Das Wasser, das mit jedem Atemzug höher im Brunnen aufstieg, beunruhigte Úldaises Knechte. Allerdings nicht so sehr, dass sie nicht noch die Zeit gefunden hätten, zuvor alles zusammenzuraffen, was ihnen unter den eingelagerten Besitztümern ihres Herrn irgendwie von Wert zu sein schien. Im Wesentlichen waren das kleinere Silbergegenstände, die sie in einem der Körbe verstauten. Es war weit weniger, als sie zu finden erhofft hatten. Doch mit all den Büchern und Pergamenten konnten sie nichts anfangen, ein Jammer. Vielleicht hätte ein gelehrter forscor oder maedlor, der alte Lektüre sammelte, dafür noch ein paar Münzen springen lassen. Und so landeten die meisten der alten Schattensängerbücher achtlos auf dem Boden, manche in Pfützen aus Wasser, das bereits über die Brunnenummauerung schwappte.

„Wir müssen raus hier”, sagte schließlich der Schlauere der beiden. „Wird zu nass hier!”

„Wart mal. Vielleicht is’ hier noch was!”

„Lass den Schund! Wenn der Brunnen überläuft, ist hier gleich alles überschwemmt!”

„So schnell wird’s nicht gehen!”

Sein Kumpan griff ärgerlich nach dem Korb und schaute bedenklich hinauf zu den Fenstern oben in den Wänden. Draußen schien es nun heftig zu gewittern, das trübe Licht flackerte. Der Regen klang sonderbar massiv, während er auf Vordach und den Platz platschte. „Also, mir reicht’s! Kann nicht schwimmen!”

„He! Guck mal, das hier!”

„Kommst du jetzt? Ich brauch dich nicht!”

Er bekam keine Antwort. Das Wasser rann derweil stetig über den Brunnenrand und ruinierte das alte Papier, das sie verstreut hatten, löste längst getrocknete Tinte von noch älterem Pergament. Aber sein Kamerad machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Obwohl er schon nasse Füße hatte, stand er still und betrachtete fasziniert ein Buch, das er in Händen hielt.

„Was haste da?”

„Weiß nicht. Aber ich glaub’, das ist was wert!”

„Warum?”

„Ist’n Verschluss dran.”

Das weckte nun doch das Interesse des Intelligenteren. Er kam mit seiner wertvollen Last näher und warf einen Blick auf das Werk, was den anderen so sehr faszinierte, dass er es unter allen Büchern ausgewählt hatte.

Das Buch war recht unscheinbar, nicht besonders groß, so handlich, dass es sich leicht in einer Tasche transportieren ließ. Der Einband aus schlechtem, schwarzem Leder war abgegriffen und verkratzt, so als sei es in regem Gebrauch gewesen. Der schmale Band sah eigentlich recht schäbig aus, überhaupt nicht wie ein gelehrtes Buch oder ein Roman, sondern eher wie ein Notiz- oder Wirtschaftsbuch, in dem man Zahlen, Informationen oder Gedanken niederschreiben konnte.

Jedoch, und das war das Interessante, es ließ sich nicht aufschlagen. Hinten am Einband war offensichtlich nachträglich ein Lederriemen befestigt, der das Buch zweimal umschlang, sich auf der Vorderseite überkreuzte und dort mit einer filigranen Silberschnalle geschlossen gehalten wurde. Ein zweiter Gurt mit Schlaufen war offenbar dazu gedacht, dass man das Buch an einem Gürtel befestigen und so immer mit sich tragen konnte.

„Mach mal auf!”

„Geht nicht. Die Schnalle ist zu.”

Der Schlauere nahm ihm das Buch ab und versuchte es selbst, aber der Verschlussgurt ließ sich nicht lösen. Einen Moment wog er die Dinge ab. Das Buch sah tatsächlich nicht kostbar aus; unter denen, die nun in den Pfützen aufweichten, waren einige gewesen, die deutlich wertiger und eindrucksvoller gestaltet gewesen waren. Andererseits – war es ausgeschlossen, dass eine verschlossene Schrift wertvolle Geheimnisse barg? Nun, das Buch war klein, leicht und passte noch mit hinein in den Silberkorb. Die Riemen konnten sie immer noch zerschneiden und nachschauen, wenn sie aus dem Brunnen, der Stadt und der Gegend heraus waren.

