
Der Klang flutete durch die Finsternis auf sie zu. Dýamirée konnte sich nach wie vor nicht bewegen, aber sie neigte sich den vertrauten Klängen entgegen. Ihr Vater! Ihr Vater war in der Nähe, sie erkannte die Stimme seiner Geige, seine Art und Weise, mit den Tönen Dinge zu sagen, für die es keine Worte gab. Sie erkannte das Instrument und die Sprache dessen, der darauf spielte. Aber die Melodie, die war neu und besonders.
Das Erste, was versiegte, war die Angst. In ihrem Geist kauerte Dýamirée sich zusammen, wie ein kleines Windninchen, wie ein neugeborenes Tier, klein genug, um gänzlich unter den Schutz zu schlüpfen, den die Musik ihr anbot. Die Melodie erreichte sie und wurde zu einem Schleier, zu einem Gewand, so warm und undurchdringlich wie der Mantel des Vaters, unter den sie als viel kleineres Mädchen oft geschlüpft war, wenn es ihr zu kalt oder zu unheimlich geworden war, wenn sie den Märchen zugehört hatte, die er erzählte.
Die Musik war weich und zärtlich, weckte in ihr längst verblasste Erinnerungen an die Zeit, in der sie noch viel zu klein war, um eigene Gedanken zu haben, an eine Zeit, zu der es nur den Moment gab und Emotionen viel zu kompliziert waren, abgesehen von diesem allumfassenden, friedlichen Gefühl von Geborgenheit, des Geliebtseins.
Die Musik tat etwas mit ihr, ganz sacht und subtil. Dýamirée spürte es kaum, aber sie konzentrierte sich verwundert darauf. Das Lied ihres Vaters schob sich zwischen sie und die Dunkelheit an den Rändern ihres Bewusstseins. Jede Note trennte sich von der absoluten Schwärze ab, schälte sie heraus aus dem verwirrenden Gefühl des Zerfaserns und Verwischens. Das Lied ergriff sie und hob sie sanft empor und heraus aus dem körperlosen Dunklen, hüllte sie Schicht um Schicht ein, so wie die Mutter es tat, wenn sie ihrer Tochter fürsorglich und umsichtig an kalten Wintertagen mehrere Hemdchen, Strümpfe und Schals umlegte. Doch hier war es nicht umständlich und behinderte sie in ihren Bewegungen, im Gegenteil. Je mehr Musik um sie war, desto leichter fiel es dem Mädchen, sich willentlich zu regen und zu orientieren.
Stehen, dachte Dýamirée. Ich will stehen und gehen. Oben und unten. Wie mache ich das?
Das war eine interessante Frage. Dunkelheit hatte keine Richtung, das hatte der Vater ihr einmal zu erklären versucht, aber erst jetzt verstand Dýamirée, wie das gemeint war. Es lenkte sich ab und ihren Geist auf etwas, was eigentlich noch viel zu abstrakt für ein Kind war. Ihre Verwirrung jedoch war nun der Neugierde gewichen. Dýamirée probierte, sich zu drehen, zu bewegen. Sich einfach selbst auszusuchen, wie und wo sie sein wollte. Die Musik ermutigte sie dazu. Ob sie sich an dem Stab festhalten konnte? Sie versuchte es und richtete die Stange gerade vor sich aus. Das war nicht schlecht. Wenn sie sich den Stab dachte wie einen schlanken, jungen Baumstamm, dann konnte sie sich daran festhalten. Dýamirée probierte es aus. Die Musik spornte sie an. Erinnerungsfetzen blitzten ganz am Rande ihres Bewusstseins auf. So hatte sie einmal gestanden, mit unglaublicher Anstrengung endlich auf ihren kleinen Füßen und noch krummen Beinchen, und dann war sie losgerannt, auf die ausgesteckten Hände des Vaters zu, drei, vielleicht vier Schritte, hatte sich auffangen lassen und war unglaublich stolz auf sich gewesen, als es geglückt war.
Und plötzlich stand sie aufrecht, wenn auch wankend auf den Beinen.
Eine ganz ähnliche Euphorie durchströmte das Mädchen. Fast konnte sie die Stimmen von Mutter und Vater widerhallen hören, die diese ersten Schritte so überschwänglich gefeiert hatten.
Dýamirée ließ mit einer Hand den Stab los. Es war gelungen. Die Finsternis hallte sich von ihr gelöst. Die Musik hatte sie aus dem Dunkel herausgeschält, und dabei waren die äußeren Faserschichten von ihr abgeblättert. Dýamirée runzelte verwirrt die Stirn, während sie auf die Musik lauschte, ohne deren Richtung und Entfernung zu erahnen. Was für eine seltsame Eingebung. Sie hatte etwas mit dem Vater zu tun, mit etwas, das er ihr einmal beigebracht hatte und woran sie sich viel deutlicher erinnern konnte.
