„Mama! Mama! Papa! Kommt her!”

Manjév rappelte sich nach dem seltsamen, schwebenden Sturz in die Tiefe auf. Ein Stück schweres Holz hatte sie getroffen, ihr Bein schmerzte, aber das konnte sie nicht halten. Sie hörte die Stimmen der Eltern, dachte nicht nach und rannte los. „Mama!”

Osse Emberbey brauchte einen Moment länger, um wieder auf die Füße zu kommen, aber dann taumelte er hastig hinter ihr her. „Majestät!”

„Sie sind dort hinten, Osse! Wir müssen schnell zu ihnen! Wir …”

Er erwischte sie an ihrem Kleid und hielt sie verblüffend energisch fest. Wieder kam sie zu Fall, und der Schmerz schoss ihr bis in die Hüfte hinein. Erschrocken, empört wollte sie ihn wegstoßen, aber schon kniete er fürsorglich neben ihr.

„Majestät”, mahnte er. „Das ist alles Trug und Täuschung! Lauft doch nicht blindlings los!”

„Aber du hörst sie doch auch, oder?”

„Nein.”

„Du denkst, ich bin verrückt geworden, oder?”, fragte sie tonlos.

„Nein, Majestät. Ich weiß, dass Ihr etwas hört. Aber es mag weder das sein, was Ihr glaubt, noch da, wo Ihr es vermutet. Wir müssen beisammen bleiben! Oder wollt Ihr, dass die Monster Euch in die Tiefe reißen?”

Manjév seufzte. Der Junge hatte recht. Aber wie brachte er es fertig, so besonnen zu sein? Seine rauchfarbenen Augen waren glanzlos und müde hinter seiner Brille, aber etwas schien ihn bei der Sache zu halten. Er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen, half ihr behutsam auf. „Und außerdem”, flüsterte er, „müssen wir unbedingt in Merrits Nähe bleiben. Er kann den Monstern beikommen.”

Er führte sie zurück zu dem anderen Jungen, der zusammengekauert im nassen Sand kniete, umgeben von den Trümmern morscher Bodendielen und Balken. Einige der Bohlen steckten um ihn herum im Sand, wie schlecht abgeschossene Pfeile, die ihn knapp verfehlt hatten. Seinen Streitflegel hatte er bei dem Fall in das Nirgendwo nicht verloren, denn seine Hand war so um den Griff herum verkrampft, dass er ihn wohl nicht hätte loslassen können.

„Mama …”, schluchzte Merrit Althopian mit starrem Blick. „Mama … Papa …”

Manjév zögerte bestürzt, während Osse sich fürsorglich neben ihn kniete. Unbeholfen legte der Junge seine mageren Arme um ihn, ungeachtet seiner verletzten Schulter .

„Kannst du deinen Vater hören?”, fragte er. Merrit nickte und schluchzte nur noch lauter.

„Dann ist es gut”, tröstete Osse. „Dann wird er bald hier sein. Hältst du noch so lange durch?”

Merrit seufzte abgrundtief und lehnte seine blutige Stirn an die des anderen. Manjév sah das mit Befremden, entsann sich dann aber, dass Osse jüngere Geschwister hatte. Sicher war er es gewohnt, zuweilen sein weinendes Schwesterchen zu trösten.

„Ich bin so müde”, kam es von Merrits trockenen Lippen. „Ich kann nicht mehr …”

Osse sah sich um und zog dann mit dem beweglicheren Arm ein splittriges Holzbrett unter dem Sand hervor. „Ich helfe dir. Wenn sie uns angreifen, dann … dann haue ich sie zusammen.” Er stand auf und vollführte mit dem zerborstenen Holz ein paar ungelenke Streiche, als jage er einer Fliege nach.

Merrit betrachtete das einen Moment und ein ganz kleines, müdes und flüchtiges Lächeln erhellte für einen Wimpernschlag sein zerschundenes Gesicht. Dann stand er mühsam auf.

