
„Manjév! Manjév!”
Kíaná von Wijdlant hatte die Stimme der teirandanja nun auch wahrgenommen und rannte darauf zu. Mit jedem ihrer Schritte wurde der Sand unter ihren Füßen härter, fester, fühlte sich am Ende gerade so an wie der Strand vor der Burg des geliebten hýardor, wenn die Ebbe da war und man zu Fuß zu den Fischerbooten gehen konnte. Es war kein fester, stabiler Untergrund, sie sank nach wie vor ein wenig ein, aber es war lange nicht so anstrengend, wie durch den weichen, lockeren Sand zu gehen.
„Mama! Papa!”
Manjév war irgendwo da hinten, sie konnte nicht weit fort sein, wenn ihre Stimme schon bis ans Ohr der Mutter reichte. Aber wo war sie? Der helle Sand malte sich vor einer in alle Blickrichtungen scheinbar endlosen Leere ab, schimmerte unheilvoll. Woher kam dieses Licht? War es ein Gestirn, das hier leuchtete, oder war es ein Nebel hoch, hoch über ihnen? Eine glatte, gleichförmige und leuchtende Wolkendecke dort, wo kein Himmel sein konnte?
Kíaná von Wijdlant rannte, ohne nachzudenken. Sie wollte nicht nachdenken. Wenn sie anfing, nachzudenken, dann würde sie über den irritierenden Gedanken stolpern, dass der Turm, der über ihnen zusammengebrochen war, einen Durchmesser von weniger als vierzig Schritt gehabt hatte. Sie aber kam sich vor, als sei sie bereits quer über einen ganzen Acker gelaufen.
„Kíaná!” Asgaý stolperte hinter ihr her und holte sie mit Mühe ein. Die yarlay folgten ihm, sie hörte, wie die Männer und Kinder herbeirannten, hörte das Matschen und Klatschen ihrer Schritte im klammen Sand. Asgaý packte sie am Arm und brachte sie grob zum Halten.
„Das Kind!”, fauchte sie ihn an. „Unsere Tochter!”
„Ja, ich weiß!” Er war außer Atem. Körperliche Anstrengungen war er nicht gewohnt. „Aber … wir dürfen uns nicht aus den Augen verlieren!”
„Ja, Majestät”, stimmte Altabete zu und blieb neben dem teirand stehen, die vergoldete Axt immer noch fest in der Hand. „Das ist kein rechter Ort!”
„Wir müssen beisammen bleiben”, empfahl auch Grootplen. Er hatte Tíjnje auf dem Arm, das kleine Mädchen klammerte sich vertrauensvoll an seinem Hals fest. „Wenn wir uns trennen, wer weiß, ob wir uns verlieren!”
„Mama!”, forderte Manjévs verängstigte Stimme in der Ferne. „Mama! Papa! Kommt her!”
Kíaná von Wijdlant spielte einen Moment mit dem Gedanken, sich einfach von Asgaý loszureißen, aber sie besann sich. Die Männer hatten ja recht.
„Gut”, bestimmte sie. „Dann bleiben wir eben beisammen. Aber es ist kein Grund, Zeit zu verlieren!”
„Wie Ihr wünscht, Majestät.” Waýreth Althopian, dem der Sturz aus der Höhe wohl nicht mehr getan hatte als ein paar blaue Flecken, stapfte an ihr vorbei, eine kleinere Axt hielt er in der Hand, auf der Schneide klemmte ein unförmiges Stück Blattgold. „Hier entlang.”
„Wo wollt Ihr hin?”, begehrte die teiranda auf. „Dort müssen wir entlang!”
„Mit Verlaub, Majestät, die Stimme meines Sohnes höre ich von dort drüben!”
„Haltet ein!” Asgaý von Spagor stellte sich seinem Ritter in den Weg und hob die Hände. „Hier ist etwas nicht recht. Horcht. Manjév ruft uns genau dort, wo Eure teiranda es sagt.”
„Ich höre nichts”, sagte Jándris.
„Ich auch nicht”, gab Grootplen zu. „Nicht die teirandanja und nicht deinen Sohn, Waýreth.”
