Die Burg war geräumt. Moréaval hatte von den Mauern aus beobachtet, wie Hofbedienstete und Gesinde, vom Wiegenkind bis zu Greis, jeder mit dem Nötigsten bepackt, in einer langen Prozession die Burg verlassen und auf der bergan führenden Straße fortgezogen waren. Danach war er selber noch einmal durch all die Gebäude gelaufen und hatte sich davon überzeugt, dass niemand aus Ungehorsam oder Bequemlichkeit seinen Befehl missachtet hatte. Die beiden Spitzbuben, die er bei dieser Gelegenheit dabei ertappt hatte, wie sie sich in den Gemächern der teiranday und im Audienzzimmer nach Wertsachen umschauten, waren ihm entwischt, hatten aber wohl kaum Beute gemacht. Moréaval rief ihnen Verwünschungen nach, bis auch sie außer Hörweite waren. Sie zu verfolgen lohnte sich nicht. Er hatte sie erkannt und würde nach ihnen suchen lassen, sobald er wieder Zeit für solche banalen Untaten hatte. Weit kommen würden sie nicht.

Der Ritter leuchtete mit seiner Lampe den verlassenen Raum aus, um sich zu vergewissern, dass er leer war. Die Puppenburg im Vorzimmer, mit der Tíjnje so gern spielte, stand da, als warte sie nur auf die Rückkehr der beiden Mädchen, die der Turm verschlungen hatte.

Moréaval schritt mit schweren Gedanken durch die Halle, in der gerade noch so viel Betriebsamkeit geherrscht hatte. An einem Fenstertisch war eine halb gespielte Steinespielpartie aufgebaut. Ein grobes Bilderbuch lag daneben und wirkte fehl am Platz. Er nahm es zur Hand und fragte sich, wer darin gelesen haben mochte. Vielleicht seine kleine Tíjnje?

Was mochte sich hier zugetragen haben, bevor er die Burg erreicht hatte?

Als er zu seiner hýardora zurückkehrte, die immer noch im zwischenzeitlich nur noch feinen, aber nadelspitzen Hagel stand, lag die Burg von Wijdlant still und verlassen im Finsteren, abgesehen von ein paar Laternen, die der Wind noch nicht gelöscht hatte.

Sie betrachtete geistesabwesend den kostbaren Edelstein, der da im Mauerloch lag.

„Zu welcher Macht müssen wir flehen?”, fragte sie, als er hinzukam. „Wer wird meinen Wunsch anhören?”

„Ich denke, zu Noktáma”, sagte er und legte seine Arme um sie. „Es kommt von den Schattensängern.”

„Dann ist die Tür durch Noktámas Macht versiegelt.”

„Sie wird sie für uns öffnen.”

„Warum hat er dir einen so vielfarbigen Stein gegeben?”, wollte sie wissen.

„Den hat seine hýardora ausgesucht. Sie meinte wohl, er würde deinen Geschmack treffen.”

„Diese Steine”, sagte sie leise, „sind Pataghíus Geschenk. Alle farbigen Steine sind das. Hast du das nicht gewusst?”

„Nein. Wer sagt das?”

„Alles Bunte gehört dem hellen Tag. Das hat meine Großmutter erzählt.”

„Vielleicht kann auch Pataghíu die Tür öffnen.”

„Und wenn beide uns nicht anhören?”

Moréaval seufzte. Warum mussten Frauen immer nur alles so kompliziert machen?

„Ich werde das Licht bitten”, sagte sie leise, und Moréaval überlief es kalt.

„Das Licht? Warum, das Licht, Geliebte?”

„Weil das Licht stärker ist als Pataghíu und Noktáma zusammen. Hast du es nicht auch so gelernt? Das Licht überwindet beide.”

„Geliebte, das ist …” Er unterbrach sich.

„Wenn es noch nicht zu spät ist”, sagte sie leise, „mag ich das Licht demütig bitten, Tíjnje nicht zu nehmen, und sie zu uns zurückzubringen.”