„Sei vorsichtig. Du wirst noch einen von uns erschlagen. Oder dir selbst einen Splitter einziehen. Das tut gemein weh!”

Manjév kam näher. Irgendwo in der Ferne hörte sie die Mutter, den Vater. Aber nicht die Stimme von yarl Althopian. Dann war es wohl wirklich so, dass das Wesen, das gerade mit ihnen spielte, sie hören ließ, was es wollte. Darauf durften sie nicht hereinfallen, egal, was geschah.

Merrit schüttelte sich den Sand aus Hemd und Hose und die Schwäche ab, die er sich erlaubt hatte. Dann stand er schließlich wieder aufrecht und raffte die Metallkette zusammen, hob die Dornenkugel auf.

Die teirandanja schauderte. Wieso fühlte seine Nähe sich immer noch so unangenehm, so verkehrt an? Bei alledem, was sie nun erlebt hatten, war sie sich sicher, dass er ein guter, ein mutiger und den Mächten gefälliger Junge war, dem nicht in den Sinn gekommen wäre, ihr gegenüber frech und gemein zu werden. Er hatte sie unermüdlich mit seinem Leben verteidigt, mit einer Tapferkeit, die einem erwachsenen Kämpfer zum Ruhm gereicht hätte; und doch war er kaum älter als sie.

Das Mädchen seufzte. Es verwirrte sie, tat ihr im Herzen weh und brachte ihr den Verstand durcheinander. Was hatte sie getan, dass diese widerstreitenden Gefühle sie so gepackt hielten? Ob das etwas war, das Meister Yalomiro ihr erklären konnte, wenn das hier überstanden war?

Überstanden? Und wenn sie es nicht überlebten? Wenn die Monster sie in den Sand zerrten und sie nie wieder ans Tageslicht kamen? Nie wieder zu den Eltern zurückkehrten?

„Wo ist der Tisch hin?”, riss Osse sie aus den Gedanken.

Tatsächlich. Der schwarze Holztisch, der sie so sicher getragen hatte, war fort, sicherlich begraben unter dem feuchten Sand und den Trümmern des Daches; zusammen mit all der Einrichtung und den Sachen, die noch im Turmzimmer gewesen waren.

„Sollen wir ihn ausgraben?”, fragte sie zweifelnd.

„Nein”, entschied Merrit. „Wir wüssten ja gar nicht, wo wir anfangen sollen. Vielleicht würden wir auch die Monster hervorlocken.”

Sie schauten sich um. Tatsächlich war der Sand um sie herum ganz glatt und unbewegt. Da war nichts mehr, was wogte, rieselte oder aus dessen Tiefen sich Gliedmaßen hervor reckten. Dafür war der Sand nun zu einer festen, feuchten Fläche geworden, die sich unter dem undefinierbaren Licht in alle Richtungen erstreckte, ohne dass ringsum jemand zu sehen war, zu dem die Stimmen gehörten. Unter den Füßen fühlte es sich an wie der Strand vor des Vaters Burg bei Ebbe. Verlockend vertraut und doch unheimlich, so ohne das ewige Lied der Wellen in der Ferne.

Der rote Karfunkel lag an der Oberfläche, und der Mast des Spielzeugbootes ragte ein Stück daneben aus dem Sand. Manjév zog es hinaus, gab es Osse und nahm den Stein an sich. So hatte jeder etwas, woran er sich festhalten konnte.

„Ob es so stark geregnet hat?”

„Unwahrscheinlich”, sagte Osse. „Nicht in der kurzen Zeit.” Er dachte kurz nach, bückte sich und streifte ein wenig Sand von der Oberseite seiner Schuhe ab. Zu Manjévs Entsetzen probierte er mit der Zungenspitze davon und spuckte dann sittsam hinter vorgehaltener Hand wieder aus.

„Salzig”, ließ er die beiden dann wissen.

„Und das heißt?”, fragte Merrit.

„Meerwasser”, erklärte Manjév. Diese naheliegende Antwort kam einem Knaben, der sicher nur selten an der Küste gewesen war, natürlich nicht sofort in den Sinn. „Meerwasser ist salzig. Und es gibt viel davon.”