Dann wandten sich alle Tíjnje zu, die die Stimme ihrer Freundin zuerst gehört hatte. Das kleine Mädchen hob zaghaft den Finger. „Da drüben”, wisperte sie und zeigte ein gutes Stück an Althopian vorbei. Der Ritter runzelte die Stirn und lauschte in die Stille.
„Aber er weint”, flüsterte er dann. „Er weint nach seiner Mutter …”
„Da ist nichts”, beharrte Grootplen. „Du bildest dir das ein.”
„Ja? So wie unsere Herrin sich die Stimme ihrer Tochter einbildet? Was ist mit dir, Alsgör? Wo hat er sich verborgen, dein Sohn? Wo ruft er nach dir?”
Der alte Ritter senkte den Kopf. Er brauchte nichts zu sagen. Kíaná von Wijdlant wusste einen Moment lang nicht, ob sie Mitleid mit ihm empfinden sollte. Wahrscheinlich wäre es dem Jungen nie in den Sinn gekommen, nach seinem Vater zu flehen. Oder Osse Emberbey war der erste von ihnen, der hinter den Träumen angelangt war.
„Was immer das hier für ein Ort ist”, schloss Altabete, „er ist voller Trug und darauf aus, uns in die Irre zu führen.”
„Wie der fahle Fuchs?”, fragte Tíjnje furchtsam.
„Hier ist kein fahler Fuchs”, tröstete Jándris. „Vor dem brauchst du keine Angst zu haben. Den habe ich mir nur ausgedacht.”
„Mir wäre irgendwas von deinen Schauergeschichten lieber als das hier”, murrte Láas.
„Kommt weiter”, forderte Asgaý. „Kíaná, Tíjnje, Herr Waýreth … lauscht weiter. Aber lasst uns zusammen bleiben. Wenn das hier ein Blendwerk ist, dann soll es uns nicht trennen. Die Kinder finden wir, auch ohne dass wir rufen.”
„Und wenn wir nach ihnen rufen?” Kíaná von Wijdlant horchte auf Manjévs weit entferntes Weinen und ihr Herz schnürte sich in ihrer Brust zusammen. Das Kind, ihr kleines Mädchen! Manchmal, in dunklen Nächten, wenn ihre Träume sie geängstigt hatten, hatte sie ebenso geweint. Die teiranda hatte es auch im tiefsten Schlaf gehört und niemals gezögert, die geliebte Tochter zu trösten und in den Arm zu nehmen.
Sie schaute verstohlen zu Asgaý hinüber. Ihr hýardor bemühte sich um einen entschlossenen, stolzen Blick, aber dass auch er Manjév hörte und in Aufruhr darüber war, das konnte er nicht verbergen. Vielleicht vor seinen Männern, sicher nicht vor ihr.
Waýreth Althopian schien einen Moment mit sich zu ringen, ob er ihnen folgen und damit für sein Verständnis in eine falsche Richtung gehen sollte. Aber so sehr die teiranda sich bemühte, sie konnte beim besten Willen keine Knabenstimme unter dem kränklichen Leuchten hören.
„Sind wir in einem Traum?”, fragte Emberbey plötzlich. „Sind wir aus dem Weltenspiel heraus? Hat uns der Turm erschlagen?”
„Mäßigt Euch, Herr Alsgör!”, tadelte Grootplen mit einem bedeutsamen Blick auf das Mädchen auf seinem Arm. Tíjnje starrte ins Leere und hatte ihren kleinen Daumen im Mund, eine Angewohnheit, die sie schon vor mehreren Wintern aufgegeben hatte. „Macht den Kindern keine Angst.”
„Wenn das hier die Welt hinter den Träumen ist”, sagte Jándris gedankenlos, „gefällt es mir hier nicht. Ich will zurück!”
„Ich glaube nicht, dass wir hinter den Träumen sind”, schaltete Asgaý sich ein. „Wenn überhaupt, dann sind wir irgendwo … dazwischen.”
„Ich will nicht dazwischen sein.” Láas, das älteste der Kinder, fast schon ein junger Mann, schaute voller Entsetzen drein wie ein erschrecktes Wiegenkind. „Ich will nicht!”
„Reiß dich zusammen”, zischte Jándris. „Das sind doch nur Geschichten!”
