Der Cielástel ragte vor ihnen empor, und Advon schauderte vor dem Ort, den er so sehr liebte. Gewiss war es der Regen, der die Burg der arcaval’ay in das verändert hatte, was er jetzt sah.

Sogar die beiden Menschen, der maedlor und der Maultierführer schienen irritiert über die Veränderung zu sein, die die Festung durchgemacht hatte. Den alten Leuten in der Sänfte verbarg der Stoff der Vorhänge den Blick, die sie wegen des peitschenden Regens aus Wasser und Sand geschlossen hielten. Der Junge hörte sie miteinander reden. Und unablässig flimmerten die Wolken, lautlos, unheimlich. Etwas, das kein Gewitter war.

„Was geschieht hier?”, fragte der junge maedlor beklommen. Als sie miteinander losgezogen war, hatte er noch eine gewisse Hochnäsigkeit zur Schau getragen, sogar mit dem sinor beraten, ob er es wirklich verantworten wollte, mit zwei kleinen Kindern und einem zerlumpten báchorkor in das Haus der Magier zu ziehen, die er flüsternd, aber dennoch respektlos als Buntkerle bezeichnete. Diese schmähende Bezeichnung hatte Advon nie zuvor gehört und war recht verwirrt darüber gewesen.

Die alte Frau hatte den jungen Mann gescholten, und er war mit puterrotem Gesicht verstummt und hinter Farbenspiel her getrabt. Der Maultierführer enthielt sich eines Kommentars. Der Mann hatte ganz offensichtlich Angst und Anweisung, ungefragt stets zu schweigen. Immerhin hatte er wohl genug Vertrauen, um nicht in Panik zu geraten.

Vielleicht hätte es das unangenehme Schweigen etwas gelockert, wenn der báchorkor sie mit einer Geschichte unterhalten hätte. Aber der junge Mann schwieg ebenso still und gedankenvoll, und immer, wenn Advon über seine Schulter zu ihm hinschaute, wurde er den Verdacht nicht los, dass er genau wusste, was hier passierte.

Der Junge biss sich auf die Lippen und spornte Farbenspiel an. Vielleicht wusste der junge Mann sogar, wo all das hinführen würde. Aber wollte er, Advon, das wirklich wissen?

„Das ist hässlich”, beklagte Dýamirée sich. Das Mädchen versuchte, sich die klatschnassen Haare zu flechten, damit sie ihm nicht bei jedem Windstoß von hinten oder der Seite ins Gesicht wehten. „Warum ist das so?”

„Was?”

„Warum sieht die Burg jetzt so trübe aus?”

„Vielleicht, weil der Regen sie nass gemacht hat!”

„Was soll das heißen?”, fragte der maedlor hinter ihnen beunruhigt.

„Ich weiß nicht”, gab Advon zu. „Ich habe es zuvor noch nie so gesehen. Es muss mit dem Regen passiert sein.”

„Es liegt an dem Regen”, sagte der báchorkor ruhig. „Er spült die Farben hinfort. Pataghíu und Noktáma dringen nicht hindurch durch die Wolken.”

„Was ist das für lästerliches Geschwätz? Was sollte es geben, das die Mächte an irgendetwas hindert?”

„Das”, entgegnete Galéon ruhig, „was immer dieses Wasser hergebracht hat.”

„Sind wir sicher in der Burg?”, fragte der maedlor zu Advon hinüber, nun doch etwas kleinlauter. „Es kann uns nichts Unheilvolles darin geschehen, wie du behauptet hast?”

Advon zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht mehr. Ich hoffe nicht.” Er schaute sich erneut hilfesuchend nach Galéon um. Vielleicht hatte der in einer seiner Geschichten einmal etwas über einen Vorfall gehört, bei dem etwas Vergleichbares geschehen war. Immerhin war er erwachsen.

„Ich denke, der Cielástel ist sicher und bietet Unterschlupf vor dem Regen und Sturm. Nicht besser oder schlechter als jedes steinerne Haus.”

