
Die Einhörner im Stall wurden nervös. Ihre Unruhe übertrug sich rasch auch auf die Pferde und Maultiere. So mischte sich in das sonderbare Geräusch des auf das Dach regnenden Sandes und das Grollen aus den Wolken nun noch aufgeregtes Schnauben, Scharren und ab und zu das fremdartige Geräusch, welches die großen geflügelten Tiere statt einem Wiehern von sich gaben.
Der maedlor und der Maultierführer schauten hinauf zum Turm, wo sich etwas zuzutragen schien. Es war so, als ob dort oben, am höchsten Punkt des Cielástel, andersartiges Licht flackerte, das nicht zu dem stakkatoartigen Gewitter gehörte. Beide Männer schwiegen betreten. In beiden Köpfen mochten sich besorgte, verzagte Gedankengänge abspielen. Der Maultierführer war im Geist vielleicht bei seiner Familie in Aurópéa, die in großer Sorge um ihn, aber hoffentlich in Sicherheit sein mochten. Ob der maedlor Familie oder Freunde, vielleicht eine hýardora in Aurópéa hatte, wusste Saháalír nicht. Es war auch nicht der richtige Zeitpunkt, ihn danach zu fragen. Der junge Mann war zu verstört und nestelte unablässig fahrig an seinen Gewändern. Schon seit einer ganzen Weile hatte er keine hochtrabenden Bemerkungen gemacht.
Nun, wahrscheinlich hatte er sich auch nicht träumen lassen, diese Nacht zusammen mit zwei sinoray und einem einfachen Sänftenknecht im Heiligtum Pataghíus zu verbringen, wenn auch nur in einem Stall.
Die sinora saß neben dem alten Mann auf ihrem Schemel und hatte die Augen geschlossen. Das unnatürliche Flackern beängstigte sie. Aber sie jammerte nicht, und falls sie weinte, dann so diskret und leise, dass er es nicht bemerkte. Sehen konnte er ohnehin nicht, nicht im dunklen Stall und nicht mit seinen halb erblindeten Augen.
„Mach dir keine Gedanken, Liebe”, versuchte er, sie aufzumuntern. „Wir sind hier sicher. Der Knabe hätte uns nicht irgendwo gelassen, wo wir in Gefahr wären.”
„Es ist ewig her, dass ich in einem Stall gewesen bin”, sagte sie nach einer Weile leise. „Und dann gleich hier, wo die schönen geflügelten Rösser sind.” Und dann, wieder einen Moment später: „Als ich ein junges Mädchen war und auf dem Land wohnte, hatte ich ein schönes Pferd, ein hellbraunes. Wie oft bin ich mit meinen Freundinnen um die Wette geritten. Aber dann bin ich mit meinem hýardor in die Stadt gezogen. Da war kein Platz mehr für solche Vergnügungen. Hattest du einmal ein Pferd, Saháalír?”
„Natürlich. Als ich ein junger Mann war, bin ich lange herumgereist. Ich war auf den großen Schulen. Ohne Pferd wäre ich nicht weit gekommen.”
„Was ist aus ihm geworden?”
„Ich habe es verkaufen müssen, um mein Studium in Ivaál zu finanzieren. Schade. Ein wohlhabender vendyr hat ihn genommen.”
„Wir hätten gemeinsam ausreiten sollen”, redete sie nachdenklich weiter. „Ich wette, mein Pferd war schneller als deines.”
„Liebe … als wir einander kennenlernten, mussten meine Knechte mich schon in den Sattel heben und führen. Ich wäre eine Gefahr für jedermann zu Fuß gewesen.”
Sie kicherte und verstummte dann wieder. Ob sie an ihr schönes Damenpferd dachte? Oder an all die verpassten Gelegenheiten?
Zeit, dachte Saháalír bedauernd, kehrt nicht zurück. Ich hatte reichlich davon, und doch nicht genug. Ob das der richtige Moment ist? Wann, wenn nicht jetzt?
Saháalír tastete vorsichtig neben sich. Ohne hinzuschauen, ohne etwas sehen zu können, suchte er nach ihrer Hand und legte die seine darauf. Wie zerbrechlich, wie dünn und runzelig ihre Finger waren, kaum noch, dass ihre Ringe sich darauf hielten.