„Aber wo sind wir dann? Das ist doch kein richtiger Ort hier! Das fühlt sich nicht einmal an wie ein Ort. Das ist nur …”
„Leere”, murmelte der alte Emberbey. „Leere und Einsamkeit. Das ist es also, was uns erwartet?”
„Schweigt!”, zischte Asgaý, halb eindringlich, halb erzürnt. „Die Mächte werden uns einen Weg hier heraus weisen!”
„Die Mächte haben uns das hier eingebrockt!”, entfuhr es yarl Altabete impulsiv.
Kíaná war nahe daran, ihn für dies diese Lästerung zu rügen, aber in diesem Moment wimmerte Manjév irgendwo in der Stille so jämmerlich auf, dass die teiranda alles andere vergaß.
„Manjév!”, rief sie. „Manjév, Kind! Wo bist du?”
„Hier bin ich, Mama”, antwortete das Mädchen. Aber wo war sie nur?
„Schnell, Mama. Komm zu mir! Ich hab solche Angst! Ich bin so alleine!”
„Bist du allein, Manjév?”, rief nun auch Asgaý. Also konnte er sie tatsächlich hören. „Bist du wohlauf?”
„Ich habe Angst! Kommt und holt mich!”
„Wo bist du denn? Wir können dich nicht sehen!”
„Kommt nur, kommt her! Geht einfach geradeaus. Immer geradeaus …”
„Rede mit uns, Manjév! Wir folgen deiner Stimme!”
„Papa! Komm zu mir, Papa …”
Und Asgaý von Spagor setzte sich in Bewegung, ein ganzes Stück schrägab von dem, wo Kíaná die teirandanja klagen hörte.
„Nicht!”, rief Waýreth Althopian und stellte sich seinem Herrn in den Weg. „Was immer Ihr da hört, lasst Euch nicht narren! Es ist nicht wirklich da!”
„Aus dem Weg, Herr Waýreth!”
Waýreth Althopian hob seine Axt, gerade bedrohlich genug, dass Asgaý von Spagor entgeistert einen Schritt rückwärts tat. „Was …”
„Es lügt“, behauptete der Ritter. „Es lässt Euch die Stimme Eures Kindes hören, wie ein Fallensteller einen Lockvogel benutzt. Es ist nicht echt!”
Kíaná schaute sehnsüchtig in die Weite, dort, wo Manjév nun unartikuliert weinte und schluchzte.
„Wir dürfen hier nichts trauen außer uns selbst”, mahnte der Ritter und wandte sich Alsgör Emberbey zu. „Und wir dürfen einander nicht aus den Augen lassen. Etwas verwirrt unseren Geist, so wie ein Kind gedankenlos verkleckerten Brei verschmiert. Ihr hört Euren Jungen doch auch, Herr Alsgör, habe ich recht?”
Der alte Ritter senkte den Blick. Kíaná von Wijdlant fragte sich, was er geantwortet hätte, hätte seine Scham ihn nicht daran gehindert.
„Jungs”, sagte Althopian und wandte sich Láas und Jándris zu. „Niemand weiß, was hier vor sich geht, was all das hier sein mag. Aber vielleicht ist das ein Abenteuer, mit dem die Mächte prüfen wollen, wie würdig Ihr seid.”
„Eine Abendtüre?”, brachte Tíjnje an ihrem Daumen vorbei hervor. Grootplen neigte seine Stirn zu der ihren hinüber. Kíaná von Wijdlant sah das beinahe mit Eifersucht. Wie sehr verlangte sie danach, Manjév nun genauso in ihrem Arm zu halten!
Und wenn es nicht die süße, die geliebte Tochter war, die sich dort irgendwo in diesem grässlichen Nichts das Herz ausweinte … was war es?
Konnte all das hier ein Werk des Widerwesens sein? Das, von dem der Schattensänger behauptet hatte, es könne keinen sterblichen Menschen so fest packen? Wenn sie sich hier umschaute, dann waren es sechs Erwachsene und drei Kinder, die ihm in die Falle gegangen waren, zu den drei Kindern dazu, die es nacheinander gepackt hatte.
Zwölf sterbliche Menschen, an einem Ort, der dem glich, an den sie sich dunkel, bruchstückhaft, gedämpft erinnerte. Und doch … etwas hier war anders.
