
„Wo ist der báchorkor?”, fragte die alte Frau fassungslos und senkte endlich ihren Griff. Dýamirée begann, mit den Füßen nach dem Rand des Simses zu hangeln, aber das gelang ihr nur mit den Zehenspitzen.
Advon runzelte seine Stirn.
„Woher weißt du, dass Galéon ein báchorkor ist?”
„Was geht hier vor, Advon? Wer ist Galéon?”, fragte Elosál verständnislos.
„Galéon ist unser Freund. Der sinor Úldaise wollte, dass die Chaosgeister ihn fressen, aber wir haben ihn befreit!”
„Und dann hat er die Ungeheuer aufgehalten, bis wir mit Farbenspiel wegfliegen konnten!”, ergänzte Dýamirée. Endlich stand sie aufrecht, aber nur eine Fingerbreite vom Abgrund entfernt.
Die fajía schaute fragend zu mir hinüber. Ich fühlte mich nach wie vor wie versteinert, hielt den Stab in der Hand und überlegte fieberhaft, wie ich meine Tochter von dieser schrecklichen Kante zu mir holen könnte. „Wisst Ihr etwas darüber?”, fragte sie. „Ist es ein geheimer Verbündeter von Euch?”
„Nein. Wir sind nur zu zweit”, versicherte ich.
„Siledaú!” Elosál wurde ungeduldig. „Wer ist dieser Galéon?”
„Ich bin Galéon”, mischte sich eine neue Stimme aus dem Dunst ein, der die Tür umwaberte.
Elosáls Strahlen verglomm schlagartig. Unter dem verbleibenden Lichtgewitter am Himmel kam ein junger Mann, mit zerzauster Lockenmähne und zerlumpter Kleidung die Treppe empor, wo gerade noch die sieben Ritter gestanden hatten. Die waren, zu meinem Entsetzen, allerdings fort. War Elosáls feuriger Auftritt etwa ein primitiver, aber wirkungsvoller Nebeltrick gewesen, damit die Sieben sich lautlos entfernen konnten?
Das Auftauchen des Unkundigen sich Siledaú völlig aus dem Konzept zu bringen. Sie starrte ihn an, als sei ihr ein Geist erschienen. „Du!”
„Galéon!” Dýamirée jubelte. Advon seufzte erleichtert auf. Ich war verwirrt. Die Kinder schienen zu glauben, mit dem Neuankömmling sei Rettung in Sicht. Ich fand, es sei ein schlechter Tausch gegen die sieben Magier.
„Wer bist du?”, fragte Elosál verwirrt. „Wie bist du in den Cielástel hereingekommen?”
„Ich ahnte, dass die Kinder auf den Turm wollten und habe gewartet, bis die Euren an mir vorbeigeeilt waren, Meisterin.” Er kam näher, ohne die Alte aus den Augen zu lassen, aber auch ohne erkennbare Scheu vor der Magierin, in deren Haus er gerade stand. Er wirkte schmächtig, fast zart und war für einen Mann auch nicht besonders groß. Und auch er sah aus, als habe er kürzlich schlimme Strapazen erlebt. Seine Aufmerksamkeit jedoch galt ganz der Alten.
Siledaú tat einen ganz kleinen Schritt auf ihn zu. Den Gehstock hielt sie nun hoch erhoben, etwa so, als wolle sie im nächsten Moment damit auf den Ankömmling einschlagen. Es war beängstigend. Wo nahm sie nur diese Kraft her?
„Geh beiseite, Advon”, bat der junge Mann. „Das ist ab jetzt eine Sache zwischen ihr und mir.”
„Was soll das heißen?”, entfuhr es Elosál empört. Tatsächlich konnte ich das nachvollziehen. Dass ein Mensch sich dreist in ihre Angelegenheiten einmischte, noch dazu an diesem Ort, war sicher unerhört.
„Das werdet Ihr sogleich verstehen. Advon … geh zu deiner Mutter.”
