Wie um Siledaús Worte zu unterstreichen, zerrissen ein Blitz und ein gleichzeitiger Donner das tosende Gewitter, so ohrenbetäubend und grell, dass die beiden reiterlosen Einhörner scheuten, vom Turm aufflatterten und in der Dunkelheit verschwanden wie übergroße, aufgeschreckte Vögel. Vielleicht brachten sie sich damit in Sicherheit. Das Kind Advon schaute dem seinen bestürzt nach, Cýelú nahm es hin. Bei dem, was sich hier zutrug, konnte ihm sein Reittier ohnehin nicht beistehen.

„Was soll das heißen?”, fragte Elosál, die als Erste wagte, das Schweigen zu brechen. „Was heißt, du hast nichts damit zu tun?”

Siledaú, oder wie auch immer man das bezeichnen wollte, das sie in diesem Moment tatsächlich war, grinste mit boshafter Belustigung. „Genau das heißt es, was ich sage. Ich hatte Vorbereitungen getroffen, die Chaosgeister auf einem verborgenen Weg aus der Verbannung jenseits des Weltenspiels zu führen, um die Schlacht von damals endlich zu beenden. Aber dass Himmel und Erde sich so toll gebären, das entzieht sich meiner Kontrolle. Auch, wenn es mit sehr zupasskommt, so, wie die Dinge sich darstellen. Möglicherweise zeiht mir das Schicksal damit Beifall. Aber willentlich dazu geleistet habe ich nichts. Es ist ein netter Zufall.”

„Das ist doch unmöglich!”, rief Cýelú aus.

„Ihr seid drollig”, kicherte die Alte. „Die mächtigen Magier trauen es also einer alten unkundigen Frau zu, Himmel und Erde aus dem Gleichgewicht zu bringen? Nein, ihr Tölpel! Was immer hier mit den Elementen spielt, tut es auf eigene Rechnung.”

Yalomiro griff mit der freien Hand zu mir hinüber und nahm mir die Tasche von der Schulter, die ich die ganze Zeit für ihn gehütet hatte. Ohne den Blick von Siledaú abzuwenden, hängte er sie sich selbst wieder um. Ich schielte zu ihm hinüber und erschrak. Aschfahl war sein Gesicht, vor Entsetzen? Seine maghiscal glomm wie ein ersterbendes Flämmchen. Sie würde nicht verlöschen, aber woher sollte er hier und jetzt neue Kraft schöpfen? Und was wolle er jetzt mit seinen Sachen? Die Geige war in der Tasche, das wusste ich natürlich, aber was nützte sie ihm jetzt?

„Wie hast du es fertiggebracht, die verbannten Chaosgeister unter unseren Augen aus der Tiefe des Chaos ins Weltenspiel zu heben?”, wollte Cýelú wissen. „Wo sind sie? Und wie viele mögen es sein?”

„Wie viele hast du denn zu Gesicht bekommen?”, fragte Siledaú. „Und wie viel Kraft hat es euch gekostet, mit dem Leben davon zu kommen?”

„Einen”, gab der Goldene zu. „Und er hat uns nicht bekommen.”

Die Alte grinste. Das konnte alles Mögliche bedeuten.

„Papa”, kam es von Advon, der immer noch die Nähe seiner Mutter suchte und so dicht bei ihr stand wie möglich, ohne sie zu berühren. „Es war mindestens ein halbes Dutzend, dem wir entkommen sind.”

„Es dürften zwischenzeitlich deutlich mehr geworden sein”, sagte Siledaú. „Ich frage mich, wie ihr all diese Ungeheuer wieder in Chaos zurückjagen wolltet, nun, da eure Magie zu Neige geht. Es kann nicht mehr lange dauern, und sie werden Aurópéa erreichen. Vielleicht stehen sie schon vor den Toren, nachdem der báchorkor sie viel zu früh entfesselt hat!”

„Galéon hat das Monster nicht losgebunden!”, empörte Dýamirée sich. „Wir haben Galéon losgebunden, und dann sind sie aus dem Sand gekommen!”

„Lass es gut sein”, mahnte der báchorkor. „Obwohl es für dich wohl eine Überraschung gewesen sein dürfte, dass die Kinder überhaupt noch etwas zum Losbinden vorgefunden haben, nicht wahr?”