„Aber es ist kein Meersand. Dann müssten Muschelschalen darinnen sein. Ich habe einmal Muscheln am Strand gesammelt”, hielt Merrit zu ihrer Überraschung entgegen. „Wo kommt all der Sand her? Ich meine, wie er herkommt, werden wir nie erfahren. Aber er kann ja nicht einfach so aus dem Nichts entstanden sein.”

„Wüstensand.” Osse fügte wohl im Geiste Stück für Stück Dinge zusammen. „Es ist eigentlich ganz klar. Denkt nur darüber nach.”

Er hätte es ihnen einfach erklären können, aber das tat er nicht. Manjév vermutete, dasser nicht altklug klingen oder seiner teirandanja nicht vorgreifen wollte. Doch sie ahnte, worauf er hinauswollte.

„Der mestar sagt”, begann sie, „weit im Süden, jenseits des Montazíel, liegt eine riesige Wüste, die das Weltenspiel von den Grenzen des Chaos trennt. Damit keine Menschen hinein geraten. So wie es im Norden das Meer gibt und im Westen und Osten das Eis. Niemand darf zu nahe ans Chaos heran.”

„Richtig, Majestät. Und im Süden, unter der Wüste, da entspringen die Wasserläufe, die zum Meer hinstreben. Niemand weiß, wo die Quellen sind. Forscoray, die es herausfinden wollten, haben sich verirrt und sind nie zurückgekehrt.”

„Woher kommt denn das Wasser in der Wüste?”, fragte Merrit.

„Vielleicht aus dem Meer. Ich glaube, wenn das Wasser ins Meer fließen würde und von dort ins Chaos, dann kehrt es irgendwie von dort in die Wüste zurück. Es fließt irgendwie im Kreis herum. Wie etwas, das an einem Wagenrad dranhängt.”

Manjév überlegte. Das war ein sonderbarer Gedanke, der ihr nicht sofort in den Kopf wollte. Andererseits – niemand wusste, wie das Chaos beschaffen war. Merrit runzelte zweifelnd die Stirn.

„Das hab ich mir nicht selbst ausgedacht”, gestand Osse, wie um sich zu verteidigen. „Ich habe das in einem Buch gelesen, das ein berühmter forscor geschrieben hat.”

„Nun gut. Aber was bedeutet das für uns? Das hieße ja, wir sind an einem Ort, wo Meer und Wüste aneinandergrenzen, wenn der Sand voller Salzwasser ist.”

„Ja”, bestätigte Osse schlicht. „So ist das, Merrit.”

„Wir sind jenseits der Grenzen”, wisperte Manjév entsetzt. „Mittendrin!”

„Die Mächte mögen uns beistehen!”, entfuhr es Merrit. „Deshalb sind so viele Monster hier! Das sind wirklich Chaosgeister! Wir sind in ihrem Revier!”

„Aber … wie sind wir hierhergekommen? Und wieso sind unsere Eltern hier irgendwo?”

„Vielleicht war der Turm war so etwas wie eine Falle. Wie eine Fallgrube, die Jäger für Raubtiere ausheben.”

„Was sollte uns fangen wollen?”, protestierte Merrit. „Das ist doch Unsinn! Wir sind doch keine Wildwölfe, die die Schafe packen! Warum uns?”

„Nein”, sagte Manjév leise und entsann sich an das, was der Schattensänger zu den Eltern und zu ihr gesagt hatte. „Es ist kein Unsinn. Es war alles so geplant.”

Die Jungen schwiegen auffordernd. Manjév hallten die Rufe der Eltern aus der Ferne ans Ohr. Aber was nützte das? Wenn das hier das Chaos war, dann hatten Zeit und Raum überhaupt keine Bedeutung. Und das war wahrscheinlich genau der Grund, warum es hier kein blankes Durcheinander gab, sondern nur diese absurde, gespenstische Weite und Stille.