„Und jetzt komm! Ich will nicht im Brunnen ersaufen!”

Sie wateten durch den immer mehr gefluteten Brunnenraum zur Treppe hinüber und brachten sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, bevor das Wasser aus der Tiefe mit Wucht emporquoll, als sei ein unterirdischer Damm gebrochen.

Der Vorplatz des Palastes des konsej war zwischenzeitlich voller nassem Sand und völlig menschenleer. Die beiden Knechte eilten verwirrt unter die nächstgelegenen Dächer, während Sand aus den Wolken nieder klatschte und das Gewitterlicht über der Szenerie flackerte, wobei sich der Wechsel zwischen Hell und Dunkel immer weiter verstärkte, unsteter und intensiver wurde. Der Platz und die Gassen waren menschenleer, die Karambolage, bei der die Damensänfte den Weg hinab in die Südstadt blockiert hatte, hatten die Helfer wohl gerade noch beseitigen können. Die Knechte verloren keine Zeit und machten sich auf den Weg durch das Villenviertel hinunter in die Stadt, ein rutschiger Weg, denn der nasse Sand auf dem gepflegten Steinpflaster vertrug sich nicht mit dem leichten, für trockenes Wetter gefertigten Schuhwerk, das sie trugen.

Den beiden wurde es zunehmend unheimlicher, je weiter sie den Hügel hinunter kamen und dabei immer öfter ausglitten und schlitterten. Wer warf von da oben aus den Wolken mit Sand und was geschah mit dem natürlichen Licht? War es Tag, war es Nacht?

„Die Mächte!”, jammerte der eine. „Die Mächte zürnen uns!”

„Blödsinn! Wir haben doch gar nichts gemacht!”

„Nicht wir, Dummkopf! Die Menschen! Das ist nicht normal! Das Chaos kommt!”

„Quatsch keinen Blödsinn!”

Sie glitschten und hasteten weiter. Ab und zu wurde es für einige Herzschläge stockfinster, dann wieder taghell, so hell es an einem wolkenverhangenen Tag nun einmal werden konnte. Ganz leise klangen Gongschläge durch das irritierende Platschen des Sandes an. Irgendwo auf der Stadtmauer hatte wohl ein aufrechter Stadtdiener seinen Posten noch nicht aufgegeben. Dem Signal nach musste es Nacht sein.

Wenn es dunkel wurde, erkannten sie die Lichter. In den Villen und Häusern am Wegesrand hatten die Bewohner die Nachtbeleuchtungen entzündet, manchmal hörten die Männer aufgeregtes Stimmengewirr. In manchen Behausungen versuchte man wohl, gegen das absurde Unwetter anzufeiern, aber das klang eher trotzig denn beschwingt. Immerhin: Offenbar hatten alle Bewohner der Oberstadt es geschafft, in Gebäuden Zuflucht zu finden.

„Sollen wir wo reingehen?”

„Nicht hier! Unten in der Stadt! In eine Taverne!”

„Bist du irre? Mit all dem Silberzeug im Gepäck?”

Das war ein triftiges Argument. Sie bogen auf eine Hangstraße, von der aus sie einen Blick in die Unterstadt werfen konnte. Auch dort waren die Häuser beleuchtet, soweit das Licht durch geschlossene Läden und Torbögen dringen konnte, aber auch hier war niemand im Freien zu sehen. Als die beiden mit ihrem Schatzkorb den ersten Marktplatz erreichten, war die Freifläche zwischen den Häusern verwaist. In den Tavernen und Herbergen ringsum hingegen standen die Menschen so dicht gedrängt, dass sich teils die Türen nicht mehr schließen ließen. Das Nachtvolk, das keinen Platz mehr innen fand, drängte sich unter den Arkaden an die Mauern, und einige finstere Gesellen hatten sich sogar in der Marktzelle niedergelassen, die wohl in dieser Nacht keinen Unglücklichen beherbergte. Die Geräuschkulisse klang hier unten in der Stadt wesentlich aggressiver. Die Wirte machten sicherlich das Geschäft ihres Lebens, die Diebe und Räuber desgleichen. Úldaises Knechte ernteten einige verächtliche Blicke. Platz machen würde ihnen niemand.