Siledaú fuhr zu ihm herum. „Kerl! Ja, damit habe ich nicht gerechnet, das ist wahr. Aber konnte ich wissen, dass sich selbst das Chaos vor dir ekelt?”

„Warum tust du das, Ovidáol?”, erkundigte Yalomiro sich müde. „Warum hast du es das erste Mal getan, und warum versuchst du es erneut?”

„Warum? Weil einer es tun musste, Yalomiro Lagoscyre. Hat Askýn, dieser widerliche Emporkömmling, denn niemals erzählt, was alldem vorangegangen war?”

„Doch”, sagte Yalomiro. „Aber ich will es von dir hören. Wir alle wollen wissen, wie es sich von deiner Warte aus dargestellt hat.”

„War es das Widerwesen?”, hörte ich mich sagen. Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, mich in die Sache einzubringen. Immerhin hatte ich doch von allen Anwesenden am wenigsten Ahnung davon, was es wirklich mit den Chaosgeistern auf sich hatte. Vielleicht wollte ich nicht einfach schweigend dabei stehen, während sich um mich herum die Welt vermengte, als sei sie in eine Rührmaschine geraten. Ich stand zwischenzeitlich fast knöcheltief im Sand, spürte jedes winzige Steinchen, jeden muffigen Regentropfen, der mit unter die Kleidung geraten war und mein Haar in nasse Strähnen legte. Immer wenn das Gewitter aufleuchtete, völlig beliebig in der Relation zu den Donnerschlägen, war zu erkennen, dass sogar das Gebäude selbst von einer Sandschicht überzogen war, die daran festzubacken schien. Der Cielástel glich mehr und mehr einer riesigen Sandburg. Ob Pataghíus Heiligtum darunter ebenso zerbrechlich wurde?

Ob derweil im Boscargén etwas Ähnliches mit dem Etaímalon geschah? Konnte der Schutz, den Yalomiro gewebt hatte, bevor wir uns auf den Weg gemacht hatte, so etwas aufhalten?

Versank womöglich die ganze Welt unter nassem Sand, während wir hier herumstanden und nicht recht wussten, was wir mit dieser alten Frau anfangen sollten?

Siledaú schaute zu mir hinüber. Sie wirkte … verwirrt.

„Das Widerwesen? Was soll das Widerwesen dabei zu tun gehabt haben?”

Mit so einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich entsann mich an jenes Erlebnis von zehn Jahren, an die Erkenntnis, dass der schreckliche Rotgewandete, dass Gor Lucegath die ganze Zeit unter dem Einfluss des Widerwesens gestanden hatte. Eine Marionette, die sich wahrscheinlich dessen bewusst gewesen war, welchen Preis sie für das zahlte, wozu sie sich hatte verführen lassen. Der Lichtwächter hatte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien können. Das hatte Yalomiro getan. Vielleicht wollte mir nicht in den Kopf, dass ein Schattensänger aus eigenem Antrieb etwas so abgrundtief Böses und Wahnsinniges getan hatte wie Ovidáol Etaímalar, ohne dass das Widerwesen darin eine Rolle spielte. Aber das konnte ich so nicht zugeben.

„Weil … wie kann es sein, dass der Verfluchte über Kreaturen gebieten konnte, die das Widerwesen erschaffen hat? Wieso hat es das … na ja … erlaubt?”

Nun grinste Siledaú wieder. „Deine hýardora ist ziemlich dumm”, ließ sie Yalomiro unverhohlen wissen. „Kein Wunder, dass sie auf dich hereingefallen ist. Kein Wunder, dass es mir unseresgleichen so weit herunter gekommen ist, dass schmutziger unkundiger Unflat dabei herauskommt!”

Ich zuckte zusammen. Die Bosheit in ihren Worten traf mich bis ins Herz.

„Meine Mama ist nicht dumm!”, sagte Dýamirée empört.

Ich legte den Finger an die Lippen, um ihr zu zeigen, dass sie sich einen Moment gedulden sollte. Zum Glück verstand Dýamirée noch nicht, was da gerade über sie gesagt wurde. Sie schaute sich fragend nach mir um, so wie sie es immer tat, wenn sie etwas erklärt haben wollte. Auch meine Tochter war zwischenzeitlich wie paniert vom Sand.