„Kannst du deinen Vater wirklich nicht hören?”, fragte Manjév, einer Eingebung folgend.

„Nein, Majestät. Ich denke nicht, dass er nach mir rufen würde.”

„Dann geh uns voran, Osse Emberbey. Führe du uns zu den anderen.”

„Ich? Wie sollte ich das fertig bringen, Majestät?”

Manjév warf einen Blick auf das zersplitterte Brett in seiner Hand, auf das Boot und fragte sich, woher sie diese Worte nahm. „Weil seine Stimme dich nicht in die Irre führen kann.”

***

Die Stalltür war, entgegen aller Erwartung, nicht verschlossen. Die Pferde und Maultiere, die nebeneinander in ihren schmalen Verschlägen standen, waren unruhig, sie schnaubten und stampften. Der Sand platschte so laut aufs Dach, als würfen Kinder mit vollen Händen damit. Viele, viele Riesenkinder, die im Matsch spielten.

„Wieso ist hier offen?”, wunderte sich der erste Knecht und steckte misstrauisch das Einbruchswerkzeug weg, mit dem er das Schloss hatte öffnen wollen.

„Ist doch egal! Wir schnappen uns jeder ‘nen Zossen und nichts wie weg!”

Sie schlüpften in die Stallung und tasteten sich voran. Welche Macht auch immer sich hinter dem Sturm verbarg, sie war den beiden wohlgesonnen, denn durch die Fenster ringsum oben unter dem Dach kam außer Sandspritzern auch das flackernde Geisterlicht hinein, sodass es nicht stockfinster war.

„Hier liegt Sattelzeug”, freute sich der zweite, der, der zuvor das Buch gefunden hatte. Tatsächlich waren auf den hölzernen Trennwänden zwischen je zwei Tieren die jeweils passenden Sättel aufgelegt, an Haken hingen Zaumzeuge daneben. Praktischer konnte es sich kaum fügen.

Sein Kumpan stellte den Korb mit ihrer Beute ab. „Und wie bekommen wir das an so ein Viech dran?”

„Weißt du das etwa nicht?”

„Seh’ ich so aus? Der Alte hat seinen Gaul immer fertig gehabt.”

Der mit dem Buch seufzte und griff nach einem Zaumzeug. „Kann ja nicht so schwer sein”, murmelte er, trat neben das nächststehende Pferd und überlegte, was als Nächstes zu tun sei. Das Tier jedenfalls war unkooperativ. Es drehte sich weg und quetschte den ihm Fremden gegen die Wand, nicht ohne ihm auf den Fuß zu steigen.

„Autsch!”

„Schnauze! Nicht, dass uns einer hört!”

„Das Drecksvieh hat mir die Zehen gebrochen!”

Der andere feixte schadenfroh und wagte sich ein paar Schritte weiter in den Stall hinein, betrachtete die Rösser im Lichtgeflacker, das immer hektischer erschien. Wenn er schon die freie Auswahl hatte, wollte er sich schon an einem besonders guten Pferd bedienen. Bis zum yarlmálon Ferocrivé war es schließlich ein weiter Ritt.

Aber er kam nicht dazu. Aus einem der nicht belegten Abteile erhob sich unvermittelt ein bulliger Mann. Er richtete eine Mistforke bedrohlich gegen die beiden potenziellen Pferdediebe.

„Kerle!”, rief er aus. „Was habt ihr hier zu schaffen?”

Der Knecht, der näher bei ihm stand, fuhr erschrocken zurück. Das Wetterleuchten hielt gerade lange genug an, dass sie einander deutlich sehen konnten. Die beiden Knechte allerdings brauchten einen Moment, bevor sie erkannten, wen sie vor sich hatten. Es war erst wenige Gongschläge her, dass sie genau diesem Mann schon einmal begegnet waren.

„Ihr!”, schnauzte der Mann mit der Mistgabel verdutzt. „Was habt ihr hier zu schaffen?”

„Still!”, herrschte der Knecht mit dem Silberkorb ihn an. „Keine Aufregung!”

