Dýamirée rannte. Wie sie das fertig brachte, war ihr nicht klar, denn abgesehen von dem Oben und Unten, das sie selbst sich ausgesucht hatte, gab es immer noch nichts, das funktionierte wie ein Boden oder eine Straße. Aber das war nichts, um das sie sich nun Gedanken machen konnte. Die Musik hatte aufgehört, ganz urplötzlich und mitten im Ton. Aber die Stelle, an der die letzte Note in der Dunkelheit entstanden war, die konnte das Mädchen nahezu sehen. Nun, sehen war nicht ganz das richtige Wort. Sie hatte sich gewünscht, den Ursprung der Melodie zu finden, einen Punkt, an dem sie sich in diesem endlosen Etwas orientieren konnte. Nun war da ein magisches Glimmen im Finstern, gar nicht weit entfernt, aber auch Entfernung war nichts, was hier in der Schwärze Bedeutung zu haben schien. Da war nicht eine Strecke von einem Punkt zum nächsten, so als ob sie um den See herum oder von einem Baum zum anderen lief, im See tauchte oder auf dem Einhorn durch die Luft ritt. Vielleicht war es Zeit, die sie von ihrem Vater trennte. Aber hatte der ihr nicht erzählt, dass Zeit in den Schatten wenig Bedeutung hatte?

Dýamirée dachte sich all das in den schlichten Begriffen und Assoziationen ihres kindlichen Verstandes und kam nur zu einem brauchbaren Schluss: Nie hatte der Vater sein Spiel mitten in der Melodie unterbrochen. Etwas musste dafür gesorgt haben, dass er nicht weiterspielen konnte. Und das durfte nicht sein. Niemand hatte das Recht, den Vater zu unterbrechen, wenn der seine magische Musik spielte.

Vielleicht war es der böse alte Mann. Vielleicht gefiel dem das schöne silberne Lied nicht, das sie durch die Schatten führen wollte.

Dýamirée spürte den letzten Ton und stürzte darauf zu, so wie sie damals vom Baum gefallen war. Das war so plötzlich und schnell gegangen und hatte so weh getan. Die Mutter hatte die Schmerzen schnell weggeheilt, Schmerzen waren gar nicht so schlimm. Schlimmer war die Enttäuschung gewesen.

„Der Baum hat mich heruntergeworfen”, hatte sie sich beim Vater beklagt.

„Das glaube ich nicht”, hatte der geantwortet. „Und wenn, dann nicht absichtlich.”

„Meinst du?”

„Bäume, kleiner Stern, haben im Allgemeinen keine schlimmen Absichten. Darüber sind sie erhaben. Du musst einfach mehr üben, dann geht es bald besser.”

„Das kommt gar nicht in Frage!”, hatte die Mutter empört aufbegehrt. „Das nächste Mal fällt sie vielleicht nicht so weich! Diese Kletterei ist viel zu gefährlich!”

Daraufhin hatten die beiden eine ganze Weile kein Wort mehr miteinander gewechselt. Das machten sie oft, wenn es Dinge gab, für die sie Dýamirées Verstand noch zu klein hielten und sich einbildeten, sie wisse nicht ganz genau, was die beiden in Wahrheit taten. Das Mädchen erinnerte sich daran, wie lebhaft ihre Mienen, ihre Augen miteinander diskutierten. Am Ende hatte die Mutter sich seufzend an sie gewandt und besorgt gemahnt: „Nimm nur Bäume mit starkem Buschwerk darunter. Versprichst du mir das?”

Vielleicht war ihr gerade etwas ganz ähnliches geschehen. Vielleicht war sie zu unachtsam gewesen. Vielleicht musste sie mehr üben. Dýamirée stürzte und hoffte inständig, dass am Ende des Liedes etwas war, das sie auffing, so wie die Büsche nahe der Baumstämme. Den Stab hatte sie nach wie vor in der Hand. Sie wunderte sich darüber, wie leicht und griffig er geworden war, seit sie dieses unsichtbare Pulsieren um sich herum spürte.