Mit Schmetterlingen.
Einmal hatte Dýamirée im Frühling einen schönen bunten Schmetterling gefunden, der sich an einem kühlen Morgen in der Sonne auf einer Blume ausruhte. Sie hatte vergebens versucht, ein Gespräch damit zu beginnen, so wie die Kinder in den Geschichten der Mutter, die immer mit Tieren sprechen konnten. Nach einer Weile hatte sie es frustriert aufgegeben und sich beim Vater darüber beklagt.
„Was hättest du ihn denn fragen wollen?”, hatte der Vater sich ernsthaft erkundigt und das zarte Flattertier behutsam auf seinen Finger krabbeln lassen.
„Ich will wissen, wo er herkommt. Wo er im Winter gewesen ist!”
„Er würde dir antworten, dass er in sich selbst war. Er hat geschlafen.”
„Aber dann hätte ich ihn doch im Herbst sehen müssen, bevor er sich ins Bettchen gelegt hat. Haben Schmetterlinge Bettchen, Papa?”
„Du hast ihn gesehen, Dýamirée. Erinnerst du dich an die haarigen Raupen, über die deine Mutter sich so beklagt hat?”
„Die die schöne Blume angeknabbert haben, die du vor dem Fenster für sie hast wachsen lassen?”
„So hat er damals ausgesehen. Er hat geschlafen, und als er aufgewacht ist, ist das hier aus ihm geworden.”
Darüber hatte Dýamirée eine Weile nachgedacht. „Dann hat er sich verwandelt? So wie du das machst? Sind Schmetterlinge Magier, Papa?”
„Nein. Es ist ein viel größeres Wunder dabei, als jemals ein Magier mit einer Verkleidung wirken könnte.” Der Vater hatte den Schmetterling angehaucht, und das Tier war zur nächsten Blüte geflattert. „Komm, mein kleiner Stern. Vielleicht finden wir einen, der noch nicht aufgewacht ist.”
Und sie hatten gar nicht lange gebraucht, bis sie einen Busch gefunden hatten, an dem noch einige Schmetterlingspuppen gehangen hatten. Dýamirée fand, dass die trockenen Dinger wenig Ähnlichkeit mit den gefräßigen Raupen vom Herbst hatten, aber der Vater hatte ihr versichert, dass eine darinnen war.
„Schau”, hatte der Vater gesagt. „Schau, aber berühre es nicht. Du darfst es nicht vor der Zeit stören. Schau dir das Wunder an. Geduld.”
Und dann hatte Dýamirée die nächsten beiden Tage vor dem Busch gesessen und gewartet. Zum Glück hatten die Puppen kurz vor dem Schlupf gestanden, sodass ihre kindliche Ausdauer nicht zu lange gefordert war. Tief beeindruckt war sie von dem Schauspiel gewesen, bei dem der Schmetterling seine Hülle abgestreift hatte. Und nun, da sie hier im Schatten stand und spürte, wie etwas von ihr abfiel wie eine brüchige, trockene Schale, fühlte sie sich an die schönen bunten Schmetterlinge erinnert, die so zerknittert und erschöpft aus ihren Hüllen krochen und nur einen Moment Ruhe brauchten, um sich zu sortieren und zurechtzufinden, bevor sie losflogen, um die schönen bunten Blumen zu erkunden.
Und während sie so stand und begierig auf die Geige lauschte, die lautlos im Finsteren zu ihr sprach, geschah noch etwas anderes. Das Lied, das sie umarmt und befreit hatte, begann zu fließen. Es war nicht mehr länger wie ein warmes Kleid oder eine Decke, die einfach auf ihr lag. Es bewegte sich. Es wurde lebendig. Es zuckte und glitt um sie herum, vermengte sich miteinander und begann, zu leuchten. Nein, es leuchtete nicht wie ein Licht, es war unsichtbar, Aber Dýamirée konnte es wahrnehmen. Zaghaft ließ sie den Stab mit einer Hand los und betrachtete fasziniert ihre Fingerspitzen.
„Papa”, wisperte sie. „Papa. Ich … bin aufgewacht!” Sie tastete mit der freien Hand nach dem schönen dunklen Lied und begann, zu tanzen.