„Mit dem Licht soll man nicht handeln”, mahnte Moréaval. „Das hat mein Vater immer gesagt, bevor …” Er unterbrach sich und verbat sich das Entsetzen, das er empfunden hatte, als man den Leichnam seines guten Vaters nach tagelanger Suche entdeckt und geborgen hatte. Die Mutter hatte nicht gewollt, dass er, der Sohn, ihn so sehen sollte, wie man ihn vorgefunden hatte. Damals hatte Jóndere Moréaval lange gebraucht, um seinen Frieden mit dem unbestechlichen und unbefangenen Licht zu finden.

„Ich handele nicht. Ich habe einen Wunsch zu tun, für andere. Und ich wünsche”, sagte sie demütig, „dass das Licht entscheiden möge, diese Tür aufzustoßen und alle zu retten, die dahinter gefangen sind, nach Pataghíus und Noktámas Gnade. Mögen die Mächte freigeben, was in Not ist.”

Sie knieten beide still und flehend vor dem Stein und warteten. Aber nichts geschah. Moréaval hatte erwartet, dass der Stein in irgendeiner Weise auf den Wunsch reagieren würde, aber es geschah nichts. Absolut nichts.

„Sicherlich”, sagte die yarlara schließlich bitter, „hat der Schwarzmantel dich verspottet. Verflucht möge er sein.”

„Geliebte!”

„All dieses Getue und der Aufwand, den wir betrieben haben! Und bringt es uns unsere Tochter, meinen Vater zurück?”

„Sicherlich machen wir irgendetwas falsch.”

„Hat er dir eine Anleitung gegeben?”, fuhr sie ihn zornig an.

„Nein, aber …”

„Unser Kind, mein Vater, deine Freunde und ihre Söhne sind da drin, eingesperrt und in Not, und nicht einmal Magie kann sie befreien? Nicht einmal ein Mittel, das die Mächte in die Hände der Magier gelegt haben, um so etwas zu verhindern?”

„Geliebte, ruhig! Du sprichst im Groll! Lass uns …”

„Ich wünschte”, rief sie in gequältem Zorn aus, „dass das Widerwesen selbst sich seine verdiente Beute holt!”

***

Ob er zu spät kam? Oder wäre noch genug Zeit, um zu den anderen zu stoßen und die Kreaturen zurück in die Wüste zu scheuchen, hinein in das Feuer und darüber hinaus, ins Chaos zurück, von wo aus sie sich befreit hatten?

Und was dann? Was danach? Wie war es nur möglich gewesen, dass die Wesen sich den Weg freibrachen und in das Weltenspiel eindrangen? Wieso hatte niemand von ihnen es gemerkt?

Und war es nur hier so gewesen? Oder war genau jetzt, gerade zur gleichen Zeit, auch im Norden, am Meer, oder im Eis dasselbe geschehen, und sie kamen von allen Seiten zugleich, um die Unkundigen zu umzingeln und das Weltenspiel zu verheeren?

Nein. Unwahrscheinlich. Wenn Ovidáol nur die beiden greisen Körper zur Verfügung gehabt hatte, dann war die Senke in der Wüste der Tunnel unter der magischen Grenze hindurch. Dort, wo er seine Menschenköder für die Kreaturen des Widerwesens ausgelegt hatte, war der einzige Ort, durch den sie hatten entwischen können. Nicht einmal der mächtige Ovidáol, der verfluchte Schwarzmantel, konnte an mehreren Orten zugleich sein.

