus Noktámas Reich? Vielleicht war es so, dass kein Magier, der Pataghíu diente, Noktámas schöne schwarze Domäne betreten konnte. Aber vielleicht hatte Noktáma ein Einsehen, wenn man sie freundlich darum bat?
Noktáma, dachte Dýamirée mit großem Ernst und versuchte, ihre Gedanken so fest und laut zu machen, dass sie fast wie gesprochene Worte waren. Der Vater hatte ihr erklärt, dass Noktáma nur zu Schattensängern redete, wenn besondere Dinge geschahen. War das hier besonders genug? Musste Noktáma sich nicht über all das Licht und den Tumult in ihren Schatten wundern? Die Mutter bemerkte es doch auch immer, wenn Dýamirée an allzu kalten und regnerischen Tagen im Etaímalon zu wild spielte.
Noktáma, ich hab dich so oft gebeten, mir doch auch Magie zu geben, wie Mama und Papa. Danke, dass du mir jetzt gleich so viel davon gegeben hast. Das ist viel mehr, als ich auf einmal festhalten kann. Ich will immer gut darauf achtgeben, dass ich damit nur Dinge mache, die dir gefallen. Ich verspreche dir, nur Schönes und Gutes zu zaubern. Mama und Papa werden mir zeigen, wie ich das machen kann. Aber würdest du uns bitte wieder zurück ins Weltenspiel lassen?
Sie hatte vertrauensvoll mit einer Antwort gerechnet. Aber Noktáma, wenn sie überhaupt da und in den Schatten ebenso geblendet war, schwieg. Das Mädchen seufzte enttäuscht. Das war nicht gerecht. Da hatte sie nun all die Magie, mit der sich so viele Dinge machen ließen, und gebrauchen konnte sie davon nichts.
Bitte, wiederholte Dýamirée innig. Lass wenigstens meinen Papa hier heraus. Der böse kaputte Mann will ihm seinen Körper wegnehmen. Mama sagt, man darf anderen nichts wegnehmen. Aber wenn die beiden hier gefangen sind, dann hat er doch nie wieder Ruhe!
Nichts. War sie nicht da? Oder hörte sie nur nicht zu?
Wenn du uns nicht selbst herauslassen kannst, schlug Dýamirée bescheiden vor, kannst du nicht wenigstens einem von den anderen sagen, wo wir sind? Oder willst du uns etwa bei dir behalten?
– Und wenn dem so wäre?
Dýamirée zuckte zusammen. Die Stimme war nicht in ihren Gedanken gewesen, nicht auf die Weise, wie sie an diesem Ort den Vater oder den bösen Mann gehört hatte. Die Stimme war ganz tief in ihr selbst erklungen, irgendwo nahe dem Herzen, und schallte durch ihr Blut empor, erfasste den ganzen kindlichen Körper. Der Stab flackerte, ganz kurz und unbemerkt. Dann war es wieder still. War das etwa Noktáma gewesen? Dann musste Dýamirée etwas erwidern. Es gehörte sich nicht, auf Fragen zu schweigen.
Du kannst meinen Papa nicht haben. Meine Mama braucht ihn. Ich brauche ihn.
– Vielleicht brauche ich ihn viel mehr als ihr?
Wozu?
– Wenn dein Vater sich entscheiden müsste, fragte die klanglose Stimme in ihrem Blut, für wen würde er sich entscheiden? Würde er mich oder euch wählen?
Dýamirée überlegte ehrfürchtig. Noktáma sprach, sie sprach zu ihr, der kleinen, bis vorhin magielosen Dýamirée. Da musste man besonders artig sein. Und man durfte Noktáma auch ganz bestimmt nicht anlügen!
Uns, sagte sie daher ehrlich.
– Das, antwortete Noktáma streng, wäre sehr ungehorsam von ihm. Warum würde er dich und deine Mutter mir vorziehen?
Weil er uns lieb hat. Das ist viel wichtiger als gehorsam sein.
– Würde er dann wohl auch seine Magie abgeben, um bei euch zu sein?
Dýamirée zögerte. Das konnte sie nicht wissen, nur vermuten. Aber was, wenn Noktáma das für einen Handel nahm, ohne ihn selbst zu befragen?