***
„Wohin willst du, Galéon?”, rief Advon. Der Junge hatte die Augen zusammengekniffen und versuchte, das Gesicht mit der Hand vor der Mischung aus nadelfeinem Hagel und Sand zu schützen. Farbenspiel schraubte sich in gestrecktem Galopp weiter und weiter in die Höhe und schnaubte gegen den Wirbel aus Wind und harten Partikeln an, die ihn aus der Bahn drängen wollten. Hier oben zu fliegen, war selbst für ein Einhorn anstrengend.
„Wir müssen in die Wolken hinein. Durch die Wolken hindurch!” Auch Galéon musste gegen Wind und Donner anschreien.
„Durch die Wolken? Das ist doch viel zu hoch und zu gefährlich! Kein Einhorn fliegt freiwillig in Sturmwolken hinauf!”
„Weiß Farbenspiel das auch?”
„Natürlich! Er wird mir durchgehen!”
„Dann ist das jetzt die Gelegenheit, deinen Willen zu schärfen!”, rief der báchorkor dem Jungen ins Ohr. „Anders kommen wir ins Chaos nicht hinein!”
Advon erstarrte vor Entsetzen. Galéon spürte, wie der Junge stocksteif wurde und offensichtlich keine Worte hatte, um ihm zu widersprechen.
„Durch die Wolken?”, brachte er dann ungläubig hervor. „Ins Chaos?”
„Ja, natürlich! Bis zum Meer ist es zu weit. Die äußerste Wüste würde uns verbrennen. Der Sturm ist der kürzeste Weg! Und, so absurd es bei näherem Nachdenken klingt, der ungefährlichste!”
„Was hast du im Chaos vor?”
„Wir retten Dýamirée! Und … ein paar andere Leute.”
Advon schaute fassungslos über die Schulter. Aber es war definitiv zu anstrengend, über den tosenden Sturm anzubrüllen, also sparte er sich halbherzige Gegenrede. Denn Advon wollte ins Chaos, wollte das Mädchen befreien und beschützen und einer von diesen kühnen edlen Rittern sein, die er aus Geschichten kannte, wie báchorkoray sie erzählten und Dichter niederschrieben. Der Junge klammerte sich an Farbenspiel fest, der mit kräftigem Schwingenschlag gegen den Sturm ankämpfte und dabei buckelte und einknickte, als kämpfe er sich über unwegsamen Boden.
„Du hast gesagt, Dýamirée ist in Noktámas Domäne!”
„Der Weg zurück ins Weltenspiel führt durchs Chaos! Frag nicht, woher ich das weiß! Das kann ich dir jetzt nicht erklären!”
„Aber niemand kommt aus dem Chaos heraus! Nur …” Advon stutzte.
„Wann, wenn nicht jetzt, hätten wir die Gelegenheit, das Chaos zu betreten?” Galéon hatte seinerseits Mühe, sich auf dem Rücken des Einhorns zu halten und klammerte sich vielleicht etwas zu fest an dem Kind, dem erfahreneren Reiter fest. „Die wirklich gefährlichen Monster sind alle dort unten! Außerhalb des Chaos, und gut beschäftigt! Wir müssen hinein und wieder zurück, bevor deine Leute siegen und sie zurücktreiben!” Oder, setzte Galéon in Gedanken hinzu, bevor die Monster sich endgültig befreien und ausschwärmen. Dann haben wie alle Ewigkeiten Zeit. Dann ist es auch egal.
Weit unter ihnen, in Richtung Aurópéa, erstrahlte am Wüstenrand eine gewaltige Kuppel aus vielfarbig irisierendem Licht, so bunt und in heftiger Bewegung, dass man vom Hinsehen ganz schwindelig wurde. Darunter tobte der Kampf, den Elosál durch die Ritter ausfocht.
„Papa denkt, du bringst mich in Sicherheit!”
„Ich bin ein báchorkor. Geschichten folgen meinen Ideen, nicht der Vernunft!”
Advon spuckte Sand. „Wenn Papa herausfindet, dass wir ins Chaos geraten sind, dann geht es dir schlecht!”
„Willst du Dýamirée retten?”
„Natürlich will ich das!”
„Und dafür brauchst du ernsthaft die Erlaubnis deines Vaters?”
Advon überlegte, etwa einen halben Herzschlag lang. „Einfach in die Wolke hinein?”
„So schnell, wie Farbenspiel kann!”
„Und wenn wir sterben? Galéon, das ist … ich … ich hab Angst!”
„Du stirbst nicht. Noch lange nicht.”
„Woher willst du das wissen?”
Galéon schwieg ertappt. Advon seufzte.
„Los, Farbenspiel! Zeig, was du kannst! Ich will, dass du uns ins Chaos bringst.”