Einen Augenblick lang überlegten die beiden Männer, was sie tun konnten. In ein Gebäude zu flüchten, war keine Option. Aber der Mietstall, wo sie am Mittag die Pferde abgegeben hatten, der war in der Nähe.

Vielleicht war es dort einen Versuch wert.

***

Die yarlara von Moréaval, der mestar und die opayra hatten die Burg systematisch und Raum für Raum durchsucht, natürlich nicht bis in den letzten Winkel und mit Blick unter Betten und in Kisten, dann es war nicht zu erwarten, dass die Ritter oder teiranday mit den Kindern Verstecken spielten. Aber trotz des schlimmen Wetters und des einsetzenden merkwürdigen Niederschlags waren sie auch im Freien gewesen, hatten dem Regen getrotzt und doch keinen Erfolg erzielt. Aber als die drei am Ende wieder in der Halle zusammentrafen und keine einzige der vermissten Personen ausfindig gemacht hatten, stellte sich Ratlosigkeit ein, zumal im Stall kein Pferd fehlte. Somit war auszuschließen, dass die Ritter mit ihren Söhnen oder die teiranday mit ihrer Tochter, aus welchem Grund auch immer, zur Unzeit ausgeritten waren.

Natürlich war dem übrigen Burggesinde nicht entgangen, dass die Edeldame und die beiden hochgestellten Bediensteten auf der Suche nach den Herrschaften waren. Die yarlara hatte schließlich begonnen, in der Halle den einen oder anderen unter den Knechten, Mägden und Hochgestellten beiläufig zu befragen, aber niemand, mit dem sie sprach, hatte einen der Vermissten seit dem Mittag zu Gesicht bekommen.

In der Halle war zwischenzeitlich einiges an Beleuchtung entzündet worden, und es war auch deutlich voller geworden. Während draußen die einsetzende Nacht den Himmel zusätzlich zu dem Dauerregen verdunkelte, suchte das Burgvolk die Gemeinschaft.

„Am Mittag”, erinnerte sich auf Befragen der Schreiner, „war yarl Althopian bei mir. Er wollte eine Reihe an Werkzeug ausleihen. Sogar eine kleine Leiter hat er mitgenommen.”

„Werkzeug?”, fragte der mestar.

„Bei mir war er auch”, schaltete sich ein Maurer ein, der am selben Tisch saß. „Ganz sonderbare Wünsche hatte er. Einen Meißel und einen Hammer dazu wollte er haben. Ich hab mich noch gefragt, was der Herr damit vorhatte.”

Yarl Emberbey hab ich gesehen”, erzählte eine Küchenmagd, die gerade eine Schüssel wärmende Brühe auftrug. „Sah aus, als ob er Wache hielt, draußen, am Turm.”

„Am Turm? Wieso denn das?”

„Ich weiß nicht, Herrin. Aber ich dachte mir noch, der alte Mann wird sich sicher fürchterlich erkälten in dem Regen.”

„Der Turm”, dachte der mestar laut nach. „Da hatte ich nicht nachgeschaut.”

„Warum auch. Wieso sollten sie alle zusammen im Turm sein? Da ist doch nichts.”

„Es sind Vorratskeller da unten, und der verschlossene Raum ganz oben.”

„Ob sie da nach dem verschwundenen Kind gesucht haben?” Die opayra rang besorgt die Hände.

„Zu sechst? Möglicherweise mit den Kindern? Das ist höchst unwahrscheinlich.”

„Ich will dennoch nachschauen.” Die yarlara hielt einen der vorbeilaufenden Knechte an und trug ihm auf, eine Laterne zu besorgen.„Wer weiß, was sie dort zu schaffen haben.”

„Ich weiß nicht, Herrin. Ich glaube nicht, dass das die Sache wert ist.”