Ich glaube schon, dachte sie kleinlaut. An manchen Tagen zaubert er gar nicht. Dann sind wir drei einfach nur zusammen, und alles ist schön! Sie zögerte und fügte sicherheitshalber hinzu: Aber du nimmst ihm seine maghiscal doch nicht einfach weg, oder?
– Wer wäre dann für mich da, Dýamirée Lagoscyre? Wer trägt für mich das Weltenspiel aus? Es darf nicht sein, dass mein mächtiger Diener einfach so das Spiel verlässt. Es ist alles gerade sehr … spannend.
Ich kann das machen, beeilte Dýamirée sich, ihr zu versichern. Sobald ich weiß, wie ich das mit diesem Stab und der Magie richtig mache. Papa und Mama bringen mir das bei. Aber nicht, solange wir hier gefangen sind. Das geht nämlich nicht, weil der böse Mann uns nicht in Ruhe lässt.
Nun veränderte sich die Stimme. Sie schien fast ein wenig belustigt.
– Für dich, Dýamirée Lagoscyre, habe ich etwas Besonderes vorgesehen in meinem Spiel. Sag, gefällt er dir, Pataghíus junger Krieger?
Welcher junge Krieger? Wovon redete sie? Es kam Dýamirée nicht sogleich in den Sinn, dass sie von Advon sprechen mochte. Dann aber nickte sie eifrig. Wir wollen zusammen das weite große Meer anschauen!, erzählte sie. Und ich muss ihm zeigen, wie ein richtiger Wald aussieht! Aber … dazu müssen wir zurück ins Weltenspiel. Kannst du uns das erlauben?
– Das liegt nicht an mir.
Dýamirée ließ enttäuscht den Stab sinken. Wie konnte es möglich sein, dass Noktáma nicht über ihre eigene Domäne bestimmen konnte?
Warum?, fragte sie so leise, dass der Gedanke fast zerfaserte.
– Ich bin nicht am Zug, kleines Mädchen. Aber ich kann dir etwas anderes geben.
Ein Geschenk?
– Eine Gabe. Was wünscht du dir, Dýamirée Lagoscyre?
Sie schaute auf den Stab in ihrer Hand, auf den unkontrolliert strahlenden, blendenden, nutzlosen Stab, auf das Licht, die Magie, die so sinnlos davon floss.
Kannst du machen, dass ich mit dem Licht etwas Schönes machen kann? Etwas, was dir gefällt und nicht gefährlich ist? Kann ich machen, dass der Stab aufhört, so stark zu leuchten, dass er alles kaputt macht? Vielleicht, dass Mama, Advon und Galéon uns hier finden, wenn sie dem Leuchten folgen?
– Geh spielen, Dýamirée. Geh zurück und spiele mit deinem Vater. Spielt zu meinem Ruhm und für meinen Glanz. Doch was den Verfluchten, den Unglücklichen betrifft … der ist nicht für mich.
Das Mädchen runzelte verständnislos die Stirn. Und im selben Moment erklang die Geige des Vaters und übertönte die Schattenstimme in ihrem Herzen mit ihrem warmen, mächtigen Klang.
***
Die Axt spaltete die Wirklichkeit im Chaos. Allein das war schon für einen menschlichen Verstand kaum zu begreifen, aber es kümmerte Galéon nicht. Er durfte nicht nachdenken. Auf gar keinen Fall. Wenn man anfing, über Magie, über die rätselhafte Magie zwischen Wirklichkeit und den Domänen nachzudenken, würde man unweigerlich wahnsinnig werden. Das Traumphantom hatte ihn davor gewarnt. Es hatte ihm geraten, sich alles, was er tat, so materiell und symbolisch vorzustellen, wie es nur ging.
Wie gut, dass báchorkoray es gewohnt waren, in Bildern und Gleichnissen zu denken. Das war es, wodurch Geschichten funktionierten!
Galéon griff in die Kerbe und zog, schob mit dem Axtblatt die Zwischenwelt beiseite und schlüpfte hindurch wie durch einen Vorhang, hinein in graues, abgestandenes Licht, dem Nebel im Chaos nicht unähnlich. Nur, dass sich dieser Zwischenraum anfühlte, als gebe es nichts darin, das für irgendjemanden von Interesse war. Aufgegeben. Verlassen. Vergessen.
