
Je näher Perlenglanz dem Cielástel kam, mit umso größerem Entsetzen wurde Cýelú gewahr, dass das Gebäude sich veränderte, zwar nicht in seiner Form, die war nach wie vor das, was ihm vertraut war. Aber alles, was der Cielástel tags und nachts, unter dem Licht der Gestirne gezeigt hatte, als kräftiges, fröhliches, kunterbuntes Strahlen oder als mystischer, geheimnisvoller Glanz, das war weg. Dabei war vollkommen offensichtlich, dass das mit dem Regen zusammenhing. Er spülte die Macht der Farben hinweg wie bunte Kreide, mit der Kinder auf der Straße gemalt hatten.
Cýelú hatte den Raben kurzerhand vor sich auf dem Sattel festgeklemmt und drückte ihn mit der Hand nieder, damit er in den Turbulenzen nicht weggerissen wurde, mit denen Perlenglanz zu kämpfen hatte. Längst war es kein Sandsturm mehr und auch kein nadelspitzer Hagel. Der Sand lagerte sich auf der goldenen Rüstung des Regenbogenritters ab wie nasser, schwerer Schnee, drang in die Zwischenräume des Rüstzeugs unter seine Gewänder und bis auf die bloße Haut und fühlte sich dabei unsagbar irritierend an. Unter der Nässe pulsierte seine maghiscal nur schwach. Zu einem halbwegs wirkungsvollen Bann würde es nicht reichen, nichts, womit sich der Chaosgeist zurückschlagen ließe, sollte er sich aus der Wüste heraus wagen.
Viel zu langsam waren sie. Der Gegenwind war selbst für das Einhorn eine Herausforderung. Wahrscheinlich wackelte hinter ihnen ein gefährliches Monster auf die Burg zu. Nun, zumindest kam der Vogel wieder zu sich.
Zu acht würden sie mit dem Monster wohl fertig werden. Solange es ein einzelnes Monster blieb und es mit den Kräften der Sieben besser stand als mit den seinen.
Ist es weg?, wisperte der Rabe schwach bis zu in seine Gedanken.
„Nein. Ich denke, es jagt uns nach”, gab der Goldene knapp zurück.
Führt Ihr es zum Cielástel?
„Was soll ich denn anderes machen?”, fauchte Cýelú gereizt. „Es nach Aurópéa führen? Ich brauche Verstärkung, um es zu besiegen!”
Das ist gut, murmelte der Rabe und strampelte sich erschöpft frei. Bitte, nehmt Eure Hand von mir herunter. Es ist ohnehin zu viel Gold an Euch für meinen Geschmack!
Cýelú schnaubte verächtlich, tat dem Vogel aber den Gefallen. Das Tier nahm seinen Schnabel zur Hilfe, um sich am vorderen Sattelbogen hochzuziehen und festzukrallen. Zwischen Perlenglanz’ Flügeln saß er leidlich sicher.
Danke, sagte der Vogel.
„Wofür?”
Ich habe nicht daran gezweifelt, dass Ihr zurückkehren und mich retten würdet. Und das, obwohl Ihr mich nicht ausstehen könnt.
„Dann sind wir jetzt wohl quitt.”
Noch längst nicht. Über die Entführung meiner Tochter werden wir noch zu reden haben. Aber nicht jetzt. Eines nach dem anderen.
Der Regenbogenritter zögerte. War es nun tatsächlich der richtige Moment, es anzusprechen?
„Der Chaosgeist”, sagte er leise, „hat meinen Sohn getötet.”
Der Rabe schaute sich mit silbern glimmenden Augen fragend zu ihm um.
„Ich habe sein Messer in der Grube gefunden”, brachte Cýelú hervor und nun erst erfasste er in Gänze, was das bedeuten mochte, und das Herz unter seiner Rüstung krampfte sich zusammen. Der Schattensänger war respektvoll genug, um ihn in seinem Schmerz nicht zu unterbrechen.
Das, ergriff er erst nach einigen Augenblicken wieder das Wort, muss überhaupt keine Bedeutung haben. Euer Sohn kann es bereits zuvor dort verloren oder bei der Flucht vor dem Wesen von sich geworfen haben.
Cýelú wischte sich Sandmatsch und die verräterischen Tränen aus dem Gesicht. Was redete der Kerl?