Cýelú Irísolor rief sich selbst zur Ordnung, während Perlenglanz auf das gespenstisch bunte, schillernde Lichtspiel zujagte, das sich viel zu nahe bei den Hügeln über die Wüste gesenkt hatte. Der Hengst war aufgeregt, witterte wohl sowohl die Ausdünstungen der Monster als auch die Erinnerung an jenen anderen Kampf, damals, so lange her, so weit zurück, und mochte sich wundern. Er war weder voll gesattelt, noch trug sein Herr das Rüstzeug und die Waffen, die er nun benötigt hätte. Halb ausgestattet und in Eile, so wie ein Kind, das zu spät zur Schule kommt, und in der Hast die Hälfte seiner Bücher und das Pausenbrot vergaß, so kam Cýelú sich vor.

Ob Elosál, seine Geliebte, seine Einzige, dem Wahnsinn lange genug etwas entgegenhalten konnte? Ob dieser merkwürdige báchorkor, der sicherlich nicht zufällig in Aurópéa aufgetaucht war, auf Advon achtgab? Wer zum Geier war der Kerl, der so einfach in diesen Kampf hineingeschneit war und Dinge wusste und beherrschte, die einem Unkundigen nicht zustanden?

In wessen Namen und Interesse war er unterwegs?

Advon, der Junge, sein Sohn, der ebenso wehrlos war wie jedes einzelne andere Menschenwesen, das den Chaosgeistern zum Opfer fallen würde, wenn die arcaval’ay nicht siegreich waren! Was war das gewesen, was er gespürt hatte, als er den Jungen in den Armen hielt? Etwas war mit Advon geschehen, hatte in ihm Kräfte angestoßen, die zuvor definitiv nicht da gewesen waren. Cýelú hoffte flüchtig, dass es das war, für das er es hielt, und war sich zugleich bewusst, dass es Advon auf gar keinen Fall nützlich sein würde, nicht jetzt. Nicht, wenn niemand da war, der ihn lehrte, es zu tragen.

Mochten die Mächte geben, dass er sich nicht getäuscht hatte. Mochten die Mächte es Elosál gestatten, den Jungen darin zu unterweisen, wie er das zügeln und kanalisieren konnte, was ihm zur Unzeit offenbar wurde.

Und mochten die Mächte den anmaßenden Schattensänger beschützen, der derweil den Verfluchten daran hindern würde, noch mehr Unruhe zu stiften. Der Plan des Schwarzgewandeten war ebenso tollkühn wie pragmatisch. Wenn es ihm gelang, den Verfluchten jenseits des Weltenspiels in Noktámas Reich festzuhalten, als habe er ihn kurzerhand in einen Schrank gesperrt, dann war ihnen hier, den Kämpfern in der Chaosgeisterschlacht, ein unberechenbares Ärgernis genommen. Mochten die Schwarzmäntel sich um ihren eigenen Kram kümmern. Hier galt es, das Weltenspiel zu bewahren!

Wenn nur dem kleinen Mädchen nichts geschah, das in all der Verwirrung gleich mit in die Falle ihres Vaters gegangen war.

Cýelú Irísolor konnte sich unter den Schatten nichts vorstellen, denn nie zuvor hatte eine fajía oder ein Regenbogenritter Noktámas Domäne betreten, so wie niemals ein Schattensänger oder gar ein unkundiger Mensch die flammenden Farben des Hellen Tages anschauen konnte. Aber wenn er davon ausging, dass es sich mit der Dunkelheit ähnlich verhielt, dann wäre das Mädchen darin wohl in Sicherheit, so wie die arcaval’ay unversehrt durch jedes Feuer gehen konnten.

Zumindest hoffte er das von Herzen. Er hatte das Schattensängermädchen lieb gewonnen. Bei Advon durfte es wohl noch etwas anderes sein, das ihn mit dem anderen Kind binnen so kurzer Frist verknüpft hatte.

Für Elosál, dachte der Goldene. Für Advon. Für diese Welt, die mich gerettet hat!