Sie ließ es geschehen, entzog ihm ihre Hand nicht. Stattdessen schmiegte sie wie beiläufig, ihre Wange an seinem Arm. Sie lehnte sich an ihn, und wäre ihr Schemel etwas höher gewesen, vielleicht hätte er sogar ihre Stirn gespürt.
Was für eine schöne, wohltuende Spur von Wärme in dieser schrecklichen Nacht. Ach, mochte dieser Augenblick doch so lange anhalten, bis die Gefahr gebannt war.
Und dann war es aus mit der Stille. Der maedlor und der Maultierführer wichen in den Vorraum zurück, wurden von hochgewachsenen, fahlweißen Gestalten zurückgedrängt. Die Wesen brachten einen eigenartigen Schein mit sich, so als leuchteten sie aus sich heraus wie erlöschende Kerzenflammen. Im ersten Moment befürchtete der sinor, es handele sich um Chaosgeister, aber dann war recht schnell klar, dass es die Bewohner der Burg waren, die zu ihren Rössern eilten.
„Wer seid Ihr?”, wunderte sich einer im Vorbeirennen.
„Ich bin der Stadtälteste von Aurópéa!”, antwortete der sinor und fragte sich kurz erschrocken, ob er doch unbefugt hier war. „Ich bin Saháalír …”
„Gut”, sagte ein anderer der geisterbleichen Männer. „Bleibt hier beieinander, Ihr und Euer Gefolge, und uns aus dem Weg. Wir haben zu tun.”
Die arcaval’ay, denn niemand anderes konnte es sein, griffen sich aus der Sattelkammer Zaum und Zügel und legten diese in Windeseile ihren jeweiligen Einhörnern an. Niemand fragte nach den fremden Tieren im Stall, niemand verlangte nach einer Erklärung für die Anwesenheit der vier Menschen. Saháalír verfolgte das Treiben mit Entsetzen. Wenn die Magier es so eilig hatten und sich ihre Erscheinung so sonderbar verändert hatte, dann ging hier gerade etwas sehr Ernstes vor. Vielleicht waren die Chaosgeister, von denen die Kinder berichtet hatten, bereits nahe.
Die sinora griff nun auch nach seiner Hand und hielt sie fest. Der maedlor und der Maultierführer drängten sich ganz in den hintersten Winkel des Vorraums, um niemandem in der Quere zu sein. Kein Laut war von den beiden zu hören.
Fast genauso schnell, wie sie gekommen waren, hatten die Ritter ihre Einhörner gesattelt und aufgezäumt. Einer nach dem anderen führte sein Ross ins Freie, stieg auf und ritt hinein in den Sandregen, hinauf in die Luft. Kein weiteres Wort war gefallen. Nur das verbliebene, goldene Einhorn schien verwirrt über den Aufbruch seiner Artgenossen zu sein. Es rief mit gellender Stimme nach ihnen.
Der maedlor wagte sich zurück an die Tür und schaute hinaus. „Was machen sie?”, rief Saháalír. „Kannst du etwas sehen?”
„Sie kreisen”, antwortete der junge Mann, getraute sich sogar einen Schritt ins Freie. „Wie seltsam! Sie umfliegen die Burg in der Runde. Wie ein Reigentanz. Immer höher hinauf und um den großen Turm!”
„Warum?”
„Ich weiß nicht, Herrin! Vielleicht sehen sie von dort, aus welcher Richtung die Chaosgeister kommen!”
„Hoffentlich hält das Tor”, murmelte der Maultiermann. „Ich geh nach meinen Mulis schauen.” Damit ging er nach hinten in den Stall und blieb dort vorerst. Wahrscheinlich suchte er bei seinen Tieren Schutz.
„Sie kreisen immer schneller”, berichtete der maedlor. „Sie galoppieren! Aber sie bleiben über der Burg.”
„Vielleicht ist gar nichts in Sicht. Es ist viel zu dunkel.”
„Oder”, murmelte die sinora, „sie warten auf ein Zeichen. Auf einen Befehl.”
„Ein Befehl? Zum Angriff vielleicht?”
„Möglich. Wie viele sind es in der Luft? Ich habe sie nicht zählen können in dem Durcheinander.”
„Sieben”, kam die Antwort. Wahrscheinlich war es nicht ganz einfach, die fahlen Reiter zu zählen. Und sicherlich würden sie nicht eher angreifen, als dass ihr Anführer sich ihnen hinzugesellte. Denn der, der fehlte, das war ausgerechnet der Großmeister mit dem perlenweißen Reittier.
***
Kíaná von Wijdlant erhoffte sich, zu träumen, ein gewaltsamer, brutaler Traum, aber doch einer, in dem sie ertragen konnte, was mit ihr geschah, ohne vor Entsetzen den Verstand zu verlieren.
Das Wesen hockte auf ihr, hatte knochendürre Finger um ihren Hals gelegt und versuchte, ihr den Hals zuzudrücken. Das Gesicht, in das die wehrlose Frau dabei blickte, war entsetzlich, verzerrt und von einer ganz unnatürlichen Farbe, grünlichgrau wie Schimmel auf Brot. Langes Haar, das aussah wie sich zersetzender Tang, fiel dem Wesen ins Gesicht und berührte dabei Kíanás Wangen. Die Kreatur gab röchelnde Laute von sich und würgte die teiranda, deren abwehrende Hände Arme und eine Brust zu packen bekamen, die sich anfühlte sie ein aufgegangener Hefeteig.
Dann zuckte etwas aus der Brust des Wesens hervor, begleitet von einem Schwall stinkender Flüssigkeit. Es war die Spitze eines Dolches.
Der Griff des Monsters lockerte sich. Es warf einen verblüfften Blick auf die Klinge, die es durchbohrt hatte, stand von Kíaná auf und wandte sich um. Asgaý, der den Dolch erschrocken losgelassen hatte, wich mit entsetzt aufgerissenen Augen zurück. Unbeeindruckt von dem glatten Durchstich beäugte das Wesen seinen Angreifer kurz und tappte dann auf ihn zu.
Und das, so erkannte Kíaná von Wijdlant nun, war nur ein winziger Ausschnitt der irrsinnigen Szene, die weiterhin um sie tobte.
Sieben oder acht vage menschenähnliche Ungeheuer hatten sich aus dem Sand erhoben und auf die umherirrende Schar der Unkundigen gestürzt. Abgesehen von blanker Mordlust scheinen sie keinen Antrieb dafür zu haben, aber das reichte aus. Die Wesen sahen völlig unterschiedlich aus; neben dem Aufgedunsenen gab es eines, das völlig verkohlt zu sein schien und ein weiteres, das aus weniger Fleisch als frei sichtbaren Knochen bestand.
Tíjnjes Stimme schrillte scharf durch die sandgefüllte Leere. Kíaná konnte es nachfühlen. Wenn sie selbst schon so entsetzt war, wie mussten die Kreaturen erst auf das kleine Kind wirken?
Aber niemand hatte gerade die Zeit, sich um das Mädchen zu kümmern. Die Männer hatten den ersten Schreck wohl überwunden, natürlich, es waren gestandene Ritter, deren Aufgabe es war, Gefahren entgegenzutreten und sich nicht von Entsetzen zu kopfloser Panik treiben zu lassen. Allerdings waren die Herren nicht darauf vorbereitet, einen Kampf führen zu müssen. Zum Teil waren sie nicht einmal ordentlich gerüstet und bewaffnet. Nur Altabete, Grootplen und Emberbey hatten ihre Schwerter bei sich; Letzterer war durch die Brandwunde an seiner Hand darin behindert, das seine richtig zu führen. Asgaý, der ohnehin nur selten innerhalb der Burg bewaffnet herumlief, hatte seinen der Form halber getragenen Dolch gerade an das ekelhafte Wesen verloren. Selbst Althopian war in seiner Hausgewandung, hatte er doch in der Aufregung, seinen Sohn befreien zu wollen, sich nicht die Zeit genommen, sein Eisenzeug anzulegen. Allerdings hatte Altabete ihm geistesgegenwärtig die Axt überlassen, mit der der Ritter nun unter den Wesen wütete. Das kleinere Beil hatte er fallen gelassen, woraufhin Láas es erbeutet und mit erstaunlicher Kaltblütigkeit dem verbrannten Wesen den halben Fuß abgeschlagen hatte. Für Jándris war nichts anderes übrig als sein hölzernes Knappenschwert, das er mit wütenden Kampfschreien dem Halbskelett vor den fleischlosen Brustkorb hieb und es auf Altabete zutrieb, der die Gelegenheit nutzte und einen gezielten Streich nach dem Hals des Wesens führte. Es zu enthaupten gelang ihm jedoch nicht. Das Schwert fuhr durch das verrottete Material des Körpers und schlug eine Wunde, die einen Menschen gefällt hätte.