Advon schauderte. Das klang nicht gut. Der Cielástel war der sicherste Ort des ganzen Weltenspiels, das hatten seine Eltern und die Sieben wieder und wieder bestätigt. Es war die Festung, die dem Ansturm der Chaosgeister getrotzt hatte, damals, in diesem schrecklichen Krieg, über den er vor wenigen Gongschlägen noch in dem dicken Buch gelesen und gelernt hatte. Viel besser, viel trutziger als ein schnödes Steinhaus, in dem Unkundige lebten.

„Im Etaímalon wären wir jetzt auch sicher.” Dýamirée gab den Kampf mit ihren Haaren auf und lehnte sich müde an Galéons Brust. „Da regnet es nie rein. Und wenn das Netz gewoben ist, geschieht auch nicht Schlimmes.”

„Schade, dass euer Heiligtum so weit fort ist.”

„Ja. Aber wir können nicht hinfliegen. Wir müssen die alten Leute in Sicherheit bringen.”

Dýamirée hatte recht. Es war hässlich. Das Gebäude aus Glas und Kristall, das in Pataghíus Glanz buntes Feuer verströmte und unter Noktámas Juwel nachts mystisch glomm wie Myriaden von Glühwürmchen, hatte zwar seine vertraute Form mit dem hohen mittleren und den sieben seitlichen Türmen nicht verändert. Aber es nun sah nicht mehr aus wie klares Glas, in dem sich das Sonnenlicht zu all den Farben brach, sondern wie Eis, zu dem eine Schmutzwasserpfütze gefroren war. Da waren keine Farben mehr. Der Regen hatte sie aus der Burg ausgewaschen wie aus einem schlecht gefärbten Tuch. Das war nie zuvor geschehen.

„Wenn mein Papa hier ist”, sagte Dýamirée, „dann ist meine Mama bestimmt mit ihm gekommen. Vielleicht ist sie da drin. Das wäre gut …”

„Wir werden es gleich wissen. Ich wünschte mir, mein Vater wäre auch dort. Ich wünschte, wir wären sofort in die Burg zurückgekehrt, nachdem ich dich in dem abgebrannten Garten gefunden hatte..”

„Dann hätten wir Galéon nicht gerettet”, gab Dýamirée zu bedenken.

„Aber wir hätten alle anderen von Siledaú und dem sinor warnen können. Und du hättest deine Eltern nicht verpasst. Und mein Vater, der wäre nicht in die Wüste geritten.”

„Oder die schlimme alte Frau hätte uns beide erwischt und es hätte gar nichts geändert. Der Regen wäre doch gekommen.”

„Das”, murmelte Galéon, gerade so leise, dass sie es hören konnten, „ist nicht gesagt.”

Die Kinder warteten, aber er erklärte nichts weiter. Der maedlor mühte sich, sein Pferd gleichauf mit Farbenspiel zu bringen. Dem war zwischenzeitlich die Laune daran vergangen, das Reittier des Unkundigen zu ärgern. Der Regen hatte seine Mähne verfilzt, die Flügel trug er nur halb ausgebreitet, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Das Einhorn war unwillig, weil es langsamer laufen musste, als er gekonnt hätte.

„Was sollen wir tun?”, fragte der Mann. „Ich bin für die Sicherheit der sinoray verantwortlich. Welcher irre Gedanken sie auch dazu bewogen haben mag, bei diesem Wetter den Ausflug zu machen. Schon unter normalen Umständen war das eine Zumutung. Aber nun … hier geht es doch nicht mit rechten Dingen zu.”

„Kommt einfach mit und habt Vertrauen. Ich bin sicher, dass meine Leute schon wissen, was zu tun ist.”

„He!”, rief da der alte Mann in der Sänfte. Seine vom Alter abgemagerte, steife Hand schob den Vorhang beiseite. „Junge!”

Advon seufzte, lenkte Farbenspiel um und wartete, bis der duldsam schweigsame Maultierführer mit ihm gleichauf war. „Ja?”