Zu meiner Verwirrung gehorchte der Junge anstandslos und rannte endlich zu Elosál hin. Das lenkte die fajía ab. Elosál vergaß Siledaú, neigte sich zu ihm und schloss ihn innig in ihre Arme, vergrub ihr Gesicht zärtlich in seinen sandverklebten goldblonden Haaren. Ich spürte die Liebe, mit der sie ihren Sohn umhüllte, ihn unter ihre maghiscal holte und vor allem Schrecklichen abschotten würde, was in den nächsten Momenten geschehen würde.
Ich sah das, und es war Neid dabei. Sie hatte ihr Kind zurück. Meines balancierte an der Kante des Simses, während unablässig Sand auf es einklatschte und in dem Geflimmer kaum etwas zu erkennen war.
„Wieso bist du hier?”, fragte Siledaú, mit eisigem Hass in der Stimme.
„Ich habe gehofft, hier den sinor Úldaise noch anzutreffen”, entgegnete der junge Mann. „Aber ich sah ihn weder den Turm verlassen, noch scheint er unterwegs den arcaval’ay begegnet zu sein. Ich muss ihn verpasst haben, den vielbeschäftigten Herrn. Nun, ich verhandele auch mit dir. Die Kinder haben von dir erzählt, alte Frau.”
„Was? Verhandeln? Worüber?”
„Galéon”, beschwerte Dýamirée sich, „die will mich auch in die Tiefe werfen! Alle wollen mich in irgendwelche Löcher und Abgründe werfen!”
„Keine Angst, Kleines. Sie wird sich hüten, es bei dir zu versuchen.”
„Galéon”, kam es von Advon, der zitternd vor Anspannung seine Mutter umklammerte, „bitte, sei vorsichtig! Sie ist gemein!”
Er wandte sich mir zu und schaute einmal prüfend den Stab entlang.
„Ihr seid wohl die Mutter des Mädchens?”, fragte er höflich. „Die hýardora von Yalomiro Lagoscyre?”
„Ja … aber … woher …”
Er streckte fordernd seine Hand aus. „Gebt mir den Stab, Meisterin. Überlasst mir die Verantwortung und die Sorge.”
„Aber … nein!” Ich zog den Stab an mich. „Das kann ich nicht!”
„Doch”, sagte er ruhig. „Solange ihr dieses Ding, was immer es sein mag, in Händen habt, seid Ihr erpressbar. Lasst mich vermitteln und Euch von Versuchung und Reue entlasten. Ich bin hier, um Euch von der Entscheidung zu befreien.”
„Ich weiß doch nicht einmal, wer du bist!”
„Ich komme im Auftrag von jemandem, der Dinge gutzumachen hat. Das muss Euch genügen.”
„Ich verstehe nicht! Ich …” Gedanken zuckten ziellos in alle Richtungen durch meinen Kopf. Darunter auch die völlig zusammenhanglose Erkenntnis, dass ich nicht verschleiert war und mein Anblick, der Fluch, den unkundigen Mann überhaupt nicht zu verstören schien. Wer war das?
„Mama”, rief Dýamirée, „Galéon ist gut! Hör auf ihn!”
„Ja”, hörte ich Advon. „Er will Euch bestimmt nicht täuschen!”
„Er hat mich aus dem Maul vom Chaosgeist rausgeholt!”, fügte Dýamirée hinzu, und mir standen die Haare zu Berge.
„Verfluchter Kerl!”, zischte Siledaú den sonderbaren Neuankömmling an. „Ist dir eigentlich klar, worum es hier geht?”
„In Teilen”, sagte der fremde Mann, dem die Kinder offenkundig bedenkenlos vertrauten. „Mir fehlt noch die eine oder andere Einzelheit. Aber am Ende, hoffe ich, wird es eine gute Geschichte sein.” Er öffnete seine Hände. „Bitte, Meisterin. Ich werde Euch alles erklären, wenn es … vollbracht ist.”
„Ich würde dir gern vertrauen”, stammelte ich. „Aber ich weiß zwischenzeitlich wirklich nicht mehr, wem und was ich glauben soll.”
„Das ist schade”, sagte er ruhig.