„Was wollt ihr Strolche? Euch hier unterstellen?”

„Wir sind gleich wieder weg!”

Der Mann kam näher, seine Mistgabel fest in der Hand. Unter dem Geflimmer musterte er die beiden Männer, die verunsichert, aber keineswegs verängstigt und mit eindeutig unlauteren Absichten mitten auf der Stallgasse standen.

„Seid ihr nicht die Strolche, die das kleine Mädchen mitgenommen haben?”

„Was machst du hier?”, fragte der mit dem Buch, schob grob das Pferd zur Seite und kam herbei. Im Vorbeigehen grabschte er nach einem schweren Lederzeug, das wohl zum Geschirr für eine Sänfte gehörte.

„Wonach sieht’s aus? War zu ahnen, dass Diebsgesindel lange Finger machen will! Hab ich Recht gehabt!”

„Warum biste nicht bei den Buntkerlen?”

„Den Mächten sei es geklagt! Einmal in all der Zeit besuch’ ich meinen Bruder inner Stadt, da kommt’n Unwetter! Hier drin ist’ sicher! Was soll ich sagen?”

Die beiden Knechte zögerten. In beiden nicht besonders schlauen Köpfen spulte dieselbe Folge von Gedanken ab.

„Packt das Lederzeug zurück”, forderte der Stallmeister. „Oder wollt ihr Zinken in die Visage, Diebsgesindel?”

„Reg dich ab! Wir woll’n gar nicht lange stören!”

„Rückt das Geschirr raus, ihr Halunken!”

Man gehorchte ihm. Das schwere Lederzeug wurde ihm mit Wucht entgegen geworfen und brachte ihn tatsächlich aus dem Gleichgewicht. Der Stallmeister der Regenbogenritter kam ins Taumeln, versuchte zwar noch, mit seiner Mistgabel abzuwehren und fand sich doch im nächsten Moment verstrickt in Zügel, Riemen und mit einem Messer am Hals wieder. Dass er sich so leicht überwältigen ließ, das war nicht zu erahnen gewesen.

„Wenn du auch nur einen Mucks machst, dann ist’s aus mit dir!”

„Mistkerle”, zischte der Stallmeister.

„Wo is’ dein Bruder? Sind da noch mehr?”

„Im Haus”, knurrte der Mann. „Noch. Die werden wohl gleich kommen!”

„Und was machste hier allein?”

„War mir zu voll geworden, im Haus. Bin ich nicht gewohnt, so viele Leute, so laut. Halten das verrückte Wetter für einen großen Spaß hier. Dummköpfe, alle miteinander. Kann besser auf die Tiere achten. Sind mir lieber!”

„Warum biste nicht auf der Burg?”

„Urlaub. Hab’s mir wohl auch schöner vorgestellt!”

„Aufstehen! Und keine Faxen1″

Der Stallmeister gehorchte. Die Mistgabel ließ er wohlweislich liegen.

„Hör mal”; begann der intelligentere der beiden Knechte. „Wir woll’n dir nicht ans Leben. Wenn du mitmachst, passiert dir nichts.”

„Mitmachen? Wobei?”

„Wir woll’n Pferde. Schnelle, starke Pferde. Such uns zwei ‘raus und mach Sattel und Zaum dran.”

„Seid ihr noch bei Sinnen? Sind die Tiere von meinem Bruder, ihr …”

„Zwei Stück. Und du siehst uns hier nicht wieder.” Der zweite Knecht hob die Forke auf. „Wird’s bald? Wir haben’s eilig!”

Der Stallknecht verschränkte die Arme und dachte wohl über die Möglichkeiten nach, die ihm blieben. „Was sagt’n Euer Herr dazu?”

„Der? Kann froh sein, wenn er uns nicht wieder sieht.” Die scharfen Zinken piekten nachdrücklich in den Bauch des Stallmeisters. „Los!”

„Kannst ja erzählen, man hat dich beraubt”, schlug der andere vor. „Wäre nicht gelogen. Los! Stark und schnell! Du kennst dich aus!”