Perlenglanz preschte energisch voran. Sie überflogen eine Schneise der Verwüstung, die die Chaosgeister hinterlassen hatten, gesprenkelt von Blut und dem, was von jenen geblieben war, die ihnen nicht standgehalten hatten. Cýelú Irísolor zwang sich, nicht hinab zu schauen, wo ihre Überreste versprengt waren. Hier eine zerdrückte Goldrüstung, dort ein Helm, durch dessen Visier entfärbte Augen gen Himmel starrten und Splitter von Lanzen, und Federn, so viele Federn, sogar einen ganzen Flügel, schon halb bedeckt vom fallenden Sand und Eis bemerkte der Goldene aus den Augenwinkeln. Hier und da lagen Überreste von Chaosgeistern herum, aber kein einziger, den das am Vorankommen gehindert hätte.

Jeder in diesem Kampf gefallene Ritter war ein Teil von Elosáls Lebenskraft und magischer Energie, untrennbar miteinander verwoben. Und doch, noch schien ihre Stärke auszureichen, denn das bunte Glühen über der Wüste war hell und wunderbar, ein nächtlicher, kuppelförmiger Regenbogen, mit dem sie die Kreaturen in Schach hielt.

Blanke Wut verdrängte seinen Ekel und Zorn. Der Sand würde alles bedecken und wenn sie siegten, dann würden die Leiber derer, die Chaosgeister zermalmt hatten, verschwinden.

Wenn nur die Sieben bestanden …

Beim letzten Mal waren es Dutzende von Schattensängern gewesen, die vor Ort, am Rande der Schlacht, ihren Abtrünnigen gehetzt und von seinen Kreaturen und Gefolge getrennt hatten. Es waren auf beiden Seiten unkundige Ritter aus allen Winkeln des Weltenspiels dabei gewesen, mitten bei den arcaval’ay. Die, die es nicht überlebt hatten, die waren hinter die Träume gegangen, nicht in Pataghíus Domäne, wo sie auf ein neues Erwachen warteten.

Es waren fünf fajíaé gewesen. Elosáls Schwestern, die weise und gütige Teneástre, die sich vor ihn gestellt und als erste gefallen war …

All das war diesmal nicht da, denn niemand hatte es kommen sehen. Diesmal waren sie auf sich gestellt, die arcaval’ay, die letzte fajía, eine merkwürdige Frau, die Hagel machen konnte, ein mysteriöser báchorkor, dessen Motive niemand kannte und ein einzelner überheblicher Schattensänger. Mitten darin die Kinder. Was dachten sich die Mächte dabei? Und was tat das Widerwesen damit?

Und er, er erlebte all das Grauen nun erneut. Er, der damals unversehens buchstäblich mitten in die Schlacht hineingestürzt war. Vielleicht war es diese kleine Verwirrung, dieser verblüffte Moment des Zögerns gewesen, der den Kämpfern von damals zum Sieg verholfen hatte.

Ob seine Maschine noch da war, irgendwo weiter südlich, unter dem ewigen Sand?

Ein kleiner Chaosgeist, ungefähr so groß wie ein Elefant, aber mit sechs Gliedern, die er bewegte wie ein Seehund seine Flossen, bahnte sich seinen Weg durch den Sand. Er war schwerfällig, nicht schnell genug, hatte den Anschluss an die anderen Biester verloren. Ein Nachzügler, so wie er einer war.

„He!”, brüllte Cýelú Irísolor und lenkte Perlenglanz in den Sinkflug. „Ungetüm!”

Das Wesen hörte ihn, denn es hatte große runde Ohren an einem vergleichsweise lächerlich kleinen Kopf am Ende eines langen Halses. Es schaute sich zu dem fliegenden Ritter um, ohne anzuhalten.

„Ich will, dass ihr verschwindet!”, stieß Cýelú hervor und dem Wesen sein flammenflackerndes Goldschwert genau zwischen die dumm dreinschauenden Glotzaugen. Die Kreatur brüllte auf, verlor die Kontrolle über den Kopf, der herabsank. Sie stolperte über ihren eigenen schlaffen Hals, überschlug sich und blieb dann ächzend liegen.