Sie gingen weiter. Kíaná bemerkte, wie die Männer sich um sie herum gruppierten, so wie sie es immer taten, immer, wenn es galt, sie, die teiranda, zu beschirmen, vor was auch immer da kommen mochte. Láas und Jándris waren mit ihren Gedanken bei dem Abenteuer, das Althopian ihnen hatte einreden wollen, um sie bei Stimmung zu halten.
„Ein Abenteuer”, murmelte Jándris und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Ich wette, nicht einmal der Smaragdritter hätte hieran seine Freude.”
„Der Smaragdritter ist doch nicht echt. Der ist ausgedacht und in ein Buch geschrieben. In eines, das Damen lesen.”
„Ja, und er besiegt die Schurken und Schufte und die stärksten Kämpfer und Ungeheuer. Und was sollen wir hier tun? Hier ist doch nichts! Wir werden hier sinnlos herumlaufen, bis wir verschmachtet sind. Wenn wir nicht ohnehin schon tot sind.”
„Still!” Altabete breitete die Arme aus und brachte die Gruppe zum Halt. Niemand fragte etwas, aber alle horchten.
Manjévs Geisterstimme und vielleicht auch die nicht hörbaren von Merrit Althopian und Osse Emberbey veränderten sich. Das Kinderweinen wurde zu einem erschöpften, tonlosen Schluchzen. Dann verstummte es zu einer beängstigenden Stille.
Kíaná von Wijdlant, die fünf Männer und die Kinder tuaschten beunruhigte Blicke miteinander. Viele Herzschläge lang standen sie und horchten ins Nichts.
Asgaý von Spagor war schließlich der erste, der einen Schritt voran tat, natürlich, er war der teirand, der Anführer der hier Versammelten. Er schaute verzagt zu Kíaná von Wijdlant hinüber, und sie nickte. Ihr tapferer hýardor atmete tief ein und hob seinen Fuß, setzte ihn vor und wieder nieder auf den Sand.
Und dann waren sie überall, kreischten und fauchten und geiferten und griffen an. Die Monster, die Ungeheuer, die Gegner, die der Smaragdritter aus den Geschichten niedergemäht hätte, zweifellos.
Durch das irrsinnige Toben und Schreien gellte Manjévs Stimme, und diesmal, das nahm Kíaná von Wijdlant überdeutlich zur Kenntnis, während ein abscheuliches Wesen sie niederriss und an der Kehle packte, war es echt und wahr.
Manjév war ganz nahe. Und sie schrie nach ihr, der Mutter, der Atem und Bewusstsein schwand, während ringsum in einem irrsinnigen Durcheinander ein Gemenge tobte, das von sterblichen Wesen nicht zu gewinnen war.
***
Die Zugbrücke und das Tor waren tatsächlich unbewacht gewesen. Der Burghof war verlassen, und die Gebäude selbst hatten unter dem Wetterleuchten eine unbestimmte Farbe angenommen, durchsichtig, eingetrübt und irgendwie unwirklich. Der maedlor enthielt sich einer Bemerkung, aber es war unverkennbar, wie unwohl er sich fühlte. Der Maultierführer war seinerseits besorgt, aber der Junge vermutete, dass ihm vor allem seine beiden Tiere am Herzen lagen.
Kaum dass sie in der Burg eingeritten waren, sprang Galéon von Farbenspiels Rücken.
„Kommt”, forderte er die beiden Männer eilig auf. „Wir schließen die Brücke.”
„Warum denn das?”
„Ihr würdet nicht wollen, dass das hier hereinkommt, was sich in der Wüste herumtreibt.”
Der Vorhang öffnete sich. Der sinor streckte den Kopf aus der Sänfte hervor. „Was soll das heißen?”
„Später, ehrenwerter sinor. Advon, Dýamirée … bringt ihr die sinoray an einen sicheren Ort .”
Advon kletterte von Farbenspiel hinunter. „Sicher. Gebt mir die Zügel, ich führe alle in den Stall.”
„Kannst du das?”, zweifelte der Maultierführer. Dass der Knabe die Sänfte übernehmen wollte, passte ihm wohl nicht; brachte ihn dazu, das Schweigen zu brechen.
