
Die Kreaturen hatten von ihnen abgelassen, zumindest für den Moment. Aber sie umkreisten weiterhin den Tisch, wie aasfressende Tiere, die darauf lauerten, dass eine todwunde Beute die Kräfte verließen.
Manjév hockte zusammengekauert mitten auf dem schwarzsilbernen Holz und fühlte sich leer. Sie zuckte zusammen, wann immer überraschend eines der Monster aus dem Sand herausschoss, aber sie hatte keine Angst mehr. Es war besser, keine Angst zu haben. Die Wesen würden sie früher oder später erwischen, vielleicht mochte das noch viele Tage dauern, aber es würde unweigerlich geschehen. Vielleicht war es vernünftiger, das mit Gleichgültigkeit zu erwarten. Die Erwachsenen würden sie nicht retten. Wenn ihnen das möglich gewesen wäre, längst hätten sie es getan.
Das Mädchen fragte sich, ob sie vielleicht auf dem Weg hinter die Träume waren, in einer Art Zwischenwelt, in einem Übergang zwischen dem, was heute Vormittag noch ihr Alltag gewesen war, und einer, zu denen sie Zugang finden würden, sobald die Monster das Interesse an ihnen verloren. Ob das hier überhaupt ein Ort war? Oder doch eher so etwas wie ein Korridor mit lauter verschlossenen Türen?
Sie spähte bedrückt zu Merrit Althopian hinüber, der zusehends erschöpfter wirkte. Der Junge strich unermüdlich, viel zu nah an der Tischkante, um sie herum, seinen fiebrig flackernden Blick auf den Sand gerichtet. Wo immer er eine Bewegung wahrnahm, die auf das Auftauchen eines Monsters hindeutete, ließ er seine Waffe drohend kreisen, ab und zu auch auf eine besonders dreiste Kreatur niedersausen. Er hielt sie auf Abstand. Aber er war auch nur ein Junge, ein Kind wie sie selbst, ermattet und sicher verängstigter, als sie es sich ausmalen konnte. Aber im Gegensatz zu ihr schien er nicht aufgeben zu wollen. Würde ein Erwachsener mit ebensolcher Beharrlichkeit handeln? Hätte ihr Vater, hätte eine der yarlay, sich so über seine eigenen Kräfte und Möglichkeiten hinaus gewagt? Was mochte es sein, woraus Merrit Althopian seine Kraft schöpfte?
Osse stand nicht ganz so nah an der Tischkante, aber er hielt ebenso wachsam Ausschau auf das Sandmeer, auf dem der Tisch dümpelte. Er war seltsam gebeugt und griff sich immer wieder an seine Schulter. Ob das Wesen, das ihn gepackt hatte, wohl doch verletzt hatte? Doch falls dem so war, ließ er es sich nicht anmerken. Furchtlos war er auf das höchste Dach weit und breit gestiegen, um seinem Freund zu helfen, einem Jungen, der er erst wenige Tage zuvor kennengelernt hatte. Manjév dachte darüber nach. Láas und Jándris, die unzertrennlich waren, aber schon als kleine Wiegenkinder miteinander gespielt hatten, erschienen ihr ähnlich vertraut miteinander wie diese beiden hier. Kinder, die die Mächte in ihr Leben geworfen hatten und die sie selbst, die teirandanja, in diese schlimme Lage gebracht hatte. Wahrscheinlich hätte die beiden älteren Jungen ebenso gehandelt und füreinander eingestanden, nur, dass sie auf der falschen Seite der Tür gelandet waren.
Die teirandanja schniefte, bedacht, dass die Jungen sie nicht hörten. Wenn sie doch wenigstens Tíjnje noch einmal hätte sprechen können. Wie sehr schmerzte es, dass sie auf die vertraute Anwesenheit des anderen Mädchens verzichten musste. Andererseits – die Kleine war in Sicherheit, bei ihrer Mutter, ihrem Onkel, ihrem Großvater. Tíjnje würde leben. Kein abscheuliches Monster würde versuchen, sie zu fressen.
Merrit schlug erneut zu und brüllte den Kreaturen unschickliche Beschimpfungen entgegen. Wo er solche Worte wohl hergenommen hatte? Ob Waýreth Althopian zuweilen so sprach, wenn er glaubte, niemand höre ihm zu?
Manjév seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Warum nur fühlte sich die Gegenwart von Merrit Althopian so schrecklich an? Etwas in ihr drängte sie dazu, sich dem Jungen anzuvertrauen, der doch so offensichtlich in aller Unschuld und Besorgnis und ohne sich Schwäche zu erlauben vor sie zu stellen, sie zu beschützen. Je länger sie darüber nachdachte, glaubte sie, dass es mit den sonderbaren Dingen zusammenhängen konnte, die hier geschahen. Sie verspürte in diesen Augenblicken, die die letzten ihres Lebens sein würden, das Bedürfnis, mit diesem Jungen ihren Frieden zu machen. Sie musste sich überwinden.