Und dann war sie genau dort, wohin das Lied sie geführt hatte, und was sie sah, machte ihr Angst. Angst war schlimmer als der Schmerz. Aber vielleicht hätte sie auch Angst vor den Bäumen bekommen, wenn sie das Klettern nicht geübt hätte, brav am Boden geblieben wäre. So wie die Mutter es sich wünschte, damit ihr kein Leid geschah.

Was für seltsame Gedanken angesichts des grässlichen Wesens, das da über ihrem Vater kniete und mit ihm rang. Viel zu erkennen war davon nicht, denn als Licht, als sichtbares Licht gab es nur das magische Silberleuchten der Geige, so schön und rein und in Noktámas Finsternis weniger hell als ein kleines Talglicht, das schnell flackerte. Vielleicht, weil das Herz ihres Vaters so schnell pochte? Bestimmt fürchtete er sich vor dem Wesen, da so etwas Ähnliches zu sein schien wie ein Mensch, ein Mensch mit etwas zu langen Armen und Fingern, die die Arme des Vaters umklammerten. Aber das war nicht alles. Die Kreatur war auf eine sonderbare Weise unvollständig. Nicht so, als habe ihr jemand Gliedmaßen abgeschnitten und sie verstümmelt. Es war weitaus seltsamer, denn es schien, als wären Fetzen ihres Körpers einfach nicht vorhanden. Alles hing irgendwie aneinander, aber dazwischen klafften Lücken, und das, was da war, bewegte sich, als ob das gar keine Schwierigkeiten machte. Wie konnte es sein, dass das Wesen in Stücke gegangen war? Und wo war sein Rest?

Geige und Bogen hielt der Vater fest in seinen beiden Händen, und genau das schien gerade das Problem des silberäugigen Wesens zu sein. Es hinderte den Vater daran, zu spielen, konnte ihm die Geige aber auch nicht entwinden, denn dazu hätte es zumindest einen seiner Arme loslassen müssen. Dýamirée runzelte die Stirn. Das Wesen schien nackig zu sein, und das gehörte sich doch wohl nicht! Es hatte nicht einmal mehr die vornehmen Gewänder an, die der böse alte Mann getragen hatte.

Der Blick des Vaters zuckte zu ihr hinüber, glomm auf und war voller Entsetzen. Er sah den Stab in ihrer Hand.

Wer bist du?, fragte Dýamirée das Stückwesen, getrieben von einer tapfer-furchtsamen Neugierde. Was machst du mit meinem Papa?

Der gehört jetzt mir, widerliches Gör, antwortete die Stimme, in ihrem Kopf konnte sie sie ganz deutlich hören. Ich will ihn haben!

Hast du keinen eigenen Papa?, fragte Dýamirée mitfühlend. Das tut mir leid. Aber du kannst meinen nicht haben. Meine Mama braucht ihn, und ich auch.

Ich brauche ihn dringender als ihr! Ich brauche ihn jetzt!

Wozu?, fragte Dýamirée. Sie hockte sich nieder, versuchte, dem Wesen in die Augen zu schauen. Sehr viel war von seinem Gesicht im Glimmen der Geige nicht zu erkennen, nur seine Zähne, wenn es stumm die Lippen bewegte. Zumindest Zähne und Lippen, die nicht abwesend waren.

Ich will ihn mir anlegen, verdammtes Gör! Anziehen will ich ihn mir, und dann beenden, was zu beenden ist.

Du kannst meinen Vater nicht anziehen. Mein Vater ist doch kein Hemd!

Ovidáol, hörte sie nun auch den Vater, eindringlich, unwillig, nicht einmal du bist dazu in der Lage, Besitz von Menschen zu ergreifen! Kein Magier kann das! Es ist kein Platz für zwei lebendige menschliche Seelen in einem Leib!

Dein Geist, Yalomiro Lagoscyre, der mag sich hinter die Träume packen, oder wohin es ihn verschlagen mag. Ich brauche dein frisches Fleisch und deine Knochen und deine Kraft! Mit dem, was von mir geblieben ist, kann ich im Weltenspiel nicht existieren! Das hast du doch genau so geplant, oder etwa nicht? Du hast gewusst, dass meine Körper sich im Schatten auflösen!