Galéon kam nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, denn kaum war das von den Unkundigen bevölkerte Chaos hinter ihm verblasst, fühlte er sich wie aus seinem Körper herausgerissen. Ihm wurde so übel, dass er zu würgen begann, und so schwindelig, dass er meinte, sein Hirn sei plötzlich flüssig und schwappe in seinem Schädel umher.
Dafür ist keine Zeit, rügte das Traumphantom. Such nach ihnen!
„Ich kann nicht”, keuchte Galéon. „Mein Kopf … ich …” Er tat einen richtungslosen, taumelnden Schritt und es stieg bitter in seiner Kehle auf.
Such!, mahnte das Traumphantom. Der Schwarzmantel wird sich irgendwie bemerkbar machen! Du solltest ihn spüren.
„Wieso sollte ich …”
Weil Schwarzmäntel eine exquisite Beute waren und sind. Du solltest ihn wittern können wie ein Waldschwein einen köstlichen Unterpilz!
Der báchorkor hätte sich viel lieber übergeben, aber damit hätte er das Phantom nur verärgert. Er schleppte sich voran und hatte das Gefühl, dass ihm mit jedem Schritt Lebenskraft verloren ging.
„Das hier hast du geschaffen, als du noch im Weltenspiel warst?”
Ja. Ich brauchte es, um Schwarzmäntel zu jagen.
„Warum existiert es noch?”
Weil es nicht möglich ist, Nichts zu zerstören. Nun klang das Traumphantom amüsiert. Es lohnt die Mühe nicht. Such. Wenn der Junge nach dem Willen der Mächte den geheimen Duft des Mädchens wahrgenommen hat, dann ist der Schattensänger in der Nähe.
Galéon schloss die Augen. Das war besser, zumal es ohnehin egal war, wohin er seine Füße setzte. Oben, unten und jede Richtung war nur eine Illusion.
„Die kleine teirandanja“, setzte der junge Mann erneut an. „Wir müssen darüber reden, solange wir allein sind!”
Nicht jetzt.
„Nein, und später auch nicht! Ich will das nicht! Es kann nicht gut gehen!”
Ob du dich wehrst oder nicht, es ist unausweichlich. Du kannst dem Weltenspiel nicht entrinnen. Du hast dich selbst dafür entschieden, die Magie anzunehmen.
„Das war keine Entscheidung! Das war …”
Bestimmung. Du kannst dich nicht dagegen wehren.
Galéon schnaubte hilflos auf. „Wie soll das ausgehen? Und was soll es bezwecken?”
Das weiß ich nicht. Vielleicht wissen es nicht einmal die Mächte. Aber all das ist jetzt unwichtig! Da draußen laufen Chaosgeister im Weltenspiel herum, und im Chaos ist viel zu viel vom Weltenspiel eingefangen. Du bist hier, um das zu ordnen, in Licht und Leben.
„Aber …”
Du hast eingewilligt, mein Schüler zu werden. Ich war bislang weit über meine Natur geduldig mit dir. Reize es nicht aus.
Galéon seufzte hilflos. Von dem Traumphantom hatte er wohl nichts zu erwarten. Andererseits – vielleicht war es tatsächlich kindisch und vermessen, sich nun über Dinge zu beklagen, die gar nicht erst geschehen würden, sollte er nun sein Meisterstück verderben. Das Traumphantom hatte ganz recht, ihn zu tadeln. Aber er war so verwirrt und sein Kopf … er konnte geradezu fühlen, wie seine Gedanken so verwässert und fade wurden, dass er sie kaum noch bewusst zum Ende denken konnte. Mit jedem Schritt, den er sich vorstellte, fühlte er sich vager, unvollständiger. Er war noch lange nicht stark genug, um Magie zu wirken, wie das Traumphantom es getan hatte, als es noch ein lebendiger Magier gewesen war.
Ob der Schattensänger ihm helfen würde? Der báchorkor blieb stehen und stutzte. In der völlig lautlosen Umgebung erklang etwas, leise, wie ein weit entfernter Atem, und wurde immer lauter, so als kämpfe es sich durch Watte voran.
Hinterlasse einen Kommentar