Die alte Frau wich vor Úldaise Tiáramalé zurück, aber sie war zu langsam und gebrechlich. Der Greis schritt an Dýamirée vorbei und schwang seinen Stock gegen die Dame, schlug zu und traf sie so hart vor die Brust, dass die sinora stürzte wie ein Stein, und genauso stumm. Nicht einmal für einen Schmerzenslaut hatte sie den Atem übrig.

„Saháalír?”, schrie Úldaise herausfordernd über den Hof und blieb vor der wimmernden sinora stehen. „Bist du auch hier? Sieh her! Willst du mich nicht aufhalten, dummer alter Mann? Komm, hilf ihr! Lass dich hertragen! Oder lohnt sich das nicht mehr? Ist gar nichts mehr übrig von deiner Moral, kein kleiner Rest mehr von Edelmut und Tapferkeit deiner Jugend? Ich warte, bis du hier bist!”

Tatsächlich: Da drüben am Stall bewegte sich etwas, aber es war nicht Saháalír. Ein ihm unbekannter Unkundiger, wahrscheinlich einer der Dienstknechte des Stadtältesten, verschwand im Gebäude und schrie dort in panischer Verwirrung unverständliches Zeug. Wahrscheinlich war der alte sinor nicht in Reichweite der Tür, so dass er nicht selbst gesehen hatte, was dem tatterigen Weibsbild widerfahren war, das da lag und leise winselte.

Er rief sich zur Ordnung. Diese gebrechlichen Unkundigen, warum auch immer sie hier im Cielástel herumlungerten, würden ihm nicht weglaufen, zumindest nicht mehr schnell genug. Das hatte Zeit. Aber der Stab, den musste er haben. Und dann wäre der báchorkor dran, den das Licht ihm auf den Hals gehetzt hatte. Dass der den Stern erbeutet hatte, das war ein ärgerlicher, ein dummer, ein unverzeihlicher Fehler. Aber nichts, was sich nicht korrigieren ließe.

Úldaise lächelte grimmig, drehte sich um und wandte sich dem Schattensängerbalg zu. „Und nun zu dir, Ungestalt! Gib mir …”

Gänzlich unerwartet rammte ihn etwas mit der Wucht eines Schafbocks in den Magen. Eines Bocklammes, denn allzu stark war Advon Irísolor nun einmal nicht. In Ermangelung einer Waffe hatte der Knabe sich selbst dem sinor entgegengeworfen und ins Wanken, aber nicht zu Fall gebracht. Úldaise Tiáramalé krümmte sich verblüfft und schnappte nach Luft. Aber das Kind würde ihn nicht aufhalten.

„Verdammter Bengel”, ächzte der Alte und hob seinen Stab.

„Farbenspiel!”, rief Advon schrill.

Und dann preschte das verfluchte Einhorn herbei, trompetend wie ein riesenhafter Prachtvogel, und mit weit ausgestellten Flügeln.

Úldaise blieb nichts anderes übrig, als sich über das Mädchen zu werfen. Dýamirée Lagoscyre kreischte, als er sie bei den Haaren griff und mitsamt dem Stab an sich presste. Das Einhorn kam viel zu dicht vor ihm zu stehen, stieg ob dieses Bremsmanövers auf die Hinterbeine, und messerscharfe Klauen trampelten keine Handbreit vor Úldaises Gesicht durch die Luft.

„Ruf deine Schindmähre zurück, Bengel! Oder ich werfe ihm das Balg hier zwischen die Hufe!”

„Lass mich los, du böser alter Mann!”, schimpfte das Mädchen. „Du tust mir weh!”

„Hab keine Angst, Dýamirée!” Der Junge war erfreulich besorgt. „Farbenspiel, ruhig! Ruhig! Niemanden niedertreten, hörst du? Ich … ich will, dass du ruhig bliebst!””

„Advon!”, jammerte das Mädchen. „Der Stab …”

„Úldaise!”

Der Greis schreckte herum. Jetzt war da auch noch der Goldene, in feuerflammender maghiscal erschien er am Turmausgang. Der Mann brannte, nicht nur in ungezügelter Magie, sondern in schierer Wut. Drohend hatte er sein Schwert gezückt, beeindruckend wäre das gewesen, hätte Úldaise Tiáramalé noch Respekt vor ihm empfunden. Aber nun hatte er den Stab. Nun gut, es hing noch das Kind daran, aber das abzuschütteln würde ein Leichtes sein.

„Du kommst zu spät, Cýelú Irísolor!” Er riss den Kopf des Mädchens am Haar so weit nach hinten, dass es strauchelte und den Halt verlor, aber da er es festhielt. stürzte es nicht hin. „Ich habe ihn! Ich habe das Artefakt!”