„Offenbar”, erwiderte Yalomiro, „kam dir der Unflat auf Seiten der arcaval’ay ganz zupass”, sagte er und fügte hinzu: „Vergebt mir, Meisterin Elosál, Meister Cýelú. Ihr wisst, dass das nicht meine Sprache ist.”

„Ein Freudentag muss Advons Geburt für sie gewesen sein”, sagte Cýelú Irísolor grimmig. „Eine unverhoffte Möglichkeit, sich der Macht zu nähern, die der Verfluchte verloren hatte.”

Nun blickte der Junge fragend zu der fajía auf. Elosál strich ihm Sand aus dem Haar.

„Bitte”, sagte sie zu ihm. „Geh hinein, Advon. Nimm deine Freundin mit. In Pataghíus Saal seid ihr geborgen.”

„Ja”, stimmte Siledaú spöttisch zu. „Geht uns aus dem Weg. Was könnte euch beiden alles zustoßen, wenn der Cielástel unter dem Sand und Regen zusammenbricht? Wenn die Unkundigen in ihrer Wut die Burg erstürmen und leichtes Spiel haben mit der Magie, die ihre Kraft verloren hat?”

„Unkundige? Wieso jetzt die Unkundigen?”

„Nun, was denkst du, Elosál, was geschehen wird? Denkst du etwa, die Unkundigen hätten all das hier in Aurópéa noch nicht bemerkt? Denkst du nicht, sie kämen auf den Einfall, unter diesen besonderen Umständen herausfinden zu wollen, warum ihr es nicht verhindert? Spätestens, wenn die ersten Chaosgeister die Stadt erreicht haben, werden sie euch zur Verantwortung ziehen und nicht sehr erfreut sein über das, was sie vorfinden.”

Die fajía wechselte einen hoffnungslosen Blick mit dem Goldenen. Yalomiro bewegte nachdenklich den Stab in seiner Hand und trat einen Schritt vor. Siledaús Blick blieb geradezu an dem zerbrochenen Kristall kleben.

„Wir haben die Zugbrücke geschlossen”, brachte sich der báchorkor in Erinnerung. Er wirkte befremdlich ruhig. Seine Gelassenheit hatte etwas zutiefst Verstörendes an sich, kam mir merkwürdig vertraut vor. „Wenn das die Chaosgeister nicht abhält, denn doch die Unkundigen, die auf die Idee kommen könnten, den Cielástel in ihrer Empörung zu stürmen.” Er schüttelte sich Sand von der Kleidung und fügte an Elosál gewandt hinzu: „Ihr solltet nicht zögern, solange Ihr noch könnt.”

Die fajía senkte den Blick. Dann tat sie etwas Überraschendes. Sie kniete sich zu dem Jungen nieder und umarmte ihn erneut, aber nicht innig und erleichtert wie zuvor. Es sah aus wie ein Abschied. Advon in ihrem Arm wurde ganz starr. Dann tastete er sacht nach ihrem Gesicht. Vielleicht redete sie ohne Stimme zu ihm.

„Mama!”, sagte er erschreckt.

„Elosál!”, kam es bestürzt von Cýelú Irísolor. Er machte eine Bewegung, als wolle er zu Elosál hinüber stürmen, aber dann hätte er seine Wächterpose vor Siledaú aufgeben müssen. Fast vorwurfsvoll schaute er zu Yalomiro hin, als erwarte er von ihm Hilfe, oder zumindest einen guten Rat.

Yalomiro nickte ihm zu. Dann hörte ich seine Gedankenstimme.

Du bist an der Reihe, Salghiára.

Was?

Der Schlüssel.

Der Schlüssel. Ich tastete danach und spürte das Werkzeug nach wie vor unter meiner Kleidung.

Nein, sagte ich lautlos, als ich ahnte, was er von mir verlangte.

Du hast es mir versprochen!

Nicht ohne dich!

Mir und dir kann nichts geschehen, das weißt du doch!

Die Chaosgeister könnten dich aus dem Weltenspiel zerren!

Noch sind sie nicht hier. Aber die fajía ist in Gefahr. Und der Goldene … nun, wir werden sehen. Die Kinder aber, den Kindern darf nichts zustoßen.

Ich lass dich nicht allein!

Aber Yalomiro ließ sich nicht auf mein Zaudern ein. Er neigte sich hinab. „Mein kleiner Stern!”