„Bitte”, sagte Saháalír, „ich möchte, dass du etwas weißt und es der Großmeisterin, deiner Mutter ausrichtest, falls es mir selbst nicht mehr möglich ist.”

„Gern. Aber warum sollte es nicht möglich sein? Vielleicht müsst Ihr Euch einen Moment gedulden, aber im Cielástel kann Euch selbst nichts zustoßen.”

Der alte Mann lächelte. Advon sah, dass seine andere Hand die der alten Frau mit der verwaschenen Schminke und dem sonderbar schief an ihrem Kopf sitzenden Frisur hielt. Die Dame hatte die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt.

„Wir beide haben uns beraten”, sagte Saháalír und meinte damit die Dame und sich. „Wenn – was die Mächte verhindern mögen – noch etwas Ärgeres geschieht als dies hier, dann bitten wir im Namen von Aurópéa um eure Verzeihung.”

„Verzeihung?”

„Deine Eltern werden wissen, wie ich das meine.”

Galéon begann, leise zu lachen, was ihm einen finsteren Blick des maedlor einbrachte. Der alte sinor schien bestürzt.

„Ist etwas falsch daran?”, fragte er befremdet zu dem báchorkor herauf.

„Nein. Es ist nur … komisch”, antwortete der báchorkor. „Vergebt. Auch ich verstehe, wie Ihr es meint und was Ihr sagen wollt. Ist es nicht verrückt, wie und unter welch merkwürdigen Zeichen sich die Dinge fügen?”

Der sinor seufzte. Dann zog er den Vorhang wieder zu.

„Das war aber nicht nett”, sagte Dýamirée tadelnd. „Nun ist der alte Mann traurig.”

„Ich werde mich bei ihm für meine Frechheit entschuldigen. Zur gegebenen Zeit. Es kann nicht schaden, wenn er ein wenig mehr nachdenkt, bevor er für Aurópéa spricht.”

Das Flimmern in den Wolken leuchtete auf, so grell, dass es sie für einen Moment blendete, Pferd und Maultiere scheuten, aber nicht ausbrachen. Farbenspiel schnaubte ärgerlich und trabte schneller. Der Cielástel war nur noch eine kurze Strecke von ihnen entfernt. Aus dieser Entfernung ließ sich erkennen, dass niemand die immer offene Brücke bewachte.

Kein Torposten? Das, dies war Advon klar, war nicht gut. Es beunruhigte ihn auf eine seltsam schmerzliche Weise. Auf das Tor musste doch jemand aufpassen, gerade, wenn so unheimliche Dinge vorgingen wie dieser Regensturm. Es waren Chaosgeister entfesselt!

„Du”, wandte der Junge sich an den Maultierführer. „Weißt du, wie man eine Zugbrücke bedient?”

***

„Ich verstehe nicht”, sagte Elosál. Sie war verwirrt, und zugleich so alarmiert, wie sie es nur sein konnte, um dabei höflich zu bleiben. Úldaise Tiáramalé streckte die Hand nach mir aus.

„Den Stab, Meisterin Salghiára. Es hat mich viel Mühe gekostet, ihn an diesen Ort zu bekommen.”

„Euch? Hieß es nicht, diese Frau namens Siledaú hätte den Großmeister dazu gebracht, den Stab zu stehlen?”

„Stehlen? Was für ein unschickliches Wort.” Der alte Mann grinste halb zahnlos. „Ein kleiner Botengang wurde ihm von der ehrenwerten Greisin aufgetragen, mehr nicht.”

„Von Euch? Ihr habt Cýelú Irísolor aufgetragen, meine Tochter zu stehlen, im Austausch gegen den Stab?”