„Ich würde mir das an deiner Stelle auch gut überlegen”, kam es von Siledaú. „Du hast keine Ahnung, wer der Bursche ist. Du solltest in Sorge sein! Die Kerle führen nie Gutes im Schilde! Gerade deinesgleichen sollte ich hüten!”
„Báchorkor“, fragte Elosál plötzlich. „Bist du derjenige, der aus der Höhle im brennenden Garten entkommen ist? Der das Gold im Stein bewegt hat?”
„Ja, Meisterin.”
Ich schaute zwischen ihm, Elosál und Dýamirée hin und her, soweit sie in dieser flackernden, völlig irre machenden Beleuchtung zu erkennen waren.
„Mama! Bitte! Vertrau ihm!”
Ich fühlte mich allein gelassen. Die ganze Zeit hatte ich versucht, den Stab zu verteidigen, genau so, wie Yalomiro es mir aufgetragen hatte. Und nun, nun sollte ich das Artefakt einfach einem wildfremden Unkundigen überlassen? Was sollte ich tun? Was würde Yalomiro mir raten? Wo war er, wo war Elosáls hýardor? Waren die beiden in der Wüste den Chaosgeistern begegnet, von denen die Kinder redeten?
„Meisterin Salghiára”, mahnte Elosál.
„Vertraut mir”, raunte der Fremde. „Ab hier obliegt es mir, zu handeln.”
Ich zögerte noch einen winzigen Moment. Dann entschied ich mich, die Mächte entscheiden zu lassen. Ich schloss die Augen und ließ den Stab los. Er kippte in Richtung des jungen Mannes.
„Nein!”, kreischte Siledaú und hechtete der Stange entgegen, bevor sie zu Boden fallen konnte.
Meine Tochter kreischte erschrocken, als die alte Frau unerwartet ihren Arm losließ und sie den Halt verlor. Einen Moment lang schwankte sie am Rande der Tiefe und fuchtelte panisch mit den Armen. Dann verlor sie das Gleichgewicht und fiel in die Leere. Ich sah das wie in Zeitlupe und versuchte noch, wenn auch vergebens, sie zu greifen, nun, da ich den Stab nicht mehr hielt. Doch im selben Moment passierten noch ein paar andere Sachen gleichzeitig, die ich nicht hatte kommen sehen. Im Nachhinein erschien mir die Szene auf dem Turm, alles, was sich um mich herum abspielte und doch in diesem Augenblick nur am Rande meiner Wahrnehmung geschah, wie ein Standbild aus einem Film, bei dem sich jedes Detail einzeln betrachten ließ.
Siledaú haschte nach dem Stab, aber sie erreichte ihn nicht, denn Elosál warf einen goldenen Bann in die flackernde Nacht, noch bevor die alte Frau zugreifen konnte.
Im selben Moment jagte von irgendwo oberhalb des Turmes ein zweites Einhorn vom Himmel herab, eines mit mild schimmerndem Fell und einem weiß gekleideten Mann mit goldener Rüstung auf dem Rücken, und schoss in die Tiefe. Und zwischen alldem war plötzlich Yalomiro, gerade noch ein großer Vogel, und ein silberner Bann zuckte von der anderen Seite auf Siledaú zu, kreuzte sich mit dem der fajía. Siledaú stieß einen unmenschlichen Schrei aus, als sie zu Boden ging. Dann war es still, abgesehen vom Klatschen des Sandes auf die gläsernen Mauern der Burg.
Ich stand wie betäubt, und die Welt um mich herum setzte sich langsam, sehr langsam in Bewegung. Galéon fing den Stab beiläufig, noch bevor er zu Boden fiel.
Dann sah ich das vielfarbige Einhorn des Jungen. Quer über seinem Rücken und so an den linken Flügel geklammert, dass es damit nicht richtig ausholen konnte, hing ein Kinderkörper mit schwarzem Kleidchen.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich wieder atmen konnte. Das Tier hatte also unbemerkt unterhalb des Simses gewartet, vielleicht auf der Stelle geflattert wie ein Falke. Im Lärm des Sandregensturms hatte man seine Flügelschläge nicht hören können. Das Einhorn hatte Dýamirée aufgefangen.