Der Goldene schüttelte Blut und Flammen von seiner Klinge ab. Ohne noch weiter nachzudenken, jagte er auf das Gemetzel vor sich zu und wurde Teil des verzweifelten Schwarmes. Zu seinem König. Zu seinem Mittelpunkt. Nun konnte es losgehen.

Hätte Cýelú Irísolor sich währenddessen auch nur einmal zum Cielástel umgewandt, ihm wäre nicht entgangen, dass sein Sohn eigene Wege zum Abenteuer einschlug.

***

Etwas antwortete auf die Melodie, stimmte darin ein. Yalomiro spielte und erschauerte. Es war dem so ähnlich, was damals geschehen war, als er sein Lied für Salghiára gespielt hatte, als diese noch unkundig war und er sie mit sich in den Schatten nehmen wollte. Die Variation auf Salghiáras und sein Lied, eines, das er nur für ihre Ohren spielte, wenn sie beisammen waren, hatte Dýamirée erreicht, hatte sie berührt und genau das bewirkt, was er sich erhofft hatte. Eine Schutzhülle aus magischen Noten hatte er um das Kind gewoben, damit es nicht in der Nacht zerfloss und zum ruhelosen Schatten wurde.

Aber dann geschah mehr als das. Dýamirée hatte begonnen, zu singen. Sie sang mit ihrem kleinen, klaren Kinderstimmchen vor sich hin, lautlos im Schatten, und ihm wurde heiß und kalt. Dýamirée konnte singen. Dýamirée! Sie war erwacht!

Dies wäre der Moment gewesen, indem er vor Noktáma niederfallen und sie hätte preisen sollen für die Gabe, die sie dem Mädchen nun doch noch gewährt hatte. Aber dazu war beim besten Willen nicht der richtige Augenblick.

Ovidáol, wie immer er es fertigbrachte, war immer noch in seiner Nähe, versuchte wohl, herauszufinden, auf welche Weise Yalomiros Lied in Noktámas Domäne wirken mochte. Mochte die Dunkle Macht geben, dass er nicht dahinterkam, was es damit auf sich hatte. Und mochten seine Sinne unempfänglich sein für das Wunder, das sich gerade in Dýamirée offenbarte und von dem sie selbst wahrscheinlich gar nichts bemerkte.

Wieso war Ovidáol immer noch hier und nicht von Noktámas Zorn verschlungen? Hatte er sich in all der Zeit doch noch Reste seiner einstigen grandiosen Magie bewahren können – oder möglicherweise neu erlernt aus den Büchern, die er angeblich zusammengeklaubt hatte? Reichte seine Macht über die kleinen Alltagszauber hinaus, die er womöglich noch hatte wirken können?

Ob hier, im Schatten, die Erinnerungen und die Fähigkeiten in ihm neu erwachten, mit denen Schattensänger geboren wurden und die sie ohne willentliche Zauber beherrschten? Ob Ovidáol Gedanken hören konnte?

Dýamirée, spielte er leise, kleiner Stern, komm zu mir. Sei leise und komm her. Hangele dich am Lied entlang wie an einer Schnur. Erinnerst du dich an die Geschichte vom Garnfaden, die deine Mutter dir erzählt hat? Wie sie mich damals finden konnte, als wir in der seltsamen Burg gefangen waren?

Diese Geschichte hatte er selbst erst von Salghiára erzählt bekommen, als sie gemeinsam im Boscargén angekommen waren und sie dort langsam zur Ruhe fand. Viele Nächte hatte sie damit verbracht, ihm von den Dingen zu berichten, die damals geschehen waren, die er während seiner Gefangenschaft in Pianmurít, der Domäne des Rotgewandeten, nicht selbst miterlebt hatte. Er war beeindruckt gewesen von der klugen Idee, die sie aus einer alten Geschichte ihrer Welt erlernt hatte. Es war ein klein wenig wie der Plan von Hänsel und Gretel, nur etwas haltbarer als Brotkrumen in einem Wald voller hungriger Vögel. Dagegen war das, was er hier tat, absurd. Er versuchte, Dýamirée an einer stummen Schnur aus Schall zu führen.