„Sorgt Ihr Euch denn nicht, es könne Eure Tochter gleich mit verschlungen haben? Wenn die Kinder beieinander waren, dann …”
Wenn der alte Mann die Wahrheit gesagt hat, fiel der Rabe ihm ins Wort, war auch das Einhorn mit dabei. Hätte das treue Tier seinen Herrn im Stich gelassen?
„Advon ist ein Kind! Sein Einhorn ist wenig mehr als ein Füllen! Es ist nicht einmal richtig eingeritten!”
Und doch sind die beiden bereits über ihren Willen verbunden, nicht wahr? Ebenso wie Ihr und das tapfere Geschöpf, das uns hier durch das Unwetter schleppt.
„Advon ist kein Magier!”
Ist das unabdingbar, um die Freundschaft eines solchen Tieres zu gewinnen?
„Es macht es um vieles einfacher. Advon hat die Macht nicht, es zu meistern.”
Noch nicht.
„Was denkt ihr Euch eigentlich, was …”
Ihr wisst doch selber, wie ich das meine, nicht wahr? Für wie naiv haltet Ihr mich? Denkt Ihr, ich hätte sie nicht längst bemerkt, die Wahrheit?
Cýelú runzelte die Stirn. Wenn der Schattensänger das meinte, wonach es klang, dann …
Ich wette, unsere Kinder sind ebenso beieinander unterwegs wie wir beide nun und auf demselben Weg. Mögen die Mächte geben, dass die zwei nicht mit denselben Vorbehalten geblendet sind wie …
„Wagt es nicht.”
Der Rabe verstummte. Aber nicht lange. Er drehte sich, mühsam gegen den Wind flatternd um und musterte den Ritter mit seinen glänzenden Augen, während der seinen Blick starr zwischen den Ohren des Einhorns hindurch auf die Cielástel gerichtet hielt und versuchte, den gefiederten Passagier zu ignorieren.
Habe ich es dem Gespräch mit den ehrenwerten Alten richtig entnommen? Der unerfreuliche Ort dient den Leuten von Aurópéa dazu, Übeltäter hinter die Träume zu befördern?
„Seit geraumer Zeit, ja. Sie überlassen es jetzt der Wüste, statt sich selbst die Hände blutig zu machen.”
Von wie vielen Unglücklichen reden wir dabei?
„Nun ja. Alle paar Tage ein halbes Dutzend wohl, manchmal mehr, manchmal weniger.”
Bei den Mächten! So viel an Verbrechen in der Stadt? Was ist da in Aurópéa außer Kontrolle?
„Wessen Kontrolle? Wir haben damit nichts zu schaffen. Aber offenbar herrscht Úldaise Tiáramalé mit fester Hand auch über kleinere Übel. Viel zu ändern scheint es nicht.”
Und Euersgleichen sieht sich das ruhig an?
„Was bleibt uns übrig? Wir lassen die Stadt in Ruhe. Sie wollen nichts von uns wissen. Und wir geben ihnen keinen Grund für … Zwist.”
Ihr haltet Euch aus Unrecht heraus?
„Wir mussten es ihnen schwören, damals nach den Chaoskriegen. Sie trauen uns nicht mehr.”
Meinesgleichen, gestand der Rabe, ging all die Zeit davon aus, dass euersgleichen geliebt und geschätzt sei.
„Sie werden uns schätzen. Wir haben unsere Pflicht getan und die Chaosgeister zurückgedrängt. Das allein ist unsere Schuldigkeit.”
Ich fühle mit Euch. Auch meinesgleichen ging es ähnlich.
„Wundert Euch das? Nach allem, was aus dem Boscargén herausgekommen ist?”
Der Rabe plusterte sich auf. Cýelú war froh um jeden Atemzug, den er schwieg. Der Wind peitschte von beiden Seiten und warf Perlenglanz immer wieder hin und her, dass es sich anfühlte, als stolperte das Tier in der Luft über Fußangeln.
Im Boden, fuhr der Schattensänger fort, lag kein einziger Knochen.
„Ja, das war uns auch schon seltsam vorgekommen.”
Niemand ist an dieser Stätte gestorben. Weder die Verurteilten aus Aurópéa, noch meine Tochter, noch Euer Sohn. Dieser Platz an der Wüste ist kein Ort für das Licht.
„Und was dann? Und wie konnte ein Chaosgeist unbemerkt dorthin finden? Wir haben die Brut ins Chaos zurückgehetzt, bei den Mächten! Wir haben am Rand der Wüste gewacht, um sie darinnen zu halten! Wie konnte dieser hier ausbrechen?”