Der Vater regte sich unter den Händen des Wesens, aber es gelang ihm nicht, sich davon zu befreien. Es griff nur noch fester zu.

Vielleicht hättest du mich wirklich einfach allein lassen sollen. Dein Plan wäre wohl aufgegangen, wenn dir nicht dein ungeratenes Balg da in den Weg gestolpert wäre. Tut sie das öfter? Hindert sie dich auch beständig, während du im Etaímalon Noktáma zu amüsieren versuchst, mit dem, was Askýn dich gelehrt hat?

Die Kreatur lachte hässlich, das machte Kopfschmerzen. Dýamirée schüttelte sich. Aber – war das wahr? War sie daran schuld, dass das Ding den Vater hatte überwältigen können? Das Wesen musste also der gemeine alte Mann sein, der Galéon den Monstern vorgeworfen hatte. Warum er jetzt kein Greis mehr war, sondern ein Scherbenkörper, das konnte sie sich nicht erklären.

Du willst unbedingt den Stab haben, nicht wahr?, fragte Dýamirée. Du hast Advons Vater dazu gebracht, ihn stehlen zu wollen!

Der Stab ist mein Werkzeug! Ihr habt ihn mir gestohlen!

Und wenn ich dir den Stab zurückgebe?, fragte sie. Wenn du dafür meinen Papa freilässt?

Das würdest du tun?

Nur, wenn du ihn loslässt.

Der Vater schloss mit einem schweren Seufzer seine Augen. Kleiner Stern, wisperte er, lass dich nicht auf so etwas ein.

Das nackte Wesen im Finsteren zögerte. Es war überrascht. Dann lächelte es unheilvoll mit seinem halben Mund.

Das ist eine ausgezeichnete Idee, kleines Mädchen, sagte es, nun mit einer seltsamen Freundlichkeit in der Stimme. Ja. Ja, so werden wir es machen. Du hast deinen Vater sehr lieb, nicht wahr? Es gefällt dir gar nicht, dass ich ihn gefangen habe, nicht wahr?

Du bist böse, sagte Dýamirée. Du tust Leuten weh. Das ist gemein!

Nun, kleines Mädchen, wenn es nur das ist … wenn du brav bist und tust, was ich dir sage, vielleicht lasse ich mit mir handeln. Wir sitzen schließlich alle hier in Noktámas Domäne fest, und die große Herrin selbst scheint abwesend zu sein, wie ich es fast vermutet habe. Nun, ich schätze, sie hat es aufgegeben, sich um jede Albernheit zu kümmern, zu der Magier sich hinreißen lassen. Also? Kommen wir in Geschäft?

Dýamirée, warnte der Vater. Sei vorsichtig!

Ich hab dich lieb, Papa, antwortete sie. Du hättest ihm den Stab doch auch gegeben, wenn er mir wehgetan hätte, oder?

Sie fühlte seinen vertrauten, mit Silber durchsprenkelten dunklen Blick einen Augenblick auf sich ruhen. Und dann spürte sie sein Lächeln, ganz flüchtig, heimlich und an der Aufmerksamkeit der bösen Kreatur vorbei.

Gut, sagte das seltsame, unvollständige Ding im Schatten. Dann nimm ihm die verfluchte Geige aus den Händen! Wer weiß, was er damit alles anstellen kann!

Soll ich das machen, Papa?

Ja. Nimm sie, kleiner Stern. Ich weiß sie lieber in deinen Händen als in seinen.

Dýamirée griff nach dem Instrument. Es fühlte sich warm und lebendig an, aber in dem Moment, als sie es selbst berührt hatte, verlosch der Silberschimmer auf dem Holz.

Und nun gib mir den Stab heraus.

Wenn du ihn zuerst freigibst!

Oh nein! Wo kämen wir denn hin, wenn unverschämte kleine Drecksblagen den Erwachsenen Vorschriften machten! Erst den Stab!

Siehst du? Er will dich betrügen, kleiner Stern, warnte der Vater.

Aber er hat es mir versprochen!