Aber Dýamirée schien ihn nicht zu verstehen, denn sie sang weiter. Wahrscheinlich war ihr nicht bewusst, wie ihre neugeborene Magie mit dem resonierte, was er in seine Musik kleidete, damit der Verfluchte es nicht fand. Sie musste überwältigt sein und jubelte unbefangen über ihre neue Kunst.

Leise, kleiner Stern, sei ganz leise! Sei still wie ein Mäuschen und komm zu mir! Vielleicht kann er dich hören.

Aber sie sang und wurde immer stärker, selbstbewusster dabei. Sie fand Gefallen an dem, was ihr die Musik ermöglichte, und warum auch nicht? Aus ihrer Sicht mochte sich das, was sie erlebte, darbieten wie ein sonderbarer Traum ohne Bilder. Und was er hier tat, war nicht mehr, als sie mit seiner bedingungslosen Liebe, seiner Sorge und dem Wunsch, sie zu beschützen und zu verteidigen, anzulocken. Woher sollte sie wissen, dass auch der Verfluchte, der Gefährliche, der, der ihr weh getan hatte und ihr ans Leben wollte, hier war? Sie hatte ein Lied gelernt und war begierig, es auszuprobieren. Mochten die Mächte geben, dass sie nicht auch noch den Stab bei sich führte.

Kleiner Stern, flehte er, bitte sei still! Komm einfach zu mir! Ich bringe dich zurück ins Weltenspiel, und ich bringe dir viele, viele Lieder bei! Ich lehre dich, selbst welche zu schaffen. Aber bitte, ich flehe dich an, sei still!

Was tust du da?, fragte Ovidáol, so lautlos und nahe bei ihm, dass Yalomiro erschrocken zusammenzuckte. Was ist das für eine Magie, die du wirkst, ohne zu zaubern? Was ist das, was Noktáma dir in ihrem Reich gestattet?

Yalomiro spürte in die Finsternis. Ovidáol war nahe, viel zu nahe. Das Lied zog ihn an. Er konnte es wahrnehmen. Was genau hörte er? Nur die Geige, oder auch das unschuldige Kinderlied, mit dem Dýamirée irgendwo in Noktámas Reich ihre Angst hinfort sang?

Liebe, antwortete er. Noktáma hat mir Liebe erlaubt.

War Ovidáol fassungslos? Angeekelt? Fasziniert? Yalomiro wusste es nicht zu sagen. Auf jeden Fall hatte er den anderen verwirrt, und das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.

Welchen Handel bist du mit ihr eingegangen? Wieso hat sie dich auf so schmähliche Weise betrogen, die Macht, der wir so ergeben waren?

Ovidáols körperloses Lächeln war ganz deutlich zu hören. Es klang scheußlich in Dýamirées reinen Kindergesang hinein.

Yalomiro wich zurück. Ovidáol kam näher. Er streckte seine Hände nach der Geige aus. Yalomiro duckte sich davor weg und erstarrte. Die Geige … sie wurde sichtbar. Die geleimten Stellen, dort, wo Salghiára das Instrument einst neu zusammengesetzt hatte, glommen silbrig auf, ein Sakrileg, etwas, das in den Schatten nicht hätte möglich sein sollen. Eine Energie, die hier nicht sein durfte.

Nein, Dýamirée!, dachte Yalomiro entsetzt. Das darfst du nicht!

Und Ovidáol sprang auf Yalomiro zu, aus der Finsternis in das Schimmern der Geige, und das letzte, was Yalomiro sah, war eine menschliche Fratze mit stechenden Silberaugen und gebleckten Zähnen, die der eines Chaosgeistes in absurder Weise ähnelte.