„Du bist wahnsinnig!”, unterstellte der Goldene. „Lass los, Úldaise!”

„Was denn? Das lästerliche Gör oder den Stab?”

„Spotte nur, Úldaise, Siledaú, Ovidáol, wer immer du bist! Ich hole mir beides!”

„Tatsächlich? Deine maghiscal, Cýelú, die löst sich im Regen schon wieder auf. Willst du nicht besser wieder hineingehen und dich unterstellen? Wäre doch schade, wenn ich den Stab gleich an dir und deiner Brut ausprobiere, oder?”

Der Goldene zögerte. Offenbar bemerkte er nun selbst, dass das Unwetter erneut begann, seine Magie zu verwässern. Er warf einen irritierten Blick auf seine Hand, aber der kurze Zweifel hielt ihn das nicht lange auf.

„Mit bloßen Händen”, knurrte er, „bin ich einst hergekommen. Die reichen aus, um einem alten Mann den Hals zu brechen.”

„Papa!”, entsetzte sich Advon, aber der Goldene schien wild entschlossen. Im Vorbeigehen strich er seinem Sohn über den Kopf.

„Glaubst du ernsthaft, ich habe Angst vor dir?”, höhnte Úldaise. „Ich weiß, von wo du einst hergekrochen kamst und dass Pataghíu in einem Anfall von Verwirrung seine Gaben verteilt hat! Du bist der Großmeister, Cýelú Irísolor, für Elosál und ihre Kreaturen mag das reichen. Aber was du wirklich bist, im Angesicht des Weltenspiels, das ist … ein Witz!”

„Papa?” Advon schaute verwirrt von einem zum Anderen. Das Mädchen jammerte vor Schmerz.

„Ich”, sagte der Magier dann rau, „kann darüber nicht lachen.”

Und er holte aus, seine goldene Klinge gleißte im Schein seiner flackernden Feuermagie und den Blitzen, des niederzuckenden aus dem Gewitter und dem anderen, der in die Wolken empor schoss, ein Blitz, eiskalt und silbern wie blanker Stahl.

Aber das Schwert fuhr ins Leere. Denn Úldaise war … fort. Mitsamt dem Mädchen und dem Stab. Und die ersten dicken Hagelkörner prasselten auf den Cielástel hinab.

***

Das Boot ging vor Anker. Jedenfalls bewegte es sich plötzlich nicht mehr weiter. Es dauerte einen Moment, bis jemand es wagte, das zu kommentieren.

„Ist es … kaputt?”, fragte Manjév.

Merrit kniete neben dem Schiffchen nieder und kniff die Augen zusammen. „Das Licht ist noch da drinnen.”

„Aber warum geht es dann nicht weiter?”

Die Kinder wandten sich dem yarl zu. Aber das taten sie eher aus Höflichkeit, denn dass die Erwachsenen meist keine Antwort auf Fragen hatten, überraschte keinen der drei mehr. Zum Glück war Alsgör Emberbey ehrlich genug, ihnen nicht einfach eine Behauptung für Wahrheit zu verkaufen.

„Mögen die Mächte geben”, sagte er stattdessen, „dass es nicht eine Tücke der Roten Dame ist und uns in eine Falle führt.”

„Was hat die Rote Dame Euch eigentlich angetan?”, fragte Merrit verärgert. Offenbar hatte sein Fiebertraum ihn so beeindruckt, dass er jeden Zweifel an ihr für eine Schmähung ansah.

„Mir? Den Mächten sei Dank, ich bin niemals einer begegnet.”

„Aber Ihr wisst, wer sie ist?”

„Sie und ihresgleichen?” Alsgör Emberbey schien einen Moment zu überlegen, ob etwas sagen sollte, entschied sich dann aber offenbar eines Besseren.

„Dafür”, sagte er knapp, „seid ihr noch zu jung. Und für Eure Ohren, Majestät, sind diese bösen Geschichten nicht bestimmt. Es ist lange Zeit vergangen.”

Merrit runzelte die Stirn. Ganz offensichtlich lechzte er nach einer Erklärung, war zugleich empört darüber, dass der yarl die Dame geringschätzte, und zu gut erzogen, um vorlaut zu sein.

Osse räusperte sich. Manjév vermutete, er wolle seinen Freund damit davon abhalten, seinem Vater schwierige Fragen zu stellen.

„Lasst uns warten”, sagte sie. Vermutlich war es das, was in dieser Lage von ihr erwartet wurde. Sie war die teirandanja. Ihre Getreuen durften untereinander nicht streiten.