Der sinor wandte sich spöttisch den sieben Regenbogenrittern zu. Die standen ratlos um ihn herum, nach wie vor mit gezückten Waffen und in ihrem goldenen Rüstzeug, aber mit ihnen ging etwas Beängstigendes vor. Sie alle schienen nach und die leuchtenden Farben zu verlieren, die sie in ihren Gewändern und der maghiscal trugen. Bei denen, die jeweils direkt nebeneinander standen, konnte ich schon kaum noch Unterschiede ausmachen, zu sehr verschwammen die Farben ineinander. Die Ritter schauten bestürzt, aber immerhin noch nicht panisch drein. Elosál ließ sich wieder auf ihrem Thron nieder und verschränkte die Hände. Auch vor ihr schien der plötzliche Farbverlust nicht Halt zu machen, aber sie war deutlich stärker als ihr Gefolge. Während ihre Gewänder und ihr Glanz mir erschienen, als dämpfe etwas ihn, wie eine Decke oder ein Lampenschirm, schien der Goldglanz ihrer Augen sich zu verstärken. Ihre maghiscal war glühend heiß, ich spürte sie selbst auf die Entfernung in meinem Rücken, als säße ich ganz nahe an einem Kaminfeuer am Boden.

„Cýelú Irísolor hatte den Aufrag, den Stab zu holen. Das, was nicht in den Etaímalon gehörte. Dass er mit einem Kind zurückkam, das war eine lästige Fügung, die ich nicht vorhersehen konnte. Dies ist keine Angelegenheit für Kinder.”

„Wo ist sie?”, konnte ich mich nicht zurückhalten. „Wo ist Dýamirée?”

„An einem sicheren Ort, Meisterin Salghiára. Vielleicht bin ich in der Laune, es Euch zu verraten, wenn Ihr mir den Stab überlasst.”

Ich erhob mich. Den Stab hielt ich fest umklammert in meinen schweißnassen Händen. Úldaise Tiáramalés aufklarender Blick haftete daran, halb begehrlich, halb gierig. „Was, bei Noktáma, wollt Ihr damit? Das Ding ist entzwei, und das Material ist doch sicher nichts wert im Vergleich mit den Schätzen, die Ihr besitzt!”

„Dann gebt es mir doch ganz einfach”, sagte er. „Was wollt Ihr damit, wenn er doch nichts wert ist und zu nichts dient? So viele Winter habe ich danach gesucht!” Er stützte beide Hände auf seinen Gehstock und musterte mich und die fajía mit immer klarer werdendem Blick. „Ihr wollt doch wissen, wo Eure Tochter ist, oder nicht?”

Ich spürte Elosáls Blick, musste mich gar nicht zu ihr umdrehen. Ich wusste, wie angespannt, wie sprungbereit sie war. Hinter mir verdichtete sich Magie, fast schmerzhaft zu fühlen. Elosál machte sich bereit, einen mächtigen Bann einzusetzen, und was immer sie damit traf, es würde sich damit zerschmettern lassen. Vielleicht würde es mich treffen, bevor ich auf dumme Ideen kam, nun, da er Dýamirée ins Spiel brachte.

Auch der sinor schien es zu spüren, denn er hob seine rechte Hand gegen die Großmeisterin.

„Wenn Ihr so klug seid”, fragte sie gelassen, „wisst Ihr dann auch, wo mein Sohn ist?”

„Nein. Euer Sohn interessiert mich nicht mehr. Er war tauglich, solange sich damit Euer hýardor gefügig halten ließ. Nun mag der Junge herumstromern, wo er will. Meinethalben kann er tun, was ihm beliebt. Es wird nichts mehr ändern.”

„Dann wisst Ihr also, dass Advon tatsächlich weggelaufen ist”, sagte Elosál. „Ich frage mich, woher.”

„Nun”, versetzte er mit feinem Lächeln, „vielleicht habe ich es von der ehrenwerten Siledaú erfahren. Eine wahrhaft ehrenhafte Frau.”

„Siledaú!”, kam es von einem der arcaval’ay, aber ich konnte nicht mehr zuordnen, von welchem. War es der vormals Orangene oder der Rote gewesen? „Dann seid Ihr der Alten begegnet, als Ihr herkamt?”

„Möglich.”