Kíaná tauchte, ohne daran zu denken, dass einer der Herren sie treffen könne, in das Getümmel hinein und riss Tíjnje an sich. Die kleinen Finger des Mädchens gruben sich schmerzhaft in ihre Arme.
„Mama”, schrie die Kleine. „Mama!”
„Scht… ruhig, Tíjnje!”, beschwor die teirandanja sie über das viel zu leise Klirren der verfügbaren Waffen hinweg. „Keine Angst! Dein Opa macht die schlimmen Monster weg!”
Tatsächlich schlug Grootplen sich nicht schlecht. In Angesicht seines Alters und des Bauches, den er in den letzten Sommern angesetzt hatte, bewegte der Ritter sich immer noch geschmeidig und zielstrebig. Er hatte mit einem Wesen zu kämpfen, das gewandter und flinker zu sein schien als die anderen und deutlich weniger abscheulich aussah als die anderen. Nun, wenn man davon absah, dass es ein Gesicht hatte, das so verzerrt aussah, als sei es geschmolzen und wieder erstarrt.
Das Schimmelwesen also hob seine Hände und wankte auf Asgaý zu, der mit schreckensbleichem Gesicht zurückwich. Die Gestik des Monsters sah lächerlich aus, zumindest dachte Kíaná das. Es bewegte sich wie ein Erwachsener, der auf spaßige Weise ein kleines Kind sich fürchten machen wollte. Doch beim teirand hatte es tatsächlich Erfolg damit, denn er war entwaffnet.
„Bleib weg!”, versuchte Asgaý von Spagor es mit herrschaftlicher Autorität. „Verzieht Euch dahin, woher ihr kamt!”
Doch das Monster verstand ihn entweder nicht oder hatte nicht im Sinn, dem Menschen zu gehorchen. Es taumelte geradewegs auf ihn zu und wurde erst durch Althopian gebremst, der ihm zuerst die Axt in den Bauch hieb und dann, als es fiel, den Dolch aus dem Körper zog und seinem Herrn zuwarf. Allerdings hielt auch dies das Wesen nicht lange auf. Es gab einen wütenden, gurgelnden Laut von sich und wandte sich nun dem Ritter zu. Aber es griff nicht an. Keines griff mehr an. Sie zögerten, erstarrten und schienen zu horchen.
Und dann war es vorbei. Die Wesen ließen von den Menschen ab und rannten in alle Richtungen davon. Mit jedem Schritt, den sie sich entfernten, sanken sie tiefer in den Sand ein und verschwanden, als habe der Boden sie verschlungen.
Kíaná ließ sich zu Boden sinken und wiegte Tíjnje in ihren Armen. Das Kind starrte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Nach der Mutter schrie es nicht mehr.
Die Ritter lauerten noch einen Augenblick, bis sie sich wieder entspannten. Der gesamte Kampf hatte keine dreißig Herzschläge gedauert.
„Ist jemand ernsthaft verletzt?”, erkundigte sich Emberbey. Die Mächte, das wurde Kíaná nun ganz klar, hatten den alten Mann vorsätzlich mit solcher Gefühlshärte versehen, damit er auch inmitten des Wahnsinns noch klar denken konnte. „Majestät? Seid Ihr unversehrt?”
„Ja”, röchelte sie. Ihr Hals schmerzte; sie spürte noch ganz genau, wo die Finger des Monsters zugedrückt hatten „Es geht schon. Asgaý hat es schnell genug abgewehrt.”
„Das war ein tapferer Angriff, Herr”, lobte Althopian atemlos. „Wer hätte gedacht, dass ich so etwas einmal von Euch zu sehen bekomme.”