„Aber wenn wir stehen bleiben, dann kommen die Monster zurück.”

„Glaube ich nicht.” Sie versuchte, einen Scherz zum machen. „Vielleicht hat sich unten ihnen herumgesprochen, wie gut Merrit mit seiner Waffe umgehen kann. Und du mit deinem Brett. Und Ihr, Herr Alsgör, mit dem Schwert. Die haben Angst vor uns.”

„Das”, murmelte der Ritter, „bezweifle ich.”

Sie standen eine Weile herum, bis das Schweigen unangenehm wurde. Das Boot rührte sich nicht voran. Ab und zu überprüften die Jungen, ob das Licht noch darin schien. Manjév bebte vor Anspannung. Irgend etwas würde geschehen, das war sicher. Aber worauf wartete es?

So verging einige Zeit. Merrit hatte begonnen, angetrocknete Reste von Chaosgeistblut von der Dornenkugel zu knibbeln, die er zuvor übersehen hatte. Damit war er allerdings sehr schnell fertig.

„Was Truda und Raýneta wohl daheim gerade tun”, fragte Osse plötzlich nachdenklich.

„Das Kleine wird wohl friedlich schlafen”, sagte Alsgör Emberbey. „Und auf Truda gibt die opayra acht.”

„Ob sie uns vermissen?”

„Dazu sind wir noch nicht lange genug fort, Osse. Sie erwarten uns erst in einigen Tagen zurück.”

Der Junge nickte stumm. Aber Manjév horchte auf. An die kleine Truda hatte sie gar nicht mehr gedacht und konnte sich kaum etwas vorstellen, wenn sie daran dachte, dass bald ein weiteres Mädchen Teil ihres Lebens sein würde. Die teirandanja hatte schon in den vergangenen Monden begonnen zu ahnen, dass die Zeit des unbeschwerten Zusammenseins mit Láas und Jándris bald weniger werden würde. Die Jungen waren bald zu alt, um sich mit den jungen Mädchen abzugeben. Und sie, sie würde vom Kind zur Dame werden.

„Ob Truda sich gut mit Tíjnje verstehen wird?”, fragte Manjév. „Schließlich sollen die beiden meine Hofdamen sein. Ich fände es dumm, wenn sich mein Gefolge nicht verträgt.”

„Truda ist ein sehr wohlerzogenes und fügsames Kind, Majestät. Sie wird Euch keinen Anlass zum Tadel geben.”

„Spielt sie noch mit Puppen, Herr Alsgör?”

Der Ritter bedachte die teirandanja mit einem verwirrten Blick. Manjév schaute ihn erwartungsvoll an, bis sie begriff, dass der Ritter vermutlich nicht wusste, womit sein kleines Mädchen sich die Zeit vertrieb.

„Sie besitzt eine Puppe”, antwortete Osse an seiner Stelle. „Eine mit einem geschnitzten Gesicht aus Holz und Zöpfen aus Pferdehaar. Meine Mut-… in Ovéstola machen sie die Spielzeuge so.”

„Tíjnje hat eine aus Stoff”, erzählte Manjév, nur damit es nicht still war. Sie war sich durchaus bewusst, dass sicher weder den alten Mann noch die beiden Jungs Geplapper über Mädchenspielzeug interessierte. Aber das banale Thema kam ihr gerade recht als Ablenkung. „Als ich klein war, hatte ich eine mit einem ganz feinen Gesicht aus angemaltem Glas. Mein Vater sagte, sie käme aus Aurópéa. Die war sehr hübsch. Später wollte ich keine mehr.”

„Was ist mit der Puppe geschehen?”, erkundigte Merrit sich höflich.

„Jándris hat sie entführt. Das ist drei Winter her oder so. Wir haben gespielt, ich wäre die schöne teiranda und Jándris der furchtbare graue Ritter, der mir die Tochter rauben wollte. Láas war mein yarl, der den Schurken besiegen sollte.” Sie lächelte, als sie sich an die Begebenheit erinnerte. „Die opayra fand das gar nicht lustig. Jedenfalls durfte ich nicht mit ihnen, um meine Tochter, also die Puppe zu retten, als sie auf ihren Pferdchen im Wald verschwunden sind. Ich glaube, die beiden hatten eigentlich nur im Sinn, um die Wette zu reiten.”

„Und?”

Die teirandanja zuckte die Achseln. „Die beiden waren dann im Wald wohl so sehr in ihr Kampfspiel versunken, dass sie die Puppe dort zurückgelassen haben. Mama hat ein wenig geschimpft, als die Jungs es bekannt hatten, aber sie haben die Puppe nicht wiedergefunden.”