„Das lasst mich selbst sehen”, gab sie zurück. Der mestar verneigte sich. Gegen den Entschluss der Dame konnte er nichts vorbringen.

Sie bekam ihre Laterne, zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und begab sich hinaus in Nacht und Regen, ließ die belebte Halle hinter sich und lief über glitschiges Pflaster und durch breite Pfützen hinüber zum Turm, der selbst gegen den wolkenverhangenen Nachthimmel hoch und bedrohlich aufragte.

„Wartet!”

Die yarlara hielt inne. Es war die opayra, die hinter ihr durch das Wasser platschte. Die ältere Dame war außer Puste, als sie aufgeholt hatte.

„Was ist?”

„Ihr solltet nicht allein dort hinein gehen!”

„Warum nicht?”

„Ich weiß nicht. Es ist ein ungutes Gefühl. Mir … mir ist unwohl, wenn ich daran denke, was in diesem Turm lauern könnte.”

„Lauern? Da drin sind Lebensmittel und etwas Gerümpel, wenn ich mich recht erinnere.”

„Ich weiß. Aber dennoch … Herrin, ich habe diesen Turm niemals gern betreten. Aber nun erscheint er mir noch unheimlicher als zuvor.”

„Ach, kommt nur. Wir werfen einen Blick hinein und finden hoffentlich die ganze Gesellschaft darin vereint an.”

Die Frauen gingen hinüber zu der Treppe, die zum Hocheingang führte. Ein stiller Blitz, ohne nachfolgenden Donnerschlag, erhellte das Gebäude für einen kurzen Moment. Die yarlara schauderte. Ließ sie sich tatsächlich von der bangen Stimmung der alten Dame anstecken?

„Autsch!”

„Was ist nun wieder?”

„Ich habe mich vertreten. Hier liegt etwas am Boden!”

Die yarlara leuchtete. Tatsächlich. Am Fuß des Turms lagen Scherben. Offenbar waren moosbewachsene Dachschindeln herabgestürzt.

„Vielleicht der Sturm oder ein Blitz, der den Turm gestreift hat.”

„Bei den Mächten”, wisperte die opayra. „Wenn das jemanden getroffen hätte, so wie die unglückliche yarlara von Althopian, möge sie hinter den Träumen in Frieden sein!”

Die Erinnerung an jene andere Edelfrau, die ein ganz ähnlicher Vorfall vor einigen Monden aus dem Weltenspiel gerissen hatte, ließ die yarlara schaudern. Aber das musste sie vor der opayra nicht zeigen. Sie wandte sich ab und stieg die Außentreppe hinauf, nur um oben vor einer fest verschlossenen Tür zu stehen zu kommen.

Das war tatsächlich ungewöhnlich. Der äußere Riegel stand wie üblich offen, und dennoch ließ die schwere Pforte sich weder aufziehen noch drücken. Wie konnte das sein? Diese Turmtür wurde nie versperrt und schon gar nicht von innen. Schließlich musste den Tag über Küchenpersonal Zutritt zu den kühlen Vorratskellern haben. Waren die anderen tatsächlich in den Turm gegangen? Warum hatten sie sich eingeschlossen.

„Hallo?”, rief die yarlara und klopfte gegen das regenfeuchte Holz. „Ist jemand da drin?”

Natürlich bekam sie keine Antwort, auch nicht, als sie mit ihrer zarten Faust dagegen hämmerte.

„Vater? Tíjnje? Láas? Seid ihr da drin?”

„So kommt doch zurück!”, bat die opayra, die unten an der Treppe stand und im Regen ihr über den Kopf gezogenes Schultertuch umklammert hielt. „Lasst uns wieder ins Trockene gehen!”

„Wartet!” Die yarlara legte das Ohr an die Tür. Natürlich war das lächerlich. Durch die dicke Holztür wären keine Stimmen zu hören gewesen, zumindest nicht, solange dahinter nur in normaler Lautstärke geredet wurde.

Umso mehr erschrak die junge Frau, als sie tatsächlich etwas hörte. Im Turm schwappte etwas. Es klang wie Bier in einem halb gefüllten Fass, das auf einem Karren über Schotter transportiert wurde. Nur … lauter.

Die yarlara tat einen Schritt zurück und starrte die Tür verwirrt an. Regnete es etwa in den Turm hinein? Der Gedanke war lächerlich. Selbst wenn es tagelang in dieser Intensität und durch das vermeintliche Loch im Dach geregnet hätte, konnte das Wasser unmöglich so hoch stehen, zumal es zuvor in den Keller hätte laufen und diesen fluten müssen. Und müsste es dann nicht unter der Tür hindurch auf die Treppe laufen?

„Tíjnje!” Die yarlara bekam es mit der Angst und schlug mit beiden Fäusten gegen die Tür. „Tíjnje! Láas! Vater!”

Die opayra erklomm die Treppe. „Beruhigt Euch, Herrin! Was ist geschehen?”

„Hör doch selbst! Hörst du es gluckern und wogen? Das ist nicht geheuer!”

Die ältere Dame lauschte. Ihre Miene veränderte sich. Aus Unglauben und Irritation wurde Angst, wurde Entsetzen. Dann packte sie die yarlara flehend an den Armen. „Kommt mit! Schnell! Wir müssen es den anderen sagen!”

„Was ist das? Wie kommt das Wasser dort hinein?”

„Das mögen die Mächte wissen! Schnell, schnell! Wir brauchen Hilfe! Der mestar …”

„Der mestar?”

„Vielleicht weiß er aus seinen Schriften, was es sein kann!”

Die yarlara hatte nicht den Sinn, dies infrage zu stellen, obwohl sie es für sinnreicher hielt, sich zunächst an die starken Männer, den Schmied und seine Gesellen, an die Dienstknechte zu halten. Aber was tat es? In Windeseile würde sich herumsprechen, dass es im Turm nicht mit rechten Dingen zuging.

„Kommt! Kommt mit!” Die opayra zerrte unbotmäßig am Mantel der Dame, und beide rannten so schnell die Treppe hinab und über den Hof, wie es mit ihren feinen Schuhen und auf dem glitschigen Untergrund möglich war.

Fast zu spät bemerkten sie den Reiter, der just in diesem Moment das Tor passierte und mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf den Hof preschte. Um ein Haar hätte der Mann die beiden aufgeregten Frauen über den Haufen geritten. Gerade noch rechtzeitig konnten die beiden ihm aus dem Weg springen, während sein Ross schlitternd zum Stehen kam, silbrig gleißende Funken unter seinen Hufen versprühend.

***

Dýamirée verfluchte sich für das, was sie gerade getan hatte. Aber was nützte das? Ach, hätte sie nur auf Advon gehört und gewartet. Aber die Stimme der Mutter, die war zu verlockend gewesen. Wie hätte die Stimme des Freundes sie da halten können?

Sie waren mit Farbenspiel zunächst auf den Wehrgang geflogen. Von dort aus hatte Advon sein Reittier über die Treppen und Brücken gelenkt, die von den Mauern zum mittleren Turm und von dort auf unterschiedlichen Höhen wieder zu den seitlichen Türmen führten. Wo eine Brücke an ein Gebäude stieß, gab es jeweils Simse vor Torbögen, die ins Gebäudeinnere führten. All das hatte Dýamirée flüchtig schon am Tag bemerkt; nun sah sie es aus der Nähe und fand, diese Bauweise sei äußerst praktisch. Sicher konnte man auf diese Weise kreuz und quer durch den Cielástel laufen oder reiten, sofern ein Einhorn seine Flügel dabei einklappte.

Farbenspiel war über Abgründe hinweg gesprungen und hatte trittsicher steile Treppen bezwungen. Ungefährlich gewesen war das nicht, das hatte das Mädchen gespürt, ohne dass der Junge es hätte ausdrücklich sagen müssen. Um den Cielástel tobten heftige Seitenwinde und versuchten, das Einhorn fort zu pusten, so wie Dýamirée das manchmal, daheim, dort, wo keine Monster, Frieden und Liebe waren, es mit den Samenschirmchen von den rosa Fuchszähnchen machte, um ihnen zu helfen, sich auszusäen.