Dýamirée hatte wohl nur darauf gewartet. Kaum dass Yalomiro sie gerufen hatte, kam Bewegung in sie. Siledaú wollte sie festhalten, aber das Schwert des Goldenen war ihr im Weg. Dýamirée schlüpfte darunter hindurch. Endlich rannte sie die wenigen Schritte zu uns hinüber. Sie flog ihm an den Hals und umschlang ihn. Solange er den Stab hielt, konnte er selbst sie nicht umarmen, aber sich sah, wie sie ihre Stirn an die seine schmiegte. „Papa! Mama! Ich hab solche Angst gehabt!”, brachte sie hervor, schaute zu mir hoch und steckte ihre Arme zu mir. „Mama!”

„Dýamirée!” Ich konnte nicht anders. Ich hob sie auf und drückte sie fest an mich. Erleichtert schmiegte sie sich an, und es war, als lüftete sich eine schwere Last von meinem Herzen. Da war sie, so klein und zart und ich konnte ihr Herz fest pochen spüren. Meine Tochter, mein Kind. Hier, angesichts der schlimmen Vergangenheit, des aus dem Gleichgewicht geratenen Wetters und entfesselter Chaosgeister.

„Advon Irísolor!”

Der Junge wandte sich nicht von seiner Mutter ab, aber er hatte gehört, dass Yalomiro ihn gerufen hatte. Sein Körper spannte sich.

„Geh mit meiner hýardora“, rief Yalomiro gegen das Gewitterbrausen an. „Bring sie in dein Schulzimmer! Schnell!”

„Aber …”

„Advon!” Cýelú Irísolor schien keine Einwände zu haben. „Tu, was der Schwarzmantel sagt. Sei galant und zeige den Damen den Weg!”

„Aber …”

„Tu, was auch ich tun würde!”

Siledaú schaute konsterniert von einem zum anderen. Dass man sie nicht beachtete, passte ihr wohl nicht. Elosál erhob sich. Sanft schob sie Advon in unsere Richtung. „Geh. Geh, Advon. Hör auf den ehrenwerten Meister.”

Und du, sagte Yalomiro beschwörend zu mir, schnappst dir den Jungen und nimmst ihn mit!

Aber …

Den Kindern darf nichts zustoßen. Keinem von beidem! Und … dir auch nicht. Du musst für sie da sein.

Er neigte sich zu uns und berührte erst meine, dann Dýamirées Stirn mit der seinen. „Ich folge euch!”

„Und wenn nicht?”, entfuhr es mir ärgerlicher, als ich es meinte.

„Dann”, sagte er ernst, „ist es auch nicht mehr wichtig.”

„Papa!”, protestierte Dýamirée, aber da war auch schon Advon bei uns. Er hatte Tränen in seinen leuchtend blauen Augen, aber noch weinte er nicht. Ja, sicher hatte auch Elosál im Stillen mit ihm gesprochen. Nun stand sie aufrecht, gefasst und musterte Siledaú mit einem undurchschaubaren Goldblick. Wozu auch immer … sie war bereit.

„Kommt”, bat er höflich und zugleich unverkennbar bedrückt.. „Ich zeige euch den Weg.”

„Ich vertraue dir meine größten Schätze an”, sagte Yalomiro. „Hüte sie gut, Advon Irísolor.”

„Mach ich”, wisperte der Junge. „Wenn Ihr dafür meine Mama beschützt.”

„Und Galéon?”, fragte Dýamirée. „Wer beschützt den?”

„Ich glaube nicht, dass euer Freund beschützt werden muss. Im Gegenteil. Und jetzt rasch!”

Er wandte sich um, packte der Stab mit beiden Händen und hielt ihn Siledaú entgegen. Sie griff hastig danach. Aber er gab ihn ihr nicht.

„Kommt”, drängte Advon. „Ich muss schnell wieder hierher zurück!” Er riss sich von der Szene los und lief durch die Tür ins Innere des Cielástel. Ich versuchte, meinen Kopf auszuschalten, und eilte ihm nach, Dýamirée fest an mich gedrückt auf dem Arm. An dem, was die Magier nun zu regeln hatten, konnte ich nicht viel ändern. Vielleicht war es wirklich das Einzige, angemessene, machbare, was mir in diesem Moment zu tun übrig blieb, nämlich mit den Kindern zu fliehen und mich in der Sicherheit des Etaímalon zu verstecken, mit meiner Tochter und diesem Jungen, der im zuckenden Licht die Wendeltreppe hinauf jagte, geradewegs zurück in den Saal.