„Na klar. Hilf du nur mit der Brücke!” Advon tätschelte dem vorderen Muli die Schnauze und streckte die andere Hand nach den Zügeln des Pferdes aus. „Und auf dein Pferd gebe ich auch acht. Keine Angst. Ich komme mit allen Tieren gut zurecht.”
Der maedlor machte keine Anstalten, abzusteigen, bis Galéon ihn ungeduldig so fest am Mantel zerrte, dass er aus dem Sattel rutschte.
„Nun komm. Zu dritt können wir die Winde sicher bedienen.”
„Aber wir können doch nicht einfach …”
„Sehe ich aus, als hätte ich allein die Kraft dazu?”
„Geh schon!”, befahl der sinor. „Mach, was der báchorkor sagt, und komm dann wieder zu mir! Ich habe mit dir zu reden!”
„Aber das ist doch lächerlich! Was soll denn aus der Wüste kommen, bei diesem Wetter?”
„Glaub mir. Das willst du nicht wissen. Los jetzt!”
Der maedlor schnaubte. Advon sah ihm kurz nach, als er dem Maultiermann folgte, der bereits hinter Galéon her zur Zugwinde rannte und zerrte dann das Pferd und das Maultier voran. Farbenspiel folgte. Hätte Dýamirée nicht nun ganz alleine auf seinem Rücken gesessen, wäre er sicher vorangestürmt, denn ganz offensichtlich witterte der Hengst, dass im Stall Futter und Gesellschaft warteten.
„Junge”, erkundigte sich der sinor mit dem komplizierten Namen, „was ist in der Wüste?”
„Chaosgeister”, erklärte Advon. Was machte es für einen Sinn, es zu verheimlichen? Nun, wahrscheinlich nahm er Galéon damit den Höhepunkt seiner Erzählung fort. Andererseits war der alte Mann der mächtige Älteste von Aurópéa. Advon befand, dass er ein Recht darauf hatte, die Wahrheit schnell zu erfahren.
„Chaosgeister!”, rief die alte Dame aus. „Wie ist das möglich?”
„Ich weiß nicht. Aber einer hat uns angegriffen.”
„Ich war in seinem Maul drin”, erzählte Dýamirée eifrig. „Das hat gestunken!”
„Aber die arcaval’ay haben die Chaosgeister damals ins Chaos zurück gebannt! Wie können sie in der Wüste sein?”
„Das weiß ich wirklich nicht. Ich bringe rasch das Pferd von dem jungen Mann in den Stall. Wartet kurz. Farbenspiel, du bleibst hier!” Advon band das Maultier im Vorraum des Gebäudes fest, führte das Pferd in den Stall herein und stellte erfreut fest, dass die anderen Einhörner wieder in ihren Käfigen waren. Die arcaval’ay waren also im Cielástel!
Die Einhörner waren nass und mit ihren Heuraufen beschäftigt. Das war günstig, denn so beunruhigten sie das nervöse Pferd nicht allzu sehr. In Perlenglanz’ Verschlag war bereits ein anderes Pferd eingestellt, ein abgekämpft wirkendes Tier mit grauem Fell. Advon entschloss sich, das Ross des maedlor einfach dazu zu stellen. Mochte der hochnäsige Kerl sich doch später ums Absatteln kümmern, dafür hatte er jetzt keine Zeit.
Der Junge schob die Tür zu Farbenspiels Stallabteil weit auf und kehrte zurück in den Vorraum.
„ … wie ein ganz dicker Regenwurm mit Zähnen”, berichtete Dýamirée gerade. „Es kam aus der Sandkuhle heraus, wo Galéon festgebunden war.”
„Die Maultiere”, unterbrach Advon, bevor sie noch weiter in verstörende Details gehen konnte, „kann Euer Knecht in den hintersten Verschlag stellen. Beim Abschirren kann ich nicht helfen, ich komme noch nicht an alle Gurte heran. Wenn euer Diener wieder hier ist, dann …”
„Junge”, unterbrach der sinor besorgt. „Ist das wahr, was das kleine Mädchen erzählt? Ihr habt einen Chaosgeist bei der Richtstätte gesehen?”