Ich war fassungslos. Diese Tiere – sie mussten Verstand haben! Hatte das Einhorn begriffen, was Advon Irísolor gemeint hatte, als er sagte, niemand könne Dýamirée auffangen?
Dann war da Cýelú Irísolor mit seinem perlmuttfarbenen Ross. Er brachte es neben dem bunten Einhorn zum Stehen und pflückte Dýamirée aus ihrer unglücklichen Lage.
„Dýamirée! Papa!” Advon wollte sich von Elosál losreißen, aber sie hielt ihn fest.
„Kleines”, hörte ich den Goldenen, besorgt, erleichtert. „Kleines! Alles in Ordnung?”
Dýamirée starrte verwirrt zu ihm hoch. Dann griff sie hinauf, legte die Arme um den Hals des Anführer der arcaval’ay, des Mannes, der sie entführt hatte, und umarmte ihn. Nicht mich oder ihren Vater.
Aber auch Yalomiro war abgelenkt. Siledaú lag reglos zu seinen Füßen. Seine Augen glommen silbrig, in der Hand formte er den nächsten Schlag. Auch Elosál sammelte neue Energie. Ich selbst stand dazwischen, als gehörte ich nicht hierher, mit leeren Händen und ohne meine Tochter. Den Stab, den hatte nun der zerlumpte junge Mann, der ganz gelassen inmitten des Ducheinanders wartete. Es wurde mir völlig klar, dass es noch nicht ausgestanden war. Das hier, das, was gerade geschehen war, das war der Auftakt. Noch keine Zeit für Erleichterung oder Triumph. Noch keine Zeit für ein allgemeines freudiges Wiedersehen.
Siledaú ächzte. Das war beängstigend. Immerhin war sie, eine verrückte unkundige alte Frau, zugleich von einem goldenen und einem silbernen Bann getroffen worden, ohne den Schutz einer maghiscal, der die Wucht hätte abmildern können.
Sie hätte definitiv tot oder zumindest bewusstlos sein müssen, doch sie regte sich bereits wieder. Ein Gewirr von Funken aus Gold und Silber flackerte um sie herum.
Der Mann, den die Kinder Galéon nannten, schien das alles gar nicht zu interessieren. Er begutachtete den Stab beiläufig und wandte sich dann Yalomiro zu, wartete, bis dessen zorniger, silberner Blick sich auf ihn richtete.
„Ihr seid Yalomiro Lagoscyre, nehme ich an?”.
Yalomiro richtete sich misstrauisch aus seiner kampfbereiten Pose etwas auf. „Der bin ich.”
„Ich glaube, das hier sollte vorerst in Eurer Hand bleiben.” Der báchorkor kippte den Stab zu ihm hinüber. Yalomiro griff verdattert zu.
Siledaú hob noch einmal ihre Hand. Dann sank sie ächzend zusammen.
Der junge Mann neigte sich zu der Alten hinab und förderte etwas unter seinem Hosenbund hervor, ein silbernes Schmuckstück. Ein Kleinod, das vertraut aussah, eine Form, die ich täglich nicht nur in der Halle im Etaímalon über mir hatte.
„Ich habe etwas gefunden, in der Höhle unter Úldaises Garten”, sagte er. „Doch ich mag mich nicht nochmals des Diebstahls bezichtigen lassen. Darf ich es Euch unter den Zeugen hier zurückgeben?”, fragte er. „Ein Sammlerstück wohl, das unbeachtet blieb oder bleiben sollte.”
Siledaú zuckte wie unter Stromstößen. Die vereinte Kraft von heller und dunkler Magie schien sie zumindest ein wenig zu lähmen, verblasste jedoch beeits nach und nach. Aber sie hob den Kopf.
„Ich weiß nicht recht, wem es gehört”, fuhr Galéon zu, während sich die dürren Finger der alten Hand nach dem Schmuckstück ausstreckten. „Úldaise Tiáramalé, wie die Menschen von Aurópéa Euch kennen und fürchten, oder Siledaú, wie die arcaval’ay Euch nennen und vertraut haben. Ich denke, es ist das Beste, wenn Ihr es für Ovidáol Etaímalar entgegen nehmt.”
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