„Danke”, sagte Asgaý säuerlich und kniete besorgt neben ihr nieder. „Alles in Ordnung, Geliebte?”
„Mir geht es gut. Aber Tíjnje …”
„Komm zu mir, mein Kind!” Grootplen nahm das Mädchen hoch. „Opa ist bei dir.”
„Nicht weinen, Tíjnje”, tröstete nun auch Láas. „Vor solchen Biestern wäre ich auch erschrocken!”
„Du bist erschrocken”, kam es trocken von Jándris, der mit angeekeltem Gesicht den abgetrennten halben Fuß begutachtete. „Was waren das für Dinger?”
„Wüsste ich es nicht besser”, sagte Altabete, „dann würde ich denken, es seien Ausgeburten des Chaos gewesen.”
„Chaosgeister?”, fragte der teirand bestürzt. „Dann sind wir hier … aber wie?”
„Seltsame Chaosgeister”, meinte Grootplen und stocherte mit seinem Schwert nach dem halben Fuß, der noch in einem zerfledderten Strumpf steckte.
„Warum?”
„Ich weiß nicht, ob es Euch im Gewirr aufgefallen ist, Majestät. Aber diese Dinger … nun, wie soll ich es sagen. Sie sahen aus wie von einem gefräßigen Biest verdaut und ausgespuckt, aber zu einem gewissen Grad waren sie überraschend züchtig. Keines von ihnen war nackt.”
„Ja, und?”
„Wozu sollte ein Chaosgeist Kleidung tragen? Woher solche genommen haben?”
„Mindere Chaosgeister”, kam es Emberbey über die Lippen. „Bei den Mächten, wenn da doch etwas dran ist …” Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Kommt. Wir müssen weiter.”
„Wohin? Wenn das Chaosgeister waren, dann sind wir …” Althopian zügelte sich gerade noch, bevor er es aussprach, als er Tíjnjes verängstigen Blick auffing.
„Kommt”, forderte Emberbey nachdrücklich. „Wir sollten hier nicht bleiben. Sie kommen vielleicht mit Verstärkung zurück.”
„Darf ich das mitnehmen?”, fragte Jándris und tippte den Fuß an.
„Was willst du damit?”, fragte Láas angewidert.
„Vielleicht kann ich es einmal als Trophäe gebrauchen. Oder als Beweis, falls uns keiner glaubt.”
„Solange du es selbst trägst”, beendete Altabete das Gespräch. „Wohin wollt Ihr in der Leere, Emberbey? Lasst uns an Eurem Wissen teilhaben.”
Der alte Ritter warf ihm einen kühlen Blick zu und setzte sich in Bewegung. Kíaná folgte ihm als erste. Offenbar hatte der yarl zumindest ansatzweise einen Plan gefasst. Das war mehr, als alle anderen vorweisen konnten.
„Es ist denkbar, Majestät”, begann er, meinte aber die ganze Gruppe, „dass Ihr hier im Inland solche Geschichten seltener zu Ohren bekommt. Am Meer hält sich dagegen unter báchorkoray, alten Frauen und Seeleuten die Mär, dass es möglich ist, die Grenzen des Chaos zu überschreiten, wenn die Umstände es so fügen. Das Weltenspiel auf einem Weg zu verlassen, der nicht durch die Träume hindurch führt.”
„Ich weiß”, mischte Asgaý sich ein. „Diese Geschichten fand ich stets äußerst packend.”
„Ich hab Angst”, wisperte Tíjnje.
„Du musst keine Angst haben. Herr Alsgör erzählt uns nur ein Märchen”, versuchte Grootplen einen ziemlich widersinnigen Versuch, das Kind zu beruhigen. Angesichts des Erlebten war er wenig überzeugend damit.
„Wenn ich nun nur einmal annehme”, sagte Emberbey ungerührt, „es sei ein Fünkchen Wahrheit daran, dann waren die Wesen, die uns gerade attackiert hatten, vielleicht einst tatsächlich Unglückliche, die es aus Dummheit oder Fügung ins Chaos verschlagen hat. Keine unnatürlichen Kreaturen des Widerwesens, die im Chaos hausen und aus den Abfällen geformt sind, die die Mächte verwarfen.”