„Unmöglich! Wie konnte sie unter unser aller Augen verschwinden?” Das war der Violette gewesen, aber das vermochte ich nur zu sagen, weil ich gesehen hatte, wie seine Lippen sich bewegten.

„Vielleicht”, mutmaßte Úldaise, „weil sie nicht so weit fortging, wie Ihr Euch dachtet. Vielleicht ist sie ganz in der Nähe. Und nun gebt mir endlich den Stab, Meisterin Salghiára. Es ist nicht mitanzusehen, wie Eure Hand zittert, in der Ihr dieses edle Artefakt haltet.”

„Ich will es Euch nicht geben!” Ich legte auch meine zweite Hand um den silberschwarzen Stab. Das Artefakt fühlte sich tatsächlich nicht viel anders an als ein Besenstiel, so einer wie ich daheim benutzte, um den Korridor und die Zimmer im Etaímalon auszukehren, wenn Yalomiro oder Dýamirée gedankenlos Schmutz und Herbstlaub hineingetragen hatten. „Dieser Stab ist von einem Schattensänger geschaffen worden. Kein Unkundiger hat das Recht, ihn in seinen Besitz zu bringen.”

„Ich weiß. Und nun gebt Ihn mir bitte, solange mich der Respekt noch gezügelt hält. Ein Respekt, nebenbei bemerkt, dessen Ihr Euch nur schätzen könnt, da ich bei alledem, was geschehen ist, noch ein wenig Nostalgie verspüre, beim Gedanken an alte Zeiten.”

„Wie bitte?” Nun war ich völlig aus dem Konzept gebracht. Der Alte trug eine bestürzend selbstsichere Miene zur Schau und schaute mir direkt in die Augen. Es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, mein unverschleiertes Gesicht zu sehen. Lag das an seinem fortgeschrittenen Alter, oder …

„Ehrenwerter sinor“, fragte Elosál kühl, obwohl sie nun gänzlich zu glühen schien, „ist Euch denn wohl klar, zu welchem Zweck der ursprüngliche Besitzer des Stabes ihn geschaffen hat? Welche ungeheuerlichen Dinge sich zugetragen haben? Wisst Ihr, was mit diesem Stab vollbracht wurde?”

„Natürlich. Ich habe mich ausgiebig mit der Geschichte des Artefakts auseinander gesetzt. Schattensänger haben in mehr als einer ihrer Schriften darüber berichtet.”

„Und wie”, erkundigte sich der Grüne der der Gelbe, „konntet Ihr eine Schattensängerschrift entziffern? Nicht einmal wir sind dazu in der Lage!”

Úldaise Tiáramalé seufzte. Offenbar hatte er mit so viel Begriffstutzigkeit der arcaval’ay nicht gerechnet. Aber mich durchfuhr die Erkenntnis, die sich bisher unterschwellig am Rand meines Verstandes bemerkbar hatte machen wollen, nun wie ein tiefer, alles umfassender Schock.

„Er weiß es und kann es”, sagte ich leise, „weil er meinesgleichen ist.”

Elosál runzelte die Stirn. „Das ist unmöglich, Meisterin Salghiára.”

„Ja”, äffte Úldaise die fajía nach. „Unmöglich ist das, Meisterin Salghiára. Wie dumm von Euch. Ich? Ein Schwarzmantel? Ein Diener der dunklen Macht? Ein Leibeigener Noktámas? Wie sollte das sein? Ich lebe in einer Stadt, die zum einem Großteil aus Gold erbaut wurde. Schaut her!” Er griff in seine Tasche, zog eine Handvoll großer und kleiner Goldmünzen hervor, rieb die klimpernden Geldstücke in seiner Hand und warf dann damit nach mir, genau vor meine Füße. Zwei oder drei Stücke trafen mich und fühlten sich an wie Funkenflug. Ich wich schmerzerfüllt zischend zurück.

„Dann sagt mir”, begehrte ich auf, „wie ihr mich ansehen und nicht den Verstand verlieren könnt!”