Weil jemand es gelockt hat. So wie ein tückischer Jäger seine Beute anfüttert, mit Ködern, die er sich selbst heranzüchtet. Reitet zu, Cýelú Irísolor. Hoffen wir, dass es noch nicht zu spät ist.
***
Der Hebemechanismus der Zugbrücke war zum Glück nicht allzu kompliziert. Allerdings hatte keiner der drei Männer jemals etwas Derartiges bedient, sodass es einige Versuche benötigte, die richtigen Handgriffe zu tun. Galéon war froh um die Hilfe des Maultierführers, der sich mit mechanischen Vorrichtungen noch am ehesten auskannte. Der maedlor mochte einmal in einem klugen Buch darüber gelesen haben, aber sehr bewandert schien er nicht. Letztlich war es aber seine Kraft, die den Ausschlag dafür gab, dass sie die Brücke zügig in die Höhe bekamen und sichern konnten.
Galéon war sich nicht sicher, ob das aufgebrachte Chaosgeister in erwähnenswerter Weise aufhalten würde, aber mehr als eine räumliche Barriere brachten sie ohne die Magier nicht zuwege. Der báchorkor lehnte sich erschöpft einen ganz kurzen Moment an eine Wand und holte tief Luft und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, standen der maedlor und der Maultiermann erwartungsvoll vor ihm. Warteten sie etwa auch eine Anweisung von ihm? Vom báchorkor?
„In den Stall”, entschied er. „Wir müssen uns um die alten Leute und die Tiere kümmern.”
Zwischenzeitlich regnete es Sand vom Himmel. Nass und schwer platschte er vom Himmel herab. Die Männer eilten hinüber in das Gebäude, in dem zuvor der Junge mit der Sänfte und dem Pferd verschwunden war. Während die beiden Unkundigen hineinschlüpften, blieb der báchorkor stehen, schützte seine Augen mit den Händen gegen die fallenden Kleckse, die den milchigen Boden bereits fingerdick bedeckten. Hier und da rutschten größere Batzen von Dachschrägen ab und klatschten nieder.
Das Einhorn schritt vorsichtig oben auf dem Wehrgang entlang und setzte seine Hufe so achtsam voreinander, als bewege es sich über Eis. Sicherlich war die sandverklebte Oberfläche ähnlich glatt.
Wie war es dort hinaufgekommen? Die Kinder waren noch bei ihm, das schwarze Kleidchen des Mädchens und die perlmuttschimmernden des Knaben stachen gegen den grauen Himmel ab, aus dem die Wolken den Sand schleuderten wie ein Wasserspiel.
Galéon fluchte und flüchtete dann auch in den Stall. Hätten die beiden nicht noch diesen kurzen Moment auf ihn warten können? Er musste schnell hinterher!
Drinnen war der maedlor dienstbeflissen dabei behilflich, dem sinor Saháalír aus der Sänfte zu helfen. Einen einfachen Klappsessel hatten sie vorsorglich mitgebracht. Die sinora stand bei der Tür und versuchte, mithilfe eines Taschenspiegels und einem kostbaren Taschentuch ihre verwischte Schminke ganz vom Gesicht zu wischen. Ihre zerzauste Perücke hatte sie sich zumindest wieder gerade auf den Kopf gerückt. Der Maultierführer schickte sich an, seine Tiere abzuschirren.
Galéon ließ sie alle gewähren und warf einen Blick in den Stall. Dort war es düster, ein unheimliches, unbestimmtes Licht. Eigentlich, überlegte der báchorkor, musste es bereits tiefe Nacht sein. Aber die Wolken leuchteten nach wie vor, als seinen panisch umhersummende, grau leuchtende Schwärme von Glühkäfern darin eingesperrt.
Der junge Mann wagte sich ein paar Schritte vor. Die helleren Einhörner, das Gelbe und das Orangene, waren in ihren goldenen Käfigen zu erkennen. Eines war dabei, dessen Fell golden glänzte. Und im Verschlag daneben stand das Ross des maedlor neben einem, das Galéon sofort wiedererkannte.
Er lief zurück in den Vorraum, wo Saháalír zwischenzeitlich auf seinem Sessel saß und der maedlor sich an einer Stalllaterne zu schaffen machte. Sicher gab es hier noch mehr davon, womit sie sich ein wenig Licht machen konnten.