„Na ja, gesehen … wir sind davor geflüchtet.”
„Er wollte mich fressen!”, erinnerte Dýamirée.
„Es war Úldaise Tiáramalés Idee, Delinquenten an diesem Ort in der Wüste der Gerechtigkeit zu überantworten”, sagte der sinor. „Pataghíus Feuer sollte sie vertilgen.”
„Ich weiß. Aber irgendwas ist da nicht so gelungen, wie der sinor sich das vorgestellt hat. Meine Eltern sind misstrauisch geworden.” Advon deutete in den Stall. „Übrigens steht da schon ein Pferd, das nicht hierher gehört. Der sinor Úldaise ist wohl schon hier.”
„Ausgezeichnet”, sagte Saháalír düster. „Er wird mir einiges zu erklären haben!”
Er unterbrach sich. Ein Donnerschlag ließ draußen die Luft erbeben. Zugleich klirrten, quietschten und ächzten die Ketten, an denen die Zugbrücke hing. Offenbar war es Galéon und den beiden anderen Männern gelungen, das Hebewerk in Gang zu setzen.
Die alte Dame kletterte aus der Sänfte heraus, gebrechlich, mühsam, aber ausgesprochen würdevoll. Sie sah entsetzlich aus mit der verwaschenen Schminke und dem klatschnassen Haar, das schief an ihrem Kopf saß. Erst jetzt wurde Advon gewahr, dass es wohl nicht ihr echtes Haar war, sondern eher eine Art Mütze.
Dýamirée besah sich das einen Moment mit großem Interesse. Ganz kurz befürchtete der Junge, der Anblick der verunstalteten Dame könne sie zum Lachen bringen, aber stattdessen offenbarte sich Mitgefühl mit der alten Frau in den grünen Kinderaugen.
Die sinora schaute sich ruhig im Vorraum um und tat dann einen Schritt auf Farbenspiel zu. Winzig und zerbrechlich sah sie neben dem Einhorn aus.
„Darf ich ihn berühren?”, fragte sie scheu.
„Natürlich. Wenn Ihr einen Keks oder so etwas dabei hättet, dürft ihr ihn auch füttern. Er hat es sich heute mehr als verdient.”
Die Dame legte ihre Hand scheu auf Farbenspiels Schnauze. Das Tier schnaubte freundlich, wenn auch etwas enttäuscht. Eine Leckerei war wohl nicht in Sicht.
„Kann ich Euch behilflich sein?”, erinnerte der Junge sich dann an seine gute Erziehung mit Blick auf den alten sinor.
„Nein, Junge. Ich kann nicht mehr laufen und nicht selbst aussteigen. Ich muss stets getragen werden.”
„Dann wartet, bis Eure Diener und Galéon wieder hier sind und Euch helfen können. Bleibt am besten vorerst hier im Stall. Dieses Gebäude ist mit besonderer Magie gesichert.” Er verschwieg, dass diese Magie vor allem dazu da war, die Einhörner am Ausbruch zu hindern. Mit etwas Glück hielt es auch die Chaosgeister draußen. „Ich will rasch zu meiner Mutter.”
„Und ich zu meiner Mama!”, erinnerte Dýamirée. „Die wartet bestimmt schon die ganze Zeit auf mich!”
Advon nutzte die Gelegenheit und benutzte die hintere Schere der Sänfte als Aufsteighilfe. „Habt nur einen Moment Geduld”, bat er den alten Mann. „Wir sorgen dafür, dass sich arcaval’ay um Euch kümmern und in die Burg bringen.”
Er wartete keine Antwort ab und lenkte Farbenspiel wieder ins Freie. Hinten am Tor mühten sich Galéon und die Unkundigen mit der Zugbrücke ab.
„Halt dich fest, Dýamirée. Wir fliegen zu Pataghíus Halle hinauf.”
„Mit Farbenspiel? Kann er dort landen?”
„Na klar. Und wir haben es doch eilig, oder?”
Ein weiterer Blitz fuhr nieder. Dýamirée zuckte zusammen und klammerte sich an ihn.
„Ich pass auf dich auf”, versprach der Junge. „Was immer der alte Mann vorhat, ich beschütze dich.”
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