Den Stab, erinnerte Ovidáol mit harter Stimme. Sonst gibt es hier gar nichts! Er ließ den Arm des Vaters mit der nun leeren Hand los und streckte seine überlangen Finger aus. Das Mädchen neigte den Stab in seine Richtung, und er fasste ihn an. Kaum hatte er das Holz berührt, begann der zerbrochene Kristall, müde zu flackern.

Und bevor der Vater sich bewegen konnte, hatte Ovidáol ihm den Zauberstab quer über den Hals gelegt. Der Vater packte zu und versuchte, die Stange fortzudrücken, aber es gelang ihm nicht.

He!, rief Dýamirée empört aus. Du wolltest ihn loslassen!

Ich habe es mir anders überlegt. Ich hab dich reingelegt, dummes Gör!

Das ist gemein!

Das Wesen lachte. Der Vater wehrte sich, ohne großen Erfolg. Ist das dein Niveau, Ovidáol? Ist es eines großen Magiers würdig, Kinder zu betrügen?

Es ist geglückt, oder etwa nicht?

Der Vater gab seine Anstrengung auf. Ovidáol, fragte er matt, bei den Mächten, wer hat dich einst das Lügen gelehrt? Deine Meisterin war es damals sicherlich nicht.

Es ist eine einfache Einsicht, gab das Wesen lächelnd zurück. Man kommt damit weiter. Bei Unkundigen, und bei kleinen dummen Kindern sowieso.

Ich will meinen Vater!, rief Dýamirée, gerade, dass sie nicht wütend aufstampfte wie ein bockiges Kindlein. Lass ihn aufstehen! Lass ihn los!

Für wie dumm hältst du mich, kleiner Stern?, äffte das Wesen den Schattensänger im verbleibenden Widerschein des kränklich schimmernden Lichtes nach. Schau, wie ich deinem anmaßenden Vater die Kehle zudrücke. Wie ich in seinen entseelten Leib schlüpfe, wie ich es einst bei den lächerlichen alten Leuten getan habe! Du sollst dabei sein, wenn Ovidáol Etaímalar sich in neuem Glanz und Macht erhebt!

Dýamirée stand starr vor Grausen. Wie war es möglich, dass Noktáma das alles in ihrer Domäne zuließ? Wenn das hier die Schatten waren, wo war dann Noktáma selbst, um über die ihren zu wachen wie eine weise und gütige Mutter? War Noktáma wirklich nicht da? Wer hatte ihr denn sonst die schöne warme Kraft gegeben?

Nicht!, rief sie aus. Lass meinen Papa in Frieden! Was kann ich dir denn noch geben? Er muss doch zu meiner Mama zurück!

Und du, kleines dummes Gör? Willst du etwa nicht zu deiner Mama zurück? Oder zu dem unnützen Bengel aus dem Cielástel, dem du schöne Augen gemacht hast, so jung du bist und unschuldig du tust?

Dýamirée runzelte zornig die Stirn. Was musste dieses Wesen jetzt auch noch die Mutter und Advon ins Spiel bringen? Advon … wenn doch nur Advon hier wäre und ihnen beistehen könnte! Advon kannte die alte Frau und den alten Mann, die das Wesen bis vor kurzem noch gewesen war. Vielleicht hätte er eine gute Idee, um sie alle zu befreien, damit sie weglaufen konnten, mit oder ohne den dummen Stab!

Ich hab keine Angst vor dir. Was willst du, das ich dir geben kann?

Das bruchstückhafte Wesen überlegte.

Dich, sagte es dann. Dich will ich haben. Ja, ich glaube, das würde mir gefallen. Dich könnte ich brauchen.

***

Dýamirée drückte die Geige an sich wie ihr Kuscheltier, das derzeit irgendwo im Cielástel herumliegen mochte. Armer kleiner Stern!, dachte Yalomiro. Ob sie ahnte, wie hübsch ihr das glimmende Silber in den grünen Augen stand, wie Vollmondglanz in Baumkronen? Wie magisch und stark sie geworden war, wie eine Blütenknopse zwischen zartem Frühlingsgrün? War das etwa das ganze Geheimnis gewesen? Hätte er sie all die vergangenen Winter nur ein einziges Mal mit sich in Noktámas Domäne führen müssen?