„Báchorkor!“, gebot Saháalír. „Komm her!”
„Herr? Ich bin nur ungern ungehorsam, aber ich darf die Kinder nicht lange aus den Augen lassen.”
„Komm her”, beharrte der Greis. Galéon gehorchte widerwillig.
„Úldaise Tiáramalé ist hier”, erklärte er, um seine Dringlichkeit zu verdeutlichen. „Wahrscheinlich ist er bei den Magiern. Ich darf nicht zögern!”
„Was ist hier geschehen, báchorkor? Sag es uns! Was hat all das zu bedeuten?”
„Herr, es ist keine Zeit für eine Geschichte!”
„Gib uns wenigstens eine Zusammenfassung”, bat die sinora. Ihr Taschentuch konnte keine weitere Farbe aufnehmen, aber zumindest war ihr Gesicht nun in einem gleichförmigen Farbton verschmiert.
„Lass hören”, fühlte der maedlor sich zu einer Äußerung verpflichtet. „Was für ein Wahnsinn geht hier in der Wüste vor? Was ist mit der Burg los? Wo sind die arcaval’ay? Warum unternehmen sie nichts?”
„In der Wüste, ehrenwerte sinoray, edler Herr, hat jemand seine Macht und Eure Arglosigkeit dazu genutzt, Menschen den Chaosgeistern vorzuwerfen. Jemand hat die Kreaturen trickreich angelockt, und wenn die Mächte und die arcaval’ay uns nicht beistehen, wird es schlimm werden.”
Die sinora wankte, schien einem Schwächeanfall nahe. Zum Glück stand der maedlor neben ihr, konnte sie stützen und einen Schemel heranziehen, auf dem sie sich niederlassen konnte. Im Licht der Stalllaterne war sein Gesicht nun ebenfalls erkennbar kreidebleich.
„Die Chaosgeister sind frei und nahe? Aber … wieso?”
„Das”, sagte Galéon ungeduldig, „weiß wohl nur der, der diesen Wahnsinn angestoßen hat. Der, dem das Pferd dort hinten im Stall gehört.”
„Chaosgeister!” Der maedlor lachte hilflos. „Das ist doch eine Geschichte, oder? Das ist doch hanebüchener Blödsinn, wie ihn ein báchorkor von sich gibt, oder etwa nicht? Du erzählst uns doch nur dumme Märchen, oder?”
„Du hast mich durchschaut, du kluger, gelehrter Mann. Das ist das naheliegendste, was mir einfällt, wenn der Boden vom Himmel fällt und Tag und Nacht sich vermengen wie Essig und Öl! Sei stolz auf deinen Scharfsinn und halte dich daran fest.”
Der maedlor starrte und schien einen Moment so unbeherrscht, Galéon für eine so freche Antwort ohrfeigen zu wollen. Dann begriff er, wie wirklich all das war, und gab ein Wimmern von sich.
„Sind wir denn hier sicher?”, fragte der Maultierführer, der seine Tiere vom Geschirr befreit hatte. „Hier, im Haus von den Buntkerlen?”
„Der Junge sagt, hinten im Stall ist ein Verschlag frei.” Saháalír schaute peinlich berührt zwischen seinem verstörten maedlor und der verängstigten sinora hin und her. „Der Stall ist sicher.”
„Sehr schön. Dann mache ich mich jetzt hinter den Kindern her und sehe zu, dass die fajía von Euch erfährt. Bitte, haltet mich nicht länger auf.”
„Warte noch einen Moment noch, báchorkor. Ist Aurópéa in Gefahr?”
„Woher, edler sinor, sollte ich das wissen?”
„Weil du ohnehin mehr weißt, als du wissen solltest. Du hast uns vor Úldaise Tiáramalé gewarnt. Aber in meiner Naivität habe ich nicht weiter gedacht, als an einen Umsturz und Anarchie. Aber die Bücher im Brunnen …”
„Welche Bücher?”
„All die unheimlichen Geheimschriften, die Úldaise dort zusammengetragen hat.”
„Oh.” Galéon war verdutzt. „Eigentlich hoffte ich nur, dass Ihr den Knebel findet, mit dem er mir die Zunge ruiniert hatte, und ihm diesbezüglich Fragen stellt. Dass er sich mit noch mehr Geheimnissen verdächtig macht, das konnte ich nicht ahnen.”
„Und nun?”
„Das, edler sinor, wäre etwas, das von Menschen zu regeln wäre. Wie es aussieht, lässt jemand leibhaftige Chaosgeister auf Aurópéa los. Dafür sind die Magier zuständig!”
„Wie konnte es dazu kommen?”, wisperte die sinora. „Erleben wir nun erneut die Schrecken, die die Chaoskriege uns brachten?”
Nein, dachte Galéon. Diesmal sind keine fünf Feen da, um die Monster zu bändigen. Es sind nicht einmal Ritter da gewesen, um ein simples Tor zu schützen. Diesmal wird es schlimmer.
Laut sagte er: „Lasst mich sehen, ob ich daran etwas verhindern kann.”
***
Die Regenbogenritter umringten Elosál. Ihre Anführerin war erschrocken von ihrem Thron aufgestanden. Ich konnte mich nicht zu ihnen umdrehen, aber ich spürte ihr gemeinsames Entsetzen, die jagenden Gedanken, das schwache Flackern der restlichen Magie um sie herum. Offenbar hatte ich sie mit dem Schutzzauber annähernd ebenso entsetzt wie mit dem Stab.
„Wie lästerlich”, sagte Úldaise Tiáramalé spöttisch. „Wie unverschämt. Noktámas Magie in Pataghíus Halle! Wer wird Euch dafür strafen, Meisterin Salghiára? Die Macht der Dunkelheit oder die der Farben?”
„Bleibt, wo Ihr seid”, sagte ich und fürchtete, meine Stimme könne dabei verängstigt kieksen oder hysterisch schrill werden. Zugleich kam ich aus der Verwunderung gar nicht heraus, dass das Netz hier, in einem völlig anderen Raum, auf Anhieb gelungen war. Sicher war das nur möglich, weil die Regenbogenritter so geschwächt waren. Aber das Netz hielt. Bedurfte es erst der schieren Panik, dass bei mir der Groschen fiel und ich das so lange Geübte frei ausführen konnte?
„Meinetwegen. Es interessiert mich ohnehin, wie lange Ihr es fertig bringt, diesen kindischen kleinen Trick aufrecht zu erhalten. Denkt Ihr etwas, ich kann nicht spüren, wo Ihr Eure armselige kleine Magie hergenommen habt?”
„Was sagt Ihr da?”
„Nun, wollt Ihr etwa behaupten, dass Ihr mit Magie geboren wurdet? Ist es nicht vielmehr so, dass sie euch unterwegs auf Eurem Lebensweg irgendwie unverdient zugefallen ist?”
Wie konnte er das wissen? Ich schaute mich nach Elosál um. Sie schien nicht im Geringsten irritiert zu sein.
„Noktáma allein mag wissen, warum sie sich einen solchen Scherz erlaubt hat. Für den Stab reicht es jedenfalls nicht aus. Also gebt schon her!”
„Nein!”
„Ihr macht Euch lächerlich!”
„Wenn Ihr ich nicht ernst nehmt, dann versucht doch, ihn Euch zu holen!”, packte mich wilde Entschlossenheit.
Úldaise Tiáramalé zuckte die Achseln. Dann ließ er seinen Gehstock fallen. Seine greisenhafte, gebückte Haltung straffte sich, und er schritt energisch auf mich zu.
Was musste ich auch so vorlaut sein!
„Halt!” Elosál bahnte sich den Weg durch ihre nun gänzlich farblose Ritterschar und stand plötzlich neben mir. Ihre schlanke weiße Hand streckte sich nach dem glitzernden Gitter aus. Sie spreizte ihre Finger so aus, dass sie genau in einem der Zwischenräume zwischen dem gekreuzten Faden Platz fanden. Und dann zauberte sie.
Ich hatte erwartet, dass nun etwas Furchtbares passieren würde. Noktámas und Pataghíus Magie, in einem Zauber vereint – konnte das den Mächten gefällig sein?
Zwischen den glimmenden Maschen meines Netzes spannte sich ein hauchdünner Film aus allen Farben des Regenbogens. Das Netz, unter dem ich mit der fajía und den arcaval’ay stand, wurde zu einem atemberaubenden Prisma aus kaltem Funkeln und warmem Licht. Es sah wunderschön aus und verdrängte das Gewitterflackern aus dem Saal.