„Merrit Althopian”, sagte sie leise, „du kannst diese Dinger nicht besiegen.”
„Ich kann sie so lange aufhalten, wie ich durchhalte”, sagte er, ohne sich zu ihr umzuwenden. „Mein Vater und die anderen sind doch auf dem Weg zu uns! Unsere Eltern werden uns retten!”
„Merrit …”
„Eltern versuchen immer, ihre Kinder zu retten!”, beharrte er. „Ich bin sicher, sie tun alles, was ihnen dazu einfällt!”
„Und wenn wir an einem Ort sind, an den sie gar nicht gelangen können?”
„Das Bötchen ist auch zu uns gelangt”, mischte sich Osse Emberbey ein. „Es gibt Wege hierher! Sicher finden sie hierher!” Und, als wäre ihm bewusst geworden, dass er seiner teirandanja ein Widerwort gab, fügte er hinzu: „Verzagt nicht, Majestät.”
„Ja”, schloss sich Merrit an und verscheuchte ein weiteres Monster mit einem warnenden Hieb. „Wir beschützen Euch so lange, bis Euer Vater und Eure Mutter Euch wieder in den Armen halten.”
Darauf hatte sie keine Antwort. Die Jungen hatten wohl nicht vor, zu akzeptieren, dass sie schon aufgeben wollte. Vielleicht, rief sie sich zur Ordnung, geziemte sich das nicht für eine teirandanja. Vielleicht würde sie die beiden enttäuschen, wenn sie durchblicken ließ, wie hoffnungslos sie sich wähnte. Vielleicht würden sie aufgeben, wenn sie aufgab.
„Wenn wir gerettet werden”, fragte sie, „was dann? Was …”
„Redet weiter, Majestät. Sprecht!”
Sie schaute auf. Die Jungen umkreisten sie, so wie die Monster im Sand es mit dem Tisch taten. Für einen bizarren Moment glaubte Manjév, sie führten einen stummen Reigentanz um sie herum auf. Das erschien ihr noch unheimlicher, als alles übrige ohnehin war.
„Ich will zu meiner Mama”, gestand sie. „Ich will, dass mein Papa mir törichte Geschichten erzählt. Ich will mit Tíjnje vor dem Kamin sitzen und mit meinen Puppen spielen. Ich will mit Láas und Jándris über die Frühlingswiesen reiten. Aber das ist … das wird nie wieder sein, nicht wahr?”
„Ich habe Euch ein schönes Pferd ausgesucht”, entgegnete Merrit Althopian, ohne sich zu ihr umzuwenden. „Mein Vater wollte, dass ich es selbst auswähle. Habt Ihr es Euch schon angeschaut, Majestät? Ein feines Schimmelstütchen, das so sanft läuft, als säße man auf einem Sessel?”
„Nein”, gestand Manjév und schämte sich. Aus purem Trotz hatte sie der kostbaren Gabe noch gar keinen Blick geschenkt.
„Was denkt Ihr, Majestät, wie viel Freude Ihr daran haben werdet, mit diesem Pferd im Frühling über die Wiesen zu galoppieren! Wie die anderen Damen Euch bewundern werden, wenn ihr darauf die großen Ausritte anführt!”
Warum sagte er das? Wollte er erreichen, dass sie ihre Zuversicht an der Verlockung des Pferdes festmachte, wenn schon nicht an ihm selbst? Wofür wollte er befreit werden, weiterleben, die Monster besiegen?
„Was möchtest du, Merrit Althopian? Was willst du tun, wenn sie uns erst gerettet haben?”
„Ich? Ich will zu meinem Vater zurück! Ich will nach Hause und bei ihm sein und ihn nie wieder allein lassen. Und dann will ich ein Ritter werden und stark und gerecht und tapfer sein wie er! Ich will gut und geliebt sein und machen, dass Frieden ist und bleibt.”
Was könnte gefährlicher sein als das, was er ohnehin gerade eben schon bekämpfte? „Und du, Osse Emberbey?”
„Mein Vater hat mir versprochen, dass ich in Virhavét und Ivaál lernen darf”, antwortete der Junge. „Ich will alles lernen, das in meinen Kopf hinein passt. Und dann will ich daheim sein und auf Raýneta und Truda achtgeben, bis die beiden alt genug sind, um es allein zu tun. Und wenn sie mich nicht mehr brauchen, dann will ich ein kluger Gelehrter sein und den Ruhm meiