
„Dýamirée!”
Bevor mich einer der arcaval’ay oder Elosál selbst daran hindern konnte, rannte ich los, durch jene Tür hindurch, durch die Úldaise Tiáramalé soeben ungehindert hindurchspaziert war. Vor lauter Hektik kam ich ins Stolpern, es gelang mir gerade eben noch, mich abzufangen, bevor ich die Wendeltreppe hinabstürzte. Ich bog um die Kurve und sah Dýamirée, draußen auf einem breiten Sims, den ich zuvor kaum beachtet und für ein großes Fenster gehalten hatte. Tatsächlich war es eine wie ein Pilz an einem Baumstamm am Turm vorspringende Plattform, vielleicht eine Abkürzung zu Pataghíus Halle, für den Fall, dass ein berittener arcaval’ay es besonders eilig hatte.
„Dýamirée!”
„Mama!”, kreischte sie und wehrte sich mit Leibeskräften gegen die dürre, absurd starke Hand, die sie am Arm gepackt hielt. Sie strampelte über dem Abgrund, der sich jenseits des ungesicherten Simses auftat. Aber die Person, die sie über der Tiefe schwenkte wie ein Püppchen – das war nicht Úldaise Tiáramalé!
„Siledaú!” Elosál war mir nachgerannt und plötzlich an meiner Seite, die sieben Ritter hinter sich. „Wo kommst du her? Was tust du da!”
„Mama! Hilf ihr! Siledaú darf ihr nichts tun!”
Ich war so auf Dýamirée fixiert gewesen, das ich das zweite Kind nicht bemerkt hatte. Das konnte nur Advon Irísolor sein! Er stand einige Schritte seitlich neben dem Durchgang auf dem Sims, war vor dem Gehstock, Úldaises Gehstock, den die Alte drohend erhoben hielt wie einen Speer, zurückgewichen. Der Junge lehnte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Brust eines Einhorns. Das ungeordnet bunte Tier schnaubte und schwenkte über dem Haupt des Kindes sein Horn. Offenbar wollte der Junge das Tier daran hindern, die alte Frau niederzurennen.
„Advon!”
„Bitte, Mama! Hilf uns!”, flehte er.
„Lass mich los!”, schrie Dýamirée. Ihre Stimme klang, als sei sie sich nicht sicher, ob sie weinen oder wüten sollte. „Lass mich los, du schlimme Hexe!”
„Nein!”, entfuhr es mir. „Nicht! Nicht loslassen!”
„Entscheidet euch”, spottete die alte Frau. Es war verwirrend, wie mühelos sie Dýamirée festhalten konnte. Natürlich, meine Tochter war ein zierliches kleines Mädchen, aber so, wie sie sich wehrte, hätte wohl ein starker Mann seine Not damit gehabt. Das sonderbare Gewitterleuchten über der Burg und ein Hagel aus nassem Sand illuminierte die Szene unnötig dramatisch.
„Mama!”, verlangte Advon Irísolor. „Mach doch was!“
„Komm von dort weg, Advon!”, rief die fajía dem Jungen zu. „Komm zu mir!”
„Nichts da!” Der Gehstock zielte nun auf Elosál. „Der Junge bleibt genau da, wo er ist, und er hält dieses blöde Mistvieh in Schach. Das kannst du doch, Advon? Das war doch das Einzige, woran du während deiner Lektionen denken konntest, oder nicht? Wie du einmal dein Ross beherrscht und ihm gebieten kannst?” Die Alte griente hämisch. „Wenn mir jemand zu nahe kommt, lasse ich die Kleine ganz einfach fallen. Keiner von Euch kann schnell genug Magie wirken, bevor sie im Hof aufprallt.”
„Tu ihr nichts, Siledaú!”, bettelte der Junge. „Ich halte Farbenspiel gut fest. Nicht wahr, Farbenspiel? Du willst doch auch nicht, dass Dýamirée hier herunter fällt? Niemand könnte sie auffangen!”
Das Einhorn schnaubte und fletschte seine Zähne. Das sah erschreckend aus. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass diese Tiere lange spitze Fänge hatten, wie eine Schlange, möglicherweise ebenso giftige. Aber das Einhorn hielt jetzt still, balancierte auf dem Sims, während der nach wie vor fallende Sand in Batzen gegen sein buntes Fell klatschte. Der Junge trat vorsichtig einen Schritt beiseite, hin zur Mauer und klopfte ihm beschwichtigend den Hals. Die alte Frau ließen beide nicht aus ihren Augen, die des einen einen azurblau, die anderen gelb und reptilienhaft.
„Ich bitte Euch, Siledaú”, hörte ich mich sagen. „Seid vernünftig. Gebt mir meine Tochter!”
„Die sollst du wohl haben, die kleine Kröte”, sagte Siledaú. „Wenn du mir endlich den Stab überlässt.”
Der Stab. Dieses verfluchte Ding, das diese alte Frau und den wahnsinnigen sinor besessen machte. Der sinor? Wo war der? Er konnte doch unmöglich in dieser kurzen Zeit von der Treppe und aus dem Turm verschwunden sein? Und wie kam die Alte an seinen Gehstock? Hatte sie ihm aufgelauert, ihn auf der Treppe gestellt und bereits zuvor vom Turm gestoßen?
„Wenn du darüber so lange nachdenken musst”, sagte die Alte belustigt, „dann kann es dir gar nicht so ernst sein mit dem Balg. Was denkst du nach, Salghiára Lagoscyre? Ein defektes nutzloses Artefakt gegen das Leben deines Kindes?”
Ich umklammerte den Stab nur noch fester. Nein, eine Wahl hatte ich tatsächlich nicht. Und im ersten Moment klang es so vernünftig. Was konnte die alte Frau schon mit dem Stab machen, abgesehen davon, dass sie ihn für eine kostbare Nachlassenschaft des Verfluchten halten mochte? Was konnte passieren? Falls sie mit Úldaise Tiáramalé zusammenarbeitete, würden die beiden das Artefakt vielleicht einfach in eine Vitrine stellen und sich den kurzen Rest ihrer Tage an dem Anblick ergötzen, wie fanatische Kunstsammler.
Für einen Augenblick überlegte ich, ob die beiden alten Leute wohl zusammenarbeiteten oder so etwas sein mochten wie zwei Konkurrenten, die unabhängig voneinander ihr Leben lang auf der Jagd nach dem vermeintlichen Schatz gewesen waren.
„Was sagst du dazu, unkundiges Balg?”, fragte Siledaú nun an Dýamirée gewandt. „Deine Mama, nach der du die ganze Zeit flennst, muss ernsthaft überlegen, ob sie dich gegen den alten Stock da eintauscht!”
„Mama!”, schluchzte Dýamirée empört. „Mama! Hilf mir doch!”
„Nun, Salghiára Lagoscyre? Wie lange denkst du, können meine alten Hände diese zappelnde Last hier noch halten? Und du, Elosál Irísolor? Wie fühlt es sich an, machtlos zu sein, letzte der fajíaé, Großmeisterin, Lichtgeweihte? Der Schatten wird dich verraten. Es kann nur noch einige Augenblicke dauern. Die da, die camata’ayra, ist schwach. Keine verständige Magierin, nur eine Mutter. Was kümmert sie der Stab, wenn sie ihr Kind haben kann? Aus dem Norden gekommen ist sie also tatsächlich, die Gefahr. Ich muss zugeben, ich hatte nicht erwartet, dass meine eigene Vision sich auf diese Weise erfüllt.”
Elosál schaute mich prüfend von der Seite her an, als versuche sie, in meinem Gesicht zu lesen. Die bleichen Regenbogenritter hinter ihr warteten reglos, mit erstarrten und ausdruckslosen Mienen. Vermutlich konnten sie ohne Elosáls Anweisung nicht aktiv werden.
„Meisterin”, flüsterte sie mahnend. „Entsinnt Euch der Verantwortung.”
„Ja”, äffte Siledaú sie nach. „Verantwortung. Was ist denn nun wichtiger? Ein unkundiges, zeterndes Balg, das niemals Noktáma dienen kann und wird? Der kühle Frieden mit den arcaval’ay, denen euer Leid nie naheging? Oder vielleicht sogar das Fortbestehen des Weltenspiels? Elosál, warum hinderst du sie nicht daran und nimmst ihr die Entscheidung und den Stab einfach ab?”
„Mama! Mama, ich hab Angst!”, hörte ich Dýamirée jammern. Sie hatte zwischenzeitlich eingesehen, dass es nichts brachte, zu zappeln.
„Ich kann das nicht”, sagte ich. Ich brachte es nicht fertig, Elosál anzuschauen. „Das ist … das ist mein Kind!”
„Gut”, sagte Elosál, und ich spürte, dass ihre maghiscal sich zu einem weiteren Bann formte. „Dann ist es wohl tatsächlich an mir, es zu entscheiden!”
„Ich weiß, was du planst, Elosál”, sagte die Alte spöttisch. „Das würdest du wirklich wollen? Wenn du mich angreifst, dann nehme ich das Kind mit mir. Und wer weiß? Vielleicht würde es dich gar nicht voranbringen. Den Stab bringst du damit jedenfalls nicht aus der Welt. Du musst ihn schon von ihr nehmen!”
Advon Irísolor schien ebenso entsetzt zu sein, als er erfasste, was seine Mutter vorhatte. „Mama!”, protestierte er. „Mama! Wenn du zauberst, fällt Dýamirée runter!”
„Ich habe keine Wahl, Advon! Eines Tages wirst du das verstehen.”
Die maghiscal der fajía war nun wieder sehr heiß, ich hätte mich an ihr verbrannt wie an einem Feuer, hätte ich sie berührt. Um sie herum erhellte sich die Luft. Elosál strahlte, ihre maghiscal war so hell, unerträglich hell, als blicke man in die Sonne. Das Wasser in dem feuchten Sandregen um sie herum verdunstete zu einem flüchtigen Nebel, der sich ins Gewitterflackern mischte.
Was konnte ich tun? Musste ich es wagen, Elosál anzugreifen, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen? War ich dazu nicht sogar verpflichtet? Ich war nahe genug bei ihr, um mit dem Zauberstab zuschlagen und sie vielleicht ablenken zu können. Aber würde das mehr bringen als in paar Augenblicke Aufschub? Wenn ich ihre Meisterin angriff, hatten die Regenbogenritter alles Recht dazu, mich auszuschalten. Die furchtbare alte Frau würde sich das entspannt anschauen und wahrscheinlich urkomisch finden. Gönnte ich ihr diese Genugtuung?
Es war Advon Irísolor, der mir die Entscheidung abnahm. Der Junge überlegte, ganz kurz. Dann schnellte er beherzt vor, aber nicht durch den Torbogen in die Sicherheit des Turmes, sondern zwischen Elosál und Siledaú. Mutig stellte er sich hin und breitete die Arme aus. Sein Einhorn tänzelte und glitt mit einem Fuß von der Plattform, flatterte. Dann sprang es ab und ließ sich im Segelflug in die Tiefe gleiten. Das Kind kümmerte sich nicht darum. Warum auch? Was sollte einem geflügelten Tier schon geschehen?
Dýamirée hatte keine Flügel. Sie konnte sich auch nicht in einen Vogel verwandeln. Wenn die alte Frau sie losließ, dann würde sie in den Tod stürzen. Dýamirée, meine Tochter, mein geliebtes Kind, war in Lebensgefahr. Und es war kein Regenbogenritter, der sie bedrohte, im Gegenteil. Und es war nicht ich, die Mutter, die für sie einstand. Es war ein Kind, eines, das zu den anderen gehörte, das sich entschieden hatte. Ich schämte mich.
„Mama!”, forderte Advon Irísolor eindringlich. „Dýamirée darf nichts geschehen! Tu das nicht!”
„Davon verstehst du nichts, mein Kind! Geh beiseite!”
„Hör auf deinen Sohn, Elosál. Wenn du mich angreifst, dann werde ich dieses Gör einfach fallen lassen. Wage es nicht!”
„Und wenn es mir egal wäre?”, fragte die fajía wütend. „Wenn mir egal wäre, was dem fremden Kind zustößt?”
„Dir ist es nicht egal. Deinem eigenen Balg geschieht nichts, zumindest nicht jetzt. Aber wenn du mich angreifst und triffst, dann nehme ich die Kleine eben mit! Das löst allerdings nicht dein Problem. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es die Schwarzmäntel richtig wütend machen dürfte. DU weißt, wozu wütende Schattensänger fähig sind!”
Die Situation blieb aussichtslos, das war mir schmerzlich klar. Das Einzige, was Siledaú möglicherweise von ihrem Vorhaben abhalten würde, wäre, ihr den Stab zu überlassen, ihrer kindischen Schatzsuche nachzugeben. Zugleich war mir klar, dass es dumm wäre, ihr das Objekt ihrer Begierde zu überlassen, und stöhnte frustriert. Wer sagte mir denn, dass sie wirklich von Dýamirée ablassen würde, sobald sie ihren Willen bekam?
Andererseits: Wenn die Alte ihre Drohung wahr machte, dann gab es nichts mehr, was Elosál an ihrem vernichtenden Zauber gehindert hätte. Das hinderte Sidedaú daran, Dýamirée etwas anzutun. Niemand hatte gerade eine Möglichkeit, sinnvoll einzugreifen.
Yalomiro hatte mir vor langer Zeit einmal ein Brettspiel beigebracht, das in dieser Welt sehr beliebt war, eines, das auf einem einfachen Spielfeld und mit vielen bunten Steinchen gespielt wurde. Meine Begeisterung hatte sich in Grenzen gehalten, ich hatte das Spiel für primitiv gehalten. Nun begriff ich, dass es exakt das abbildete, was gerade hier, in der Wirklichkeit geschah. Je komplizierter es fortschritt, je mehr Steine im Spiel waren, desto mehr kam es zum Stillstand.