Úldaise Tiáramalé verharrte. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht so recht deuten. Er schien jedoch weniger überrascht als regelrecht genervt zu sein.
„Was soll das, Meisterin Elosál? Ist das nicht Verschwendung? Es wird ohnehin nicht lange so halten.”
„Es muss nur so lange halten”, sagte sie hart, „bis mein hýardor und Meister Yalomiro hier sind und unsere Kraft verstärken können.”
„Selbst das wird nichts nützen. Und ich sage es Euch noch einmal. Das einzige, ratsame und Vernünftige, was Ihr machen könnt, ist, mir den Stab von Ovidáol Etaímalar zu überlassen. Oder wollt Ihr, dass die Chaosgeister das Weltenspiel unkontrolliert überrennen?”
„Die Chaosgeister?”
„Was soll der Wahnsinn?”, rief aufgebracht einer der Ritter. „Die Chaosgeister sind im Chaos versiegelt! Ganz so, wie wir es den Unkundigen geschworen haben!”
„Ihr täuscht Euch, ehrenwerte arcaval’ay. Die Chaosgeister haben sich einem Weg aus der Verbannung gesucht, und sie sind bereits zu nahe, als dass Ihr sie aufhalten könntet. Oder glaubt Ihr, dieser Sandregensturm da draußen sei eine kuriose Wettererscheinung? Die Grenzen des Chaos werden durchlässig, mit jedem Atemzug ein wenig mehr. Dieser Stab da, von dem Meisterin Salghiára sich nicht trennen mag, der ist das einzige Mittel, die Wesen im Zaum zu halten.”
„Stimmt das?”, fragte ich zu Elosál und ließ damit erkennen, wie wenig ich über die Chaoskriege und das düstere Erbe der Schattensänger wusste. Sie nickte, faltete die Hände und musterte den Greis nachdenklich.
„Der Verfluchte hat sie damit dirigiert wie ein Tierbändiger Wildwölfe und Buschkatzen mit einer Peitsche”, klärte mich einer der arcaval’ay auf.
„Aber der Verfluchte war ein mächtiger Schattensänger. Ich nehme an, er wusste, wie er mit einem von ihm selbst geschaffenen Werkzeug umgeht. Wie könnt ihr annehmen, dass Euch das auch gelingt?”
„So viele kluge Schattensängerbücher könnt Ihr gar nicht gelesen haben”, stimmte ein anderer Ritter zu. „Selbst, wenn Siledaú ihre ganzen gesammelten Schätze zu Eurer Verfügung gehalten hätte. Ihr seid ein Unkundiger.”
„Das kann ich nicht leugnen”, stimmte Úldaise zu. „Trotzdem bin ich der Besitzer des Stabes. Schließlich wurde er von meinem Grund und Boden entwendet.”
„Erklärt das!”, forderte Elosál ungeduldig.
Der Greis seufzte. Offenbar wurde er nun doch ungeduldig. Allerdings: Wenn ihm die Geduld ausging, hatte er vielleicht doch nicht alle Zeit der Welt zur Verfügung. Das war interessant. Vielleicht konnten wir ihn hinhalten, bis Cýelú Irísolor und Yalomiro wieder auftauchten.
„Habt Ihr es vergessen?”, fragte er, drehte sich um und hob seinen Gehstock wieder auf. „All die Erinnerungen, die Geschichten der Zeugen. Zu zehnt hatten die Schattensänger den Abtrünnigen verfolgt, bis in die Hügel, meinen Hügel, bis zu der Höhle, die Ihr gerade so ausschweifend erwähntet. Sechs von ihnen kamen oben noch an, unter ihnen ihre damalige Großmeisterin, bemerkenswert für ein so altes Weibsbild. Der Verfluchte kämpfte mit all seinem Zorn und seiner gerechten Wut. Aber die Schwarzgewandeten hatten Verbündete, damals, törichte, leichtsinnige Menschen. Damit hatte der Verfluchte nicht rechnen können. Sie wurde legendär unter den Unkundigen, diese beiden jungen Männer, die es bis zum Ende schafften, ein Ritter in Blau und einer in Honiggelb, die sie auseinandertrieben, die Chaosgeister, während die Schwarzgewandeten, den Verfluchten jagten wie ein Stück Wild.”
„Langweilt uns nicht”, unterbrach einer der arcaval’ay, gerade als es spannend wurde. „Wir waren schließlich dabei.”