„Ist das nun Eitelkeit oder Selbstüberschätzung? In Aurópéa gibt es mehr als genug Weibsbilder, die Euch an Begehrsamkeit übertreffen. Ihr seid längst zu alt und unansehnlich, um mein Auge und meine Lust zu entfachen. Schätzt Euch glücklich, dass es mit Eurem Fluch nicht weit her ist.”

„Was ist das für eine unverschämte Rede gegen eine Dame?”, empörte sich einer der nun beinahe gleichfarbigen Ritter. Ich war tatsächlich ein wenig verletzt. Aber das war nun nebensächlich.

„Und der Regen?”, fragte Elosál. „Habt Ihr denn mit dem Regen auch nichts zu schaffen?”

„Nein. Der Regen aus dem Norden, der kommt gerade zurecht, aber nicht durch mein Wirken. Wie sollte ich denn Macht über das Wetter haben?”

Ich fing einige ratlose Blicke der Regenbogenritter auf. Sie sahen immer jämmerlicher aus, verblassten und wurden dabei doch nicht unsichtbar. Ich fühlte mich unweigerlich an meine Schulzeit erinnert, an den Kunstunterricht, als wir mit Wasserfarben Bilder malen mussten. Das Wasser für die Pinsel … nach einer Weile nahm es eine ähnliche trübe, nicht wirklich benennbare Farbe an. Ganz ähnlich wie der Cielástel selbst, der unter dem Regenfall immer mehr nach graubräunlichem Milchglas aussah. Was immer die Wolken kontrollierte – sofern Pataghíu es zur Kenntnis nahm, war wohl kein Ankommen dagegen.

„Es scheint”, sagte Elosál und neigte sich vor, „dass Ihr nach alledem nichts weiter seid als ein unkundiger, alter, machtloser Mann mit unverschämten Ansprüchen. Wenn Ihr zusammen mit Siledaú all diesen Aufwand betrieben habt, nur um aus irregeleiteter Habgier und wirrer Begeisterung für die schrecklichen Tage dieses … Andenken in Eure Nähe zu bringen, dann verratet uns wenigstens, was Ihr damit vorhabt.”

„Eben das, wofür er bestimmt ist”, sagte Úldaise überrascht, so als habe er nicht mit einer dermaßen dummen Frage gerechnet. „Ich will damit Chaosgeister zähmen.”

Einen Augenblick lang war es totenstill. Nicht ein Atemzug von einem der sieben Ritter oder der fajía war zu hören.

„Chaosgeister”, kam es dann von dem, der vermutlich der Indigofarbene war. „Welche Chaosgeister?”

„Jene Chaosgeister”, erklärte Úldaise Tiáramalé, „die zurzeit ihre Bande abwerfen und sich auf den Weg machen, etwas mehr … Spannung in das Weltenspiel zu bringen.”

„Chaosgeister?”, rief Elosál aus. „Aus dem Norden? Im Regen?”

„Nein. Aus dem Süden. Aus der Wüste.”

Aus der Wüste? Jener Wüste, die ich dort durch das Fenster im Flimmern und Gleißen des Wetterleuchtens sah, jene Wüste, in der Yalomiro und Cýelú Irísolor umherirren mochten, um die Kinder zu suchen?

„Chaosgeister.” Elosál sagte das ganz ruhig, ganz sachlich. Es schien die fajía nicht im Geringsten zu überraschen, und das war das Allerschaurigste an der ganzen absurden Situation. „Jemand hat also die Chaosgeister unter unseren Augen entfesselt?”

„Nicht jemand.” Der alte Mann verneigte sich bescheiden. „Ich. Und das ganz ohne Magie. Nun aber käme es mir sehr zupass, ließe sich das, was ich in Gang gesetzt habe, ein klein wenig lenken.” Er wandte sich ruckartig zu mir. „Den Stab, törichtes Weibsbild! Andersweltwesen! Verzagte Unkundige mit geliehener Magie! Beschmutze den Stab nicht mit unfähigen Händen!”