Farbenspiel bäumte sich auf und warf sich gegen den Sturm, brach sich den Weg durch heftige Böen und zähen, wattigen Dunst, strich Wolkenfetzen und Sand mit seinen Schwingenschlägen beiseite, bis ein Strudel das Tier und seine Reiter erfasste und hineinschleuderte in Stille und Zwielicht.
***
„Was ist das? Was ist geschehen?”
Asgaý von Spagor rappelte sich auf und kam Kíaná von Wijdlant rasch zur Hilfe. Ohne jede Vorwarnung war der sandige Grund unter ihnen schlagartig bretthart gefroren. Das hatte zugleich eine mächtige Erschütterung verursacht, die sie alle den Halt hatte verlieren lassen.
„Bei den Mächten”, hörte der teirand Andriér Altabete ausrufen. „Was ist das? Wo sind wir?”
Nach und nach kamen alle anderen zum Stehen. Achtsam, da zu befürchten stand, dass das Beben sich wiederholen würde, schauen sie sich um und fröstelten.
„Ich”, sagte yarl Althopian nach einer Weile, „war als sehr junger Knappe einmal mit meinem Herrn im teirandon Ghelazia. Eis. Und Finsternis.”
„Wenn es uns aus heiterem Himmel ins ewige Eis von Ghelazia verschlagen hätte”, murmelte Grootplen, „dann wären wir gerettet.”
Sie standen nun auf einer Insel aus gefrorenem Sand, der von einer dünnen, scharfen Frostschicht weiß überzogen war. Die Hügelkuppe überragte den schimmernden Nebel, der um sie herum waberte wie ein träges Meer. Doch über diesem Meer war vollkommene Finsternis. Es konnte nicht der Himmel sein, denn er war weder mit Noktámas Juwel noch ihrem Sternenschleier geschmückt. Die Schwärze hing über ihnen und um sie herum, bedrohlicher als die Gewitterwolken, soweit das Auge reichte. Der Anblick bewirkte in jedem der Erwachsenen ein seltsames Entsetzen. Wie unbedeutend, wie winzig waren sie alle vor dieser Unendlichkeit!
„Als ob alles Wirkliche dort aufhört”, wisperte die teiranda.
„Das ist etwas, das Menschenaugen nicht sehen sollten”, stimmte Asgaý ihr beklommen zu.
„Lasst uns wieder in den Nebel hinabsteigen”, schlug Altabete vor. „Besser, nichts sehen, als … das sehen!”
Grootplen wandte sich ab. Vorsichtig tappte er an den Rand des Hügels. „Es ist nicht zu sehen, ob es hier nach ein paar Schritten noch Boden gibt.”
„Aber was ist das hier?”
„Das will ich gar nicht wissen!”, rief Kíaná von Wijdlant aus. „Das sind Dinge, die niemand wissen muss! Die niemand wissen darf!”
„Dann”, sagte Altabete nach einer Weile, „sind wir wohl am Ende des Chaos angelangt. Am äußersten Ende.”
„Die Grenzen des Dunkeln …”, wisperte Althopian mit beunruhigender Ehrfurcht in der Stimme. „Habt Ihr Euch das auch so vorgestellt?”
Kíaná von Wijdlant ging zurück und blieb vor den Kinderfußspuren stehen, die im Eis erstarrt waren. Müde kniete sie auf dem harschen Frost nieder und berührte die kleinen Abdrücke, die Tíjnjes Füßchen hinterlassen hatten. Die Spur querte die frisch entstandene Anhöhe und führte dann in den Abgrund.
„Wir müssen weiter”, entschied sie. „Wieder hinab in den Nebel. Die Kinder …”
„Schaut!”, rief Daap Grootplen aus. „Was ist das?”
Er deutete in die Weite, hinab in den Nebel.
„Was ist da?”
„Es ist sehr klein. Aber es gehört da nicht hin. Es ist ein Licht.”
„Ein Licht?”
„Ein winzigkleines rotes Licht!”
Sie starrten angestrengt in die Richtung, der der Ritter ihnen wies. Asgaý kniff die Augen zusammen, aber entdecken konnte er nichts. Doch bevor er etwas dazu sagte, packte Kíaná ihn an der Schulter. „Da ist etwas”, wisperte sie. „Dieses Leuchten … das darf nicht hier sein!”
„Was soll das heißen?”
„Es … gehört nicht an diesen Ort. Ich weiß es, ganz bestimmt!”
„Woher?”
„Ich …” Sie zögerte und erklärte dann leise: „Ich habe es schon einmal woanders gesehen.”
Waýreth Althopian hob die Hand und legte die Finger an die Lippen. Die anderen hielten den Atem an.
„Hört ihr das auch?”, fragte der Ritter. „Diese … Musik?”
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