„Ich traue dem Wind nicht”, hatte Advon erklärt. „Wetten, wenn wir fliegen, bläst der uns mit voller Wucht gegen die Wand oder zurück in die Wüste.”

Farbenspiel hatte zustimmend geschnaubt, also musste das wohl stimmen. Und so hatte es eine Weile gedauert, bis sie die oberste Außentreppe erreicht hatten, dort, wo es unterhalb der Turmspitze eine umlaufende Plattform gab, breit genug, dass sogar zwei oder drei Einhörner hintereinander dort stehen konnten. Ein besonders prächtig verzierter Torbogen führte in den Turm; gleich dahinter sah Dýamirée den Absatz einer Wendeltreppe, die noch ein Stück weiter hinauf führte.

Dýamirée ließ sich von Farbenspiels sandbeschmiertem, klatschnassen Rücken gleiten, strampelte kurz, während sie sich an seinem Flügel festzuhalten versuchte, und landete einmal mehr unsanft auf dem Boden. Kurz erschrak sie, dann der Cielástel war zwischenzeitlich tatsächlich fast durchsichtig. Am helllichten Tag hätte sie durch das transparente, bunte Material hindurchschauen und in die Tiefe sehen können; im Wetterflimmern erahnte das Mädchen nur im Ansatz, wie tief es hinab ging.

Und dann war da noch etwas anderes, etwas Verlockendes. Etwas, das sich in dem grässlichen Regen, in dem die schöne bunte Burg verlosch, so tröstlich, so warm, so gut anfühlte.

„Mama!”

„Dýamirée! Bleib hier! Warte auf mich!”

„Aber meine Mama ist da! Das Netz … spürst du es nicht auch? Da drunter sind wir sicher!”

Advon sprang von Farbenspiel ab. Der Hengst faltete seine Flügel und streckte seinen Kopf durch das Tor. Dýamirée tappte voran. Über ihnen, gar nicht weit entfernt, doch unverständlich unter dem Klatschen des Sandregens und Pfeifen des Windes, da erkannte sie nicht nur die Silberwärme vertrauter, dunkler Magie. Da war noch etwas viel besseres, das Schönste, Begehrlichste, was das Mädchen sich nach all dem, was es durchgemacht hatte, vorstellen konnte. Die Stimme, der Tonfall der Mutter. Dýamirées Herz begann, ganz laut zu pochen. Da war sie, nur ein paar Treppenstufen entfernt!

„Dýamirée!”

Aber sie hörte nicht auf sein warnendes Rufen und war auch um eine Winzigkeit zu schnell für ihn. Blind vor Freude hastete das kleine Mädchen ihrer Mutter entgegen.

Aus der Gegenrichtung, gerade noch verdeckt und unsichtbar, kam jemand die gewundene Treppe hinab. Dýamirée erschrak, prallte mit der anderen Person zusammen und fühlte sich im nächsten Moment von einer viel zu starken Hand am Arm gepackt und von den Treppenstufen hochgehoben.

Das Mädchen starrte erschrocken in das verrunzelte Gesicht und die wild funkelnden Augen ihres Gegenübers. Dann begann es, zu schreien. „Mama!”

„Ja”, zischte der Ankömmling ihr zu. „Schrei nur, du kleine Kröte! Schrei so laut, dass sie dich bis in die Wüste hören! Und du …”, ein goldverzierter Gehstock stieß aggressiv in Advons Richtung und hielt ihn auf Abstand, „du bleibst zurück. Was fällt dir ein, ungehorsamer Bengel!”

Der Junge wich zurück. Farbenspiel fletschte seine Zähne.

„Halt deinen Gaul fest, Advon Irísolor. Mach Platz. Sonst wird es schlimm für euch!”

Da war keine Furcht in alten Augen, nur ein unheilvoller, erfreuter Triumph. Advon wich zurück und war hilflos vor Bestürzung.

Mit völlig unangemessener Kraft, hoch aufgerichtet und mit einer Aura des Irrsinns um sich herum gewappnet, zerrte Siledaú Dýamirée die Treppe hinab und schritt unbeeindruckt an dem Einhorn vorbei ins Freie, in den Regen und den Sturm.