Nein, dachte der Schattensänger, während der harte, starre Stab über seinem Hals ihm den Atem abpresste, während das fragmentierte Etwas, die Essenz, die letzten Reste des Verfluchten ihn hielten und sich so nahe am Ziel wähnten. Das war es nicht. Die Dinge mussten zu ihrer Zeit geschehen. Nichts geschah einfach so. Noktáma hatte geduldig gewartet. Nun musste es sich auszahlen, Zug um Zug.

Das bedeutete aber mitnichten, dass Ovidáol sich alles erlauben konnte!

Was maßt du dir an!, stieß Yalomiro hervor, soweit der Zauberstab auf seinem Hals es zuließ.

Ovidáol verminderte den Druck, aber nur ein Stückchen.

In deiner Tochter ist Magie erwacht. Eine Gunst, die ihr wohl nur hier, in Noktámas Domäne zuteilwerden konnte. So viel frische, unverbrauchte Magie, so eine unbefleckte, saubere maghiscal. Noch ganz weich und formbar. So wenig Widerstand. So viele Möglichkeiten!

Ja, und?, brauste Yalomiro auf. Sie ist keine neun Sommer alt! Wie lange hat deine Meisterin dich angeleitet, bis du damals deine Magie kontrollieren konntest? Du weißt, dass es reifen muss!

Reifen? Was ist Zeit? Was ist hier die Zeit? Ich mache sie zu meiner Schülerin. Ich habe das Wissen, sie hat die Magie. Sie wird mir vielleicht bessere Dienste leisten als jeder Chaosgeist. Ovidáols übriggebliebener Mund grinste anzüglich. Wie lange hat das Weltenspiel nicht mehr von einer Magierin gehört, deren Macht und Liebreiz die mächtigsten Herren um den Verstand brachte? Ich habe lange genug gelebt, Yalomiro Lagoscyre, um zu sehen, wie Lust und Verlangen Menschen, mächtige Menschen zu willfährigen Trotteln degradierte. Eine schöne camat’ayra, die nach meinen Plänen wirkt und handelt, mächtiger als die Rote Dame es dereinst war, wird mir dienen!

Ich will dir nicht dienen!, protestierte Dýamirée verstört. Wie sollte sie auch verstehen, wovon der zerfallende Magier hier redete? Sie spielte mit Holzbötchen am See und versuchte beharrlich, Windninchen in Gespräche zu verwickeln. Sie hatte keine Vorstellung von dem, was Ovidáol sich da ausgedacht hatte. Yalomiro wollte gar nicht darüber nachdenken, so sehr stieß ihn der Gedanke ab. Hatte das Leben in Aurópéa den Verfluchten so sehr verdorben? Oder war Ovidáol schon vorher mit den Abgründen unkundigen Lasters vertraut gewesen?

Hast du nicht immer davon geträumt, eine mächtige Magierin zu werden?, lockte Ovidáol.

Nein!

Soll man lügen, Mädchen? Camat’ayraé hätten zu meiner Zeit alles dafür gegeben, meine Schülerinnen zu werden.

Ich will nicht von dir lernen, wie man zaubert.

Es wird dir ganz leicht fallen, du freches Gör! Ich werde mit der Stimme deines Vaters sprechen und aussehen wie er! Du wirst gar keinen Unterschied bemerken zwischen ihm und mir! Und weißt du, was wir beide als allererstes tun?

Dýamirée schwieg finster.

Wir gehen zurück ins Weltenspiel und verhindern, dass die Chaosgeister all die unschuldigen Unkundigen und die niedlichen Tierchen fressen und die schönen Gärten und Felder verwüsten. Das willst du doch, kleiner Stern, nicht wahr? Dir gefällt es doch gar nicht, wenn Dinge kaputt gehen?

Yalomiro seufzte. Nun war es also Zeit für schmutzige Tricks und faule Versprechen.

Je schneller wir sind, fuhr Ovidáol fort, desto eher können wir vielleicht noch verhindern, dass die Chaosgeister die schöne bunte Glasburg zerschlagen. Denk doch nur … wenn wir zu spät sind, dann kommen sie vielleicht sogar in den schönen grünen Wald und werfen die Bäume um und vergiften den See. Du magst ihn doch, den dunklen großen See? Und dann …

Nein! Nein, ich will das nicht!