„Ihr werdet wohl zur Pointe kommen”, ließ Elosál sich hören. „Und ich bezweifle, dass sie mir gefällt.”
„Niemand von Euch war dabei, als die, die den Verfluchten gehetzt hatten, bis es keinen Weg weiter kam, über ihn herfielen. Und der letzte von ihnen, der hatte einfach Glück. Im Gemenge gelang es ihm, den Kristall zu zerbrechen. Er war erfüllt von Triumph, Gehässigkeit und Gier, als er dem Verfluchten den Stab aus den Händen riss und ihn hinabstieß in das golddurchsetzte Dunkel. Er war besessen von seinem Eifer und seiner Unterwürfigkeit unter Noktámas Joch. Askýn Lagoscyre war sein Name, ein junger, unerträglicher Emporkömmling! Selbst hineingewagt hat er sich nicht, um es zu beenden. Wie tragisch nicht wahr?”
„Was erzählt Ihr?”, rief einer der Ritter. „Wollt Ihr sagen, der Verfluchte habe unbehelligt überlebt?”
„Warum nicht? Sagtet Ihr nicht gerade eben, Ihr habet keinen Leichnam gefunden, in der Höhle?”
„Woher wisst Ihr das alles?”
„Nun. Die Schattensänger haben davon Einiges aufgeschrieben. In eben jenen Büchen, die Ihr nicht in diesen Mauern haben wolltet. Ach, wie viele Versionen dieser wilden und tragischen Geschichte habe ich in all der Zeit gelesen. Ich behaupte mit Fug und Recht, der größte unkundige forscor in Sachen Geschichte der Chaoskriege zu sein. Mein Leben habe ich dem Thema gewidmet.”
„Schluss jetzt!” Elosál war verärgert und dabei sehr furchteinflößend. „Den Stab, den bekommt Ihr trotzdem nicht. Ihr seid ein alter unkundiger Mann, Úldaise Tiáramalé. Wir überlassen es Euch nicht, das wundersame Artefakt, an dem so viel Blut und Farbe klebt!”
Der alte Mann zuckte die Achseln und tat dann etwas sehr überraschendes.
„Nun gut”, sagte er, verneigte sich und wandte sich gleichgültig ab. „Vielleicht überlegt Ihr es Euch, wenn die Menschen von Aurópéa euch verfluchen und die Chaosgeister den Cielástel dem Boden gleich machen.”
Und dann ging er fort. Viel zu aufrecht und kraftvoll für einen Greis, aber ohne große Geste und Dramatik. Er verließ Pataghíus Halle so selbstverständlich, wie man in einer Wohnung von einem Raum in den nächsten geht.
Wir alle standen da und wechselten irritierte Blicke miteinander.
„Ist das eine Falle?”, fragte ich zweifelnd.
„Möglich. Vielleicht will er, dass wir den Schutzbann lösen”, murmelte Elosál.
„Chaosgeister”, wisperte einer der Regenbogenbogenritter, die sich optisch nun nicht mehr voneinander unterschieden. „Das passt überein mit dem Unwetter und der Schwäche.”
„Was sollen wir tun, Meisterin?”
Elosál setzte sich auf ihren Thron und überlegte einen Augenblick. „Sind die Einhörner hier?”, fragte sie dann.
„Ich habe sie herbeigebracht, Meisterin.” Die bleiche Gestalt, die antwortete, musste also der Violette sein. „Nur Perlenglanz und Farbenspiel sind nicht da.”
„Dann ist der Regenbogen also komplett. Es muss reichen.” Sie seufzte schwer und schaute in die Runde. „So sei es.”
Die Sieben musterten sie mich wachsbleichen, unbewegten Mienen. Dann verneigten sie sich, einer nach dem anderen. Offenbar mussten sie nicht fragen, keinen Befehl abwarten.
„Sollen wir ihn verfolgen?”, wollte einer nur wissen.
„Nein. Nicht jetzt. Die Chaosgeister sind wichtiger.” Elosál löschte die Farben aus meinem Netz. Ich sammelte meinen magischen Faden wieder ein. Als ich damit fertig war, spürte ich Elosáls Blick auf mir. Wortlos reichte sie mir das Kuscheltier entgegen. Ich griff wortlos zu. Im selben Moment schrillte von draußen ein panischer Schrei.
Dýamirée!
Hinterlasse einen Kommentar