Er schnellte vor und griff nach mir, beziehungsweise nach dem Stab. Aber noch bevor er mich erreichte, zuckte ein goldener Magieimpuls an mir vorbei, verblüffend schwach, aber doch fest genug, um Úldaise Tiáramalé umzureißen und ein paar Schritte über den glatten Boden schlittern zu lassen.

„Zu mir!”, rief Elosál, offenbar selbst erschrocken darüber, wie wenig ihr Bann bewirkt hatte. Die arcaval’ay stürmten auf sie zu; im Vorbeirennen packte mich einer von ihnen schmerzhaft am Oberarm und wollte mich mit sich zerren. Der Schmerz zeigte mir, dass ihre maghiscal noch nicht ganz erloschen war. Aber es war nur ein ganz kurzes Zucken, etwa so, als hätte ich einen aufgeladenen Wollpullover berührt.

Die arcaval’ay, die fajía, sie verloren ihre Magie in ihrem eigenen Heiligtum. Wie konnte das sein? Lag es möglicherweise daran, dass sie nicht vollzählig waren? Dass der Platz an Elosáls Seite leer war?

Úldaise war schon wieder auf den Beinen. Während die Sieben sich schützend um Elosál herum aufstellten, kam er auf mich zu, mit einer gespenstischen, lauernden Grazie, die absolut nicht zu einem Greis passte. Er hatte es nicht eilig. Aber ganz offensichtlich war ich sein Ziel.

Yalomiro, dachte ich. Wie soll ich das denn fertig bringen? Wie soll ich denn hier, an diesem Ort, diesen dummen Stab verteidigen? Wir brauchen dich!

„Versucht es nicht”, höhnte Úldaise. „Der Cielástel ist ungeschützt. Die arcaval’ay können dir nicht helfen. Und hättest du mir den Stab freiwillig schon im Stall überlassen, dann wäre all das mit ein bisschen weniger Peinlichkeit verlaufen.”

„Freiwillig”, hörte ich mich sagen, „bekommt ihr den Stab nicht. Und … und die arcaval’ay auch nicht! Die camata’ay haben gelobt, dieses … Ding zu hüten, damit nie wieder jemand damit Unheil anrichtet!”

„Meisterin!”, rief Elosál aus, und ich wusste, dass hinter mir sieben kampfbereite Ritter standen, denen die Magie regelrecht ausgelaufen und zu einer undefinierbaren, gräulichen Nicht-Farbe verschmolzen war.

„Die Cielástel ist also ungeschützt?”, fragte ich, während mein Verstand panisch versuchte, mir den Mund zu verschließen.

„Solange es regnet”, antwortete Úldaise, „sieht es schlecht aus mit Pataghíus Unterstützung. Magie aus Feuer und Farben ist bedauerlicherweise nicht sonderlich wetterfest, scheint mir.”

„Dann bin ich wohl in der Verantwortung”, redete ich weiter und löste meine linke Hand von dem Stab.

„Das ist Anmaßung”, sagte der sinor und kam gelassen näher. „Gib mir nur den Stab.”

Ich konzentrierte mich auf meine maghiscal. Tatsächlich. Ich konnte sie wieder spüren, nun, da ich darauf achtete. Ich atmete tief ein und besann mich auf das, was ich so lange geübt und gelernt hatte. Darauf, was Yalomiro mir in grenzenloser Geduld beigebracht hatte. Sogar den Spickzettel hatte ich vor Augen. Ich spürte die Magie in meiner Hand, kühl und silbrig und vertraut. Ich formte und verbarg sie gerade lange genug, bis Úldaise Tiáramalé bis auf Griffweite an mich heran war.

Dann warf ich das Silbergespinst von mir, ließ den Faden so schnell durch Pataghíus Halle zucken, wie es ging und spann, ohne nachzudenken, das magische Netz um mich, die arcaval’ay und Elosál herum.

Überraschenderweise schien Pataghíu nichts dagegen zu haben.