„Advon!”, rief ich ihm nach und setzte Dýamirée ab. „Advon Irísolor!”

„Das ist nicht der Weg ins Schulzimmer”, erklärte Dýamirée. „Das ist in einem ganz anderen Turm!”

Ich schaute die Treppe hinauf, hinunter und zurück zur Tür. Was draußen geredet wurde, verstand ich nicht mehr, denn der Turm fing den Wind und verwandelte ihn in ein furchtbares Brausen. Und nun? Sollte ich den Jungen seinem Schicksal überlassen und mit meiner Tochter allein fliehen?

„Du kennst den Weg zum Schulzimmer?”, fragte ich Dýamirée.

„Von hier aus nicht.”

„Advon Irísolor!” Was für ein ungehorsamer Trotzkopf! „Advon!”

„Worauf wartet Ihr?”, kam die Antwort. „Kommt hier herauf!”

Ich seufzte ärgerlich, aber Dýamirée zögerte nicht, dem Ruf ihres neuen Freundes zu folgen. Sie eilte die Wendeltreppe nach oben.

***

„Willst du gar nicht versuchen, sie aufzuhalten?”, fragte Elosál. Ihre Stimme klang hart, bitter. Aber sie hatte die Kraft, dem Wesen gegenüberzustehen, das erneut aus ihrer Vergangenheit emporgestiegen und seine Kreaturen mit sich gebracht hatte. Bei den Mächten, bei Pataghíu selbst, wie hatte sie sich so täuschen lassen können? Mit welcher undenkbaren Tücke war der Schatten, den der Verfluchte hinterlassen hatte, zu zurückgekehrt, dass sie ihn in ihrem eigenen Haus nicht bemerkt hatte?

Und wie war es seiner anderen Hälfte gelungen, in Aurópéa zu den sinoray zu stoßen, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hatte?

List, Intelligenz und Beredsamkeit. All das hatte Ovidáol Etaímalar sich erhalten können, selbst als seine Magie erlegen war. Und all die Bücher, die sie im Schulzimmer entdeckt hatte? Die die vermeintliche alte Frau in und der in Aurópéa so gefürchtete Greis wohl mühsam über lange Zeit zusammengeklaubt hatten? Was hatten sie damit vorgehabt, wenn doch die Magie selbst dahin war?

„Wozu”, sagte Siledaú ebenso kalt. „Sollen sie doch laufen. Wozu die Mühe? Zwei kleine unkundige Bälger und ein unfähiges Weibsbild, an das alle Magie verschwendet ist, woher auch immer sie geklaubt wurde.” Sie wandte sich dem Schattensänger zu. „Wie viel Mühe hast du an sie verschwendet? Und was hat es dir gebracht, abgesehen dass du sie mit deinem verzogenen Auswurf auf die Flucht schickst?”

„Beleidige die meinen nur weiter”, sagte der Schattensänger, wütender als er es zeigte. „Und sage mir dann, welchen Grund ich haben sollte, dir den Stab dann noch zu überlassen!”

„Ganz einfach. Wer, wenn nicht ich, sollte die Macht dazu haben, die Chaosgeister davon abzuhalten, Aurópéa zu überrennen und dem Boden gleich zu machen? Und dann das nächste yarlmálon, und das nächste und das nächste? Vielleicht wird es eine Weile dauern, den Montazíel zu überqueren. Aber ich denke, es dürfte diesmal nicht länger dauern als zwei, drei Sommer, um einmal über das Weltenspiel zu ziehen und es zu korrigieren.”

Cýelú lachte laut auf. Elosál warf ihm einen betroffenen Blick zu. Oh, er ahnte nicht, wie ernst es der Alten … nein, dem Verfluchten diesmal war. Und diesmal waren sie schwach. Hier waren keine fünf fajíae und kein Heer von Menschenkriegern, die sich wehrten. Diesmal hatte der Verfluchte die Überraschung auf seiner Seite.