Wir können es zusammen verhindern. Dazu brauche ich den Stab! Mit der Magie deines Vaters kann ich sie kontrollieren. Doch du allein kannst keinen Chaosgeist besiegen.

Ich hab einen Chaosgeist mit einem Messer gestochen, erzählte Dýamirée verwirrt. Aber das darf Mama nicht erfahren. Weil ich doch keine scharfen Dinge anfassen darf!

Vielleicht lasse ich dir sogar den verfluchten Bengel, wenn du nicht dauernd Widerworte gibst!, lockte Ovidáol listig.

Yalomiro wand sich unter dem Stab. Wenn der Verfluchte nun noch versuchte, Dýamirée mit dem Leben des anderen Kindes zu bestechen, dann gingen ihm offenbar langsam die Einfälle aus. Bevor es auch mit seiner Geduld am Ende war, musste etwas geschehen.

Ich will, dass du meinen Vater in Frieden lässt!, beharrte Dýamirée stur.

Ich will? Ich willichwillichwill?, spottete Ovidáol und drohte ihr mit einem zu langen Finger, dem das Mittelglied fehlte. Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, dass es mit Kindern, die zu viel wollen, schlimm ausgeht?

Dýamirée runzelte böse die Stirn. Weißt du, was meine Mama immer sagt?

Nein. Was denn?

Wenn man absichtlich Schlechtes tut, dann passieren einem auch schlimme Dinge. Irgendwann wird jemand kommen, der ganz furchtbar wütend auf dich ist, weil du so viele gemeine Sachen gemacht hast! Und … und der bestraft dich dann! Wie in den Märchen!

Märchen?

In Salghiáras Märchen, sagte Yalomiro belustigt, kommen die Schurken niemals mit Schandtaten davon. Amüsant, Ovidáol, findest du nicht auch?

Schluss jetzt! Ovidáol verlor die Geduld. Mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung erhob sich der fragmentarische Körper, und bevor Yalomiro es verhindern konnte, spürte er den Eiskristall kalt und hart auf seiner Stirn.

Eines nach dem anderen. Zunächst du, Yalomiro Lagoscyre.

Du kannst mich nicht töten, sagte Yalomiro ruhig. Abgesehen davon ist dein Stab immer noch kaputt und dies hier ein Ort, an dem Magie nicht funktioniert, falls du es auf diese Weise versuchen willst.

Ich weiß, wie ich ihn herrichten kann. Aber bis dahin ist Präzision gar nicht so wichtig. Ich muss nicht zaubern. Er hob den Stab an und holte weit aus.

Das, merkte Yalomiro gelassen an, ist brutal, barbarisch und ohne jeden Stil.

Nichtsdestoweniger tödlich!

Meister Askýn wäre enttäuscht von dir. Und deine Meisterin hätte sicher eine passende Strafe für dich ersonnen.

Halt endlich den Mund!

Yalomiro richtete sich ein Stück weit auf. Womit haben sie dich damals diszipliniert, Ovidáol Etaímalar? Wie hat deine Meisterin Ungehorsam geahndet? Wenn ich es als Knabe zu weit getrieben habe, hat Meister Askýn mir einige Tage die Stimme versiegelt.

Gut! Dann werde ich in seinem Sinne handeln und dich endgültig zum Schweigen bringen!

Wie haben sie dich bestraft, Ovidáol? Womit wurdest du verflucht?

Das Wesen brüllte zornig auf und schwang den Stab mit dem Kristall daran wie einen Streithammer, mit einer Kraft, der Yalomiros Stirn nichts entgegenzusetzen gehabt hätte. Das funzelnde, kümmerliche Restchen Magie in dem Kristall war daran, zu erlöschen.

Nein!

Dýamirées Fingerspitzen streiften das Holz, als sie sich voller Wut in die Bahn des tödlichen Hiebes warf. Ihre frische, ungebändigte maghiscal sprang auf den Zauberstab über wie ein Funke, und dann wurde es in Noktámas Domäne blendend hell.