„Wie kommt Ihr darauf? Es könnten Chaosgeister sein, die uns irremachen wollen.”
Emberbey schüttelte den Kopf. „Nein, Junge. Ich flehe zu den Mächten, dass ich mich nicht täusche. Die Kreatur, gegen die ich kämpfte, trug jedenfalls Kleidung, die mir bekannt ist.”
Kíaná staunte. Auch die anderen scharten sich näher um den alten Mann.
„Ein Gewand”, fuhr Alsgör Emberbey fort, ohne stehenzubleiben, „wie es ein keptyen trägt, der für den teirand von Ovéstola ausfährt.”
„Wie könnt Ihr so sicher …”
„Meine hýardora, möge sie hinter den Träumen ihren Frieden haben und kein Leid mehr erdulden, kam von Ovéstola. Ich habe oft mit Seefahrern von dort verhandelt. Das Wappen an seinem Wams, silberne Wellen auf grünem Grund, sprang meinem Blick entgegen wie eine Katze aus einem Versteck.”
„Herr Alsgör”, sagte Althopian, „nun, wenn hier eine arme Seele aus Ovéstola sich zu nah ans Chaos gewagt hat, dann …”
„Dann muss es hier eine Stelle geben, an der der Rückweg zu bewältigen ist. Ein Durchschlupf, durch den wir entfliehen können.”
„Wie aufregend!”, rief Láas begeistert. „Ein Geheimgang!”
„Gut”, stimmte Altabete zu. „Dann lasst uns diese Hintertür suchen, solange wir unbehelligt sind. Führt Ihr uns an, Emberbey. Offenbar wisst Ihr um die Richtung.”
„Herr Alsgör”, sagte Asgaý von Spagor, „korrigiert mich, wenn ich mich irre. Aber müsste ein solcher Durchschlupf, wenn es ihn gibt und wir ihn finden, nicht geradewegs ins Meer führen?”
„Ja.”
„Aber dann werden wir ertrinken, sollten wir einen solchen Ausweg finden. Es ist nicht anzunehmen, dass Boote bereitstehen!”
„Das stimmt. Doch ich bevorzuge es, vom Meer verschlungen hinter die Träume zu gelangen, als hierzubleiben und über die Zeit ebenfalls zu einem minderen Chaosgeist zu werden.” Er drehte sich um und schloss: „Ihr müsst mir nicht folgen. Aber ihr werdet vergebens versuchen, mich umzustimmen.”
Alle waren stehen geblieben. Alsgör Emberbey wartete einen Moment, drehte sich um und stapfte weiter.
„Herr Alsgör!”, rief Kíaná ihm nach. „Vergesst Ihr nicht etwas?”
„Was sollte das sein?”
„Euer Sohn! Was ist mit Eurem Sohn?”
Der alte Mann zögerte. Dann ging er weiter.
„Nun gut”, sagte die teiranda erschüttert. „Dann trennen sich hier unsere Wege, denn ich werde nach meiner Tochter suchen.” Sie schaute sich um. Asgaý von Spagor nickte ihr zu. Natürlich. Er war ihr Vater. Er würde um jeden Preis nach Manjév suchen. Aber was war mit Altabete, Grootplen und den Kindern? Wenn sie nur die Wahl hatten zwischen dem freiwilligen Tod und der Leere voller Ungeheuer, was sollte sie ihnen raten? Was konnte sie erwarten?
Es war Tíjnje, die entschied. „Manjév weiß nichts von dem geheimen Weg”, sagte sie geistesabwesend an ihrem Daumen vorbei und kuschelte sich an ihren Großvater. „Und die Jungs auch nicht. Wir müssen ihnen sagen, dass wir ins Meer schwimmen können, oder? Wir suchen sie und gehen alle zusammen. Das tun wir doch, oder?”
„Herr Alsgör! Kommt zurück!”, rief Althopian. „Seid Ihr feige? Wollt Ihr Euch aus der Verantwortung für Euer Fleisch und Blut stehlen?”
Aber der alte Mann ließ sich nicht beirren. Müde und traurig wanderte er über den endlosen Sand fort und in das Nebellicht herein.
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