Alsgör Emberbey schüttelte missbilligend den Kopf. Osse schien das peinlich zu sein. Er kontrollierte erneut das Lichtlein. Merrit aber sagte: „Wenn wir das hier hinter uns haben, Majestät, dann ziehe ich los und suche Eure Puppe im Wald.”

Damit hatte sie nicht gerechnet. „Wirklich? Das ist … sehr freundlich, Merrit.”

„Sie ist bestimmt noch in Ordnung, wenn sie aus Glas gemacht ist.”

„Aber ich spiele doch gar nicht mehr mit Puppen, Merrit. Dafür bin ich lange zu alt. Es …” Sie schaute verlegen zu ihm hinüber. Bei den Mächten, heiß und kalt wurde ihr. Er war so artig und aufmerksam, und doch schauderte sie zurück. Es zog sie zu ihm hin, aber es fühlte sich an wie etwas Verbotenes. Strenger verboten, als die opayra es hätte tadeln können. Ach, hätte sie doch nur die Worte, ihm zu erklären, was in ihr vorging!

Ein schabendes Geräusch schreckte sie aus ihren Gedanken. Alsgör Emberbey hatte die Hand am Schwert und es ein Stück weit aus der Scheide gezogen. Der Blick des alten Ritters war aufmerksam auf den Nebel gerichtet.

Merrit Althopian bemerkte es im selben Moment. Er zog die Kette seines Streitflegels zwischen den Händen straff, wohl damit sie nicht klirrte, und hielt ihn zum Schlag bereit. Osse schaute von einem zum anderen. Dann griff er sein Brett.

Manjév begriff. Offenbar hatte Emberbey etwas beobachtet, das im Nebel auf sie lauerte. Er legte den Finger an die Lippen und sie nickte ihm zu. Dann bückte sie sich nach dem Bötchen mit dem Stein und hob beides auf. Wenn es die Chaosgeister waren, würde sie vielleicht wieder den Stein werfen müssen. Leise trat sie beiseite, um Platz zu machen.

Bitte, ihr Mächte, flehte sie im Stillen. Bitte lasst sie noch die Kraft haben, es abzuwehren.

Ein Schemen, zwei, noch mehr verdunkelte den schimmernden Nebel. Und nun hörte sie es auch. Ein Murmeln, leise, aber ganz verzerrt und mit einem sonderbaren Hall drang an ihr Ohr. Etwas kam. Osse neben ihr blinzelte nervös. Das Brett in seiner Hand zitterte. Emberbey war bereit, wachsam, mit der Erfahrung eines langen Lebens.

Merrit Althopian aber lächelte gespannt, erwartungsvoll. Gruselig sah das aus. Und kaum trat das erste Wesen aus dem Nebel empor, fuhr die alte Dornenkugel ungebremst auf es nieder.

***

Jóndere Moréaval ärgerte sich über die vergeudete Zeit. Aufgeregt hatte die opayra den mestar ins Schulzimmer gescheucht, damit er all seine gelehrten Bücher gleich zur Hand habe. Dort hatte Moréaval dem alten Gelehrten geduldig aus dem Gedächtnis erklärt, welchen Wortlaut die Anweisungen des Schattensängers gehabt hatten. Der hatte sich verblüfft gezeigt und dann Dinge vor sich hin gestottert, die er aus alten Abhandlungen wissen wollte, die offenbar jemand geschrieben hatte, der nie von Angesicht zu Angesicht mit einem Magier zu tun gehabt hatte. Irgendwann hatte die yarlara genug von alledem gehabt und war herausgestürmt, durch die Halle, in den Sandregen hinaus, was natürlich die Aufmerksamkeit der dort Versammelten erregt hatte. Aber konnte man es ihr verdenken? Sie hielt ein Wundermittel in der Hand, mit dem sie das Leben von Tíjnje, ihrem Bruder und Vater würde retten können. Was sollte sie da noch länger warten?

„Bleib zurück!”, rief Moréaval, bahnte sich einen Weg durch die neugierig aus der Halle strömende Menge. „Geliebte! Warte!”

„Worauf?”, zischte sie ihn an, als er zu ihr aufgeholt hatte. „Ich weiß, was ich wünsche! Ich will mein Kind zurück! Unser Kind!”

Er erwischte sie beim Arm. „Nun nicht unbedacht! Es ist nur der eine Wunsch darin, und der darf nicht für dich sein!”

„Ist er es etwa nicht für dich?”