„Wie soll das zu sich gehen? Du hast keine Magie mehr, um die Chaosgeister zu zügeln! Du hast keine Magie mehr in dir!”

„Bist du dir da sicher, Cýelú Irísolor?”

Cýelú verstummte. Ihr Selbstbewusstsein verunsicherte ihn.

„Für die Chaosgeister”, ließ sich der fremde junge Mann vernehmen, „ist dieser Stab vielleicht wie das, was für einen Hund die Rute ist, mit der ein grausamer Mensch ihn geprügelt hat. Chaosgeister scheinen nicht besonders klug zu sein. Zumindest nicht die, die das Widerwesen geschaffen hat. Die minderen Chaosgeister, die mit in an die Grenzen des Weltenspiels gezogen wurden, die mögen das anders sehen. Wie auch immer: Offenbar glaubt sie, die Biester mit einer leeren Drohung lenken zu können.”

„Die minderen Chaosgeister?”, fragte Elosál, ohne die Alte aus den Augen zu lassen. „Was ist nun wieder damit?”

„Das nun zu erklären würde zu weit führen. Aber ihr solltet wissen, dass ich mich in diese Sache einmische, um der Unglücklichen willen, die im Chaos gefangen sind.”

Cýelú und der Schattensänger warfen dem jungen Mann ratlose Blicke zu. Der hob wieder den Silberstern. Die Augen der alten Frau blitzten ihn zornig an. „Verfluchter Dieb!”

„Es war nicht besonders gut versteckt. Und dir war nichts Besseres eingefallen, als mich an einen Ort zu bringen, von dem aus Zugang zu deinem Versteck war. Erstaunlich, dass du deine Gehilfen nicht angewiesen hat, zu prüfen, was ich möglicherweise gefunden habe.”

„Ja. Bedauerlich. Wenn mich in der Nacht nicht so vieles über die Maßen abgelenkt hätte, wäre es anders gegangen. Aber es ist geschehen. Und nun, Schattensänger, gib mir das Werkzeug!”

Der camata’ay hielt den Stab mit beiden Händen waagerecht vor sich. Die Alte wollte danach greifen, doch ihr Blick verharrte zugleich weiterhin auf dem Silberstern, den der sonderbare báchorkor in der Hand hielt.

„Der Stab nützt dir wohl nichts ohne den Stern”, sagte Cýelú. „Und nun weißt du nicht, was du dir zuerst holen sollst?”

„Ich muss mir nichts holen. Ihr müsst es mir geben. Keiner von euch kann die Chaosgeister lenken.”

„Nein”, sagte Elosál. „Nicht lenken. Wir werden sie vertreiben und versiegeln, wie wir es schon einmal getan haben.”

„Dazu”, wandte Siledaú ein, „reicht deine Kraft nicht mehr. Damals wart ihr zu fünft.”

„Damals”, hielt die fajía ihr entgegen, „waren wir allein.” Sie nickte dem camat’ay und dem báchorkor zu und schickte Cýelú einen innigen, liebevollen Gedanken.

„Nein”, wisperte der Goldene. „Nein, Geliebte. Nicht. Wir werden es anders bewirken.”

Elosál schüttelte den Kopf. Nun nicht nachdenken. Nun nicht mehr zögern. Die Menschen, das Weltenspiel, das alles war in Gefahr. Siledaú selbst war unerheblich. Sie war der Schatten eines Schattensängers, bestenfalls noch. Mit dem mochten die anderen fertig werden. Die Schattensängerin würde Advon beschützen, selbst wenn ihr hýardor dies nicht überleben sollte.. Die Kinder gehörten zusammen. Warum sonst sollten die Mächte es gefügt haben, dass Advon ihnen erst nach so langer Zeit geboren worden war? Es musste etwas sein, das die Mächte geplant hatten, ein neuer Plan im Weltenspiel, etwas, das in einigen Zügen seine Wirkung zeigen würde. Eine Zukunft, die sie – vielleicht – nicht mehr miterleben würde.

Vielleicht. Vielleicht waren die Mächte mit ihnen. Vielleicht würde es gut ausgehen.

Elosál befahl sich im Stillen Pataghíu und entfaltete ihre maghiscal zur vollen Größe, Hitze und Pracht.

Cýelú, dachte sie. Cýelú, ich liebe dich. Ich erwarte dich hinter den Träumen!