Der Junge schien ähnlich zu denken. „Wirf keinen Bann nach Siledaú, Mama!”
„Ich muss, Advon! Geh beiseite! Ich will nicht, dass sie dich als Schild benutzt!”
„Nein!”
„Advon!”
„Ich will nicht, dass Dýamirée etwas zustößt, weil ihr euch über einen dummen Stab streitet. Was ist das überhaupt für ein Ding?”
Elosál seufzte. Wahrscheinlich stand sie vor ähnlichen inneren Konflikten wie ich, auch wenn die fajía ihrem Sohn für seinen Eigenwillen sicher nicht zürnte. Da stand er, unbeirrt, tapfer, und wäre er nicht völlig durchnässt und wie paniert von dem fallenden Sand gewesen, hätte er reizend ausgesehen, wie ein kindlicher Regenbogenritter, wenn auch ohne deren ätherischen Nimbus. Er war ein netter Junge, vielleicht ein klein wenig älter als Dýamirée, mit verklebtem Haar und klarem Blick. Er war, das erkannte ich in Elosáls Glanz, ganz erschöpft und verkratzt. Dýamirée sah ähnlich zerrauft aus. Die beiden hatten nicht einfach einen verbotenen Ausflug gemacht. Sie hatten Gefahren bewältigt.
„Das ist ein schlimmes Ding, Advon”, half ich Elosál aus ihrer Klemme. „Es sollte nicht hier sein!”
„Warum ist es dann hier?”
Ja – warum? Sollte ich dem Jungen allen Ernstes jetzt verraten, dass das die Idee seines Vaters war?
„Das verstehst du noch nicht”, murmelte ich.
„Und wenn deine Mutter und dieses schwarzgewandete Weibsbild es mit nicht bald überlassen”, fügte Siledaú genüsslich hinzu, „wird etwas sehr, sehr Unangenehmes geschehen.”
„Hat es was mit den Chaosgeistern zu tun?”, fragte Advon.
Abgesehen vom Grollen der Wolken und dem Klatschen des Sandes auf Glas war es einen Moment totenstill.
„Was weißt du von den Chaosgeistern?”, fragte Siledaú dann sachlich.
„Mama”, klagte Dýamirée herzzerreißend. Nicht nur der drohende Sturz, auch der unsanfte Griff der alten Frau machten ihr zu schaffen. „Mama, da sind riesige Ungeheuer in der Wüste. Böse Monster!”
„Wie bitte?”, fragte Elosál alarmiert.
„Ja!” Advon nickte lebhaft. „Mindestens drei Stück sind hinter uns her gewesen. Sicher gibt es noch mehr! Vielleicht gibt es Dutzende davon! Oder hunderte! Tausende!”
„Die Chaosgeister sind also frei”, sagte Elosál tonlos. Die fajía formte weiterhin ihren Zauber, wie einen heißen Schneeball, aber sie wechselte intensive Blicke mit den Rittern zu ihrer Seite. Deren Mienen waren nach wie vor wie versteinert, allerdings ohne erkennbares Erstaunen. Dann tat die fajía unvermittelt einen Schritt an ihnen vorbei hinaus auf den Sims, blieb dicht vor ihrem Sohn stehen. Licht und Hitze brachte sie mit sich. Der darin blitzschnell trocknende Sand hüllte sie in Nebel. Zu ihren Füßen verwandelte sich ein nasser Sandklumpen wieder in trockenen Staub und wehte davon. Es war heiß wie neben einem Feuer. Ihre Ritter verschwanden im Dunst.
„Es ist keine Zeit für Abenteuergeschichten, Advon”, mahnte sie.
„Ich denke mir nichts aus, Mama, wirklich nicht! Sie kamen aus dem Sand heraus und hätten uns fast erwischt!”
„Wo habt ihr Chaosgeister gesehen?”, fragte die Alte, überraschend sachlich.
„Im Süden. Ein Stück wüsteneinwärts.”
„Bei den vielen Pfählen in der Senke”, fügte Dýamirée hinzu. „Da, wo wir Galéon befreit haben.”
Nun geschah etwas sehr Seltsames. Siledaú richtete ihren Blick zum Himmel empor, zu dem Wetterleuchten, das sich in den letzten Augenblicken immer weiter beschleunigt und verstärkt hatte. Hätte Elosál hinter mir nicht zwischenzeitlich aus sich selbst heraus so hell gestrahlt wie weiße Glut, das Schimmern und Flackern hätte zwischenzeitlich denselben Effekt gehabt wie ein Stroboskop. Siledaú war … nun, was immer sie erwartet hatte, nun war sie entsetzt.
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