„Herr Jóndere hat recht!” Der mestar ächzte hinter ihnen her. „Glaubt mir, Herrin! Hinter solchen Wunderdingen steckt immer Tücke! Die Schwarzmäntel …”

„Der Schwarzmantel hat diese Tür verschlossen! Und ich werde sie wieder öffnen!”

Moréaval packte ihr Handgelenk. „Das ist ja recht und billig! Aber wir müssen es klug überlegen! Wir wissen nicht, was der Stein tut!”

Sie erreichten den Turm, wo der Steinmetz und zwei andere Männer in geradezu lächerlicher Manier die Mauer neben der Tür mit Meißeln und einer Hacke bearbeiteten. Natürlich war es ihnen in der kurzen Frist noch nicht gelungen, viel mehr herauszuschlagen als ein Stück Stein, nicht größer als eine Männerfaust. Immerhin – sie hatten der Mauer Schaden zugefügt.

Die Menge scharte sich erneut um die Treppe, aber es waren weniger Leute als zuvor. Der yarl legte die Hand auf die Tür. Dahinter gluckerte und platschte es immer noch. Etwas anderes war nicht zu hören, keine Menschenstimmen, keine Geräusche.

„Wir dürfen nicht nur Tíjnje retten”, sagte er. „Es sind noch mehr Menschen darin eingesperrt. Wünschen wir nur für die unseren, vielleicht bleiben die anderen verloren.”

„Und wenn ich mir einfach nur diese verdammte Tür aufwünschte?”, fragte sie. „Was ist so schwer daran?”

Er war dem mestar einen fragenden Blick zu, aber es war die opayra, die entsetzt die Hände vor den Mund schlug. „Wenn das Wasser losstürzt, Herr”, sagte sie, „wohin wird es fließen?”

„Na, hinaus!”, sagte die yarlara, aber Moréaval erbleichte. Dann trat er an den Rand der Treppe.

„Ich gebiete euch”, rief er, „in Abwesenheit der teiranday und zu eurer eigenen Sicherheit, die Burg zu verlassen!”

Verblüfftes Schweigen legte sich über die tuschelnden Schaulustigen. Dann brandete ihm Stimmengewirr entgegen. Der Ritter hatte Mühe, sich wieder Gehör zu verschaffen.

„Ich will, dass jeder von euch seine wertvolle Habe packt und ihr alle, mitsamt allen Tieren, in Richtung meines yarlmálon auf der Straße nach Osten bergan lauft. Niemand bleibt zurück. Diese Burg muss vollständig geräumt werden!”

„Warum?”, rief jemand zurück. Das, was Moréaval da verlangte, war außergewöhnlich, eine Maßnahme, die völlig dem entgegenstand, wozu eine Burg bestimmt war. Die Mauern von Wijdlant zu verlassen hieße, den besten Schutz aufzugeben.

„Weil niemand weiß, wie viel Wasser in diesem Turm gestaut ist! Wenn wir die Tür öffnen, dann wird mindestens der Hof geflutet, und ich will nicht, dass Mensch oder Tier in Not gerät. Und wenn es schlimm läuft, so reißt das Wasser vielleicht die Mauern ein, und ich will mich nicht verantworten, jemanden darunter erschlagen zu finden. Packt eure Sachen, die Pferde und das Vieh, und geht voran, bis das Gewitter endet. Ich will keinen von euch vor morgen Abend wieder hier sehen.” Er schaute zum mestar und der opayra hinüber. „Wenn ich dann noch jemanden sehen kann. Bitte, macht es nicht schwer. Geht ihnen als Beispiel voran.”

Die beiden zögerten. Die Menge murmelte beunruhigt untereinander.

„Mögen die Mächte Euch den rechten Wunsch finden lassen”, sagte der alte Gelehrte und verneigte sich. Die opayra seufzte. Dann umarmte sie die yarlara und stieg die Treppe hinab. Auch der Steinmetz und seine Helfer legten ihre Werkzeuge weg, verbeugten sich und machten sich gehorsam daran, dem Auftrag ihres Herrn zu gehorchen. Wenig später brach in der Burg hektische Betriebsamkeit aus. Es war keine Panik zu spüren, aber bedrückte Eile.

Die yarlara wechselte einen traurigen Blick mit Moréaval.

„Nein”, sagte sie, bevor er es aussprach. „Ich muss und werde es tun. Wir bleiben beisammen.”

Er nickte und beobachtete, wie sie den Opal in das von den Männern geschlagene Loch in der Mauer legte. Dann zogen sie sich unter den Torvorsprung der Tür zurück, der ein klein wenig Schutz vor dem Sand bot, und umarmten einander innig.