Dem getreuen Knecht der Regenbogenritter blieb keine Wahl. Zwar hütete er sich, tatsächlich die beiden besten Rösser aus dem Besitz seines Bruders preiszugeben, aber er wählte zwei Tiere, die die beiden ehemaligen persönlichen Tagediener des ehrenwerten Úldaise Tiáramalé zügig und mit einiger Ausdauer aus der Stadt heraus tragen würden. Ihnen die letzten Schindmähren anzudienen, wagte er nicht. Und so standen kurz darauf zwei brave, wenn auch ob des Gewitters sehr nervöse Rösser zur Verfügung.

„Was habt ihr mit dem kleinen Mädchen gemacht?”, fragte er dabei.

„Nichts, was dich anginge.”

„Der kleine Buntkerl hat das Gör entführt”, gab der andere allzu arglos Auskunft.

„Und deshalb”, knurrte der erste verärgert, „müssen wir schleunigst weg. Der alte Úldaise wird stinksauer sein!”

Die beiden packten die Zügel der Pferde und führten sie zur Tür. Draußen fiel der Sand weiterhin in Batzen herab. Die Pferde erschraken davor und scheuten. Aber die Knechte kannten keine Bedenken. Ungelenk erklommen sie die Sättel. Reiten konnten beide, halbwegs. Und die Mietpferde waren es gewohnt, ungeschickten Reitern zu gehorchen

„Ihr kommt nicht weit”, gab der Stallmeister zu bedenken.

„Wir werden sehen. Auch das schlimmste Gewitter geht zu Ende!”

„Mach dir keine Sorgen!”, rief der mit dem Buch gegen den Donnerschlag an, der den nächsten Blitz begleitete. „Du hattest keine Chance!”

Mit diesen Worten lenkte er sein Pferd herum und versetzte dem Stallmeister einen so heftigen Tritt gegen die Brust, dass der Mann erneut zu Fall kam. Der andere zwang das Pferd im Galopp über den benommenen Körper hinweg. Dann preschten beide in Richtung Marktplatz, darüber hinweg, unter den verwirrten Blicken einiger Nachtschwärmer, die unter den Arkaden verweilten, und fühlten sich dabei wie von allen Seiten mit Matsch beworfen. Auch die Pferde machte es scheu. Sie sprengten über den Platz unter dem flimmernden Himmel in die Nacht hinein. Natürlich kannten die Mietpferde den Weg zum nächsten Tor und waren vertraut mit ungelenken Reitern.

In der Unterstadt hatte man noch nicht bemerkt, was die Bewohner oben in den Villen mit Erstaunen zur Kenntnis nahmen; zumindest all jene, die sich gerade zu ebener Erde aufhielten. Und das war das Wasser, das oben, vom zentralen Hügel herabzurinnen begann, weit mehr als nur das Ergebnis der sandigen Regenschauer. Erst murmelnde, sprudelnde Bächlein, die nach und nach anschwollen zu reißenden Fluten und den gefallenen Sand und gleich auch den Unrat von den Straßen in die Unterstadt hinab spülten. Woher das Wasser kam, das sahen nur die direkten Anwohner des Ratspalastes, die Stadtwachen in ihrem Quartier, die jungen maedloray, die in ihren Bürohäusern wohnten.

Es sprudelte aus dem Brunnenraum unter dem Palast hervor, so heftig und stark und unaufhaltsam, als sei ein Damm tief unter der Erde gebrochen. Zu allen Seiten strömte das Wasser den Hügel hinab und hinunter in die Stadt.

Und so verschwanden die Knechte von Úldaise Tiáramalé auf gestohlenen Rössern unter dem gespenstischen Gewitter aus Aurópéa, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Mit ihnen verschwand ein wenig Silber, das einstmals von Schattensängern für kleine Zauber und profane Alltagsdinge verwendet wurde. Mit ihnen verschwand desgleichen ein Buch, das niemals hätte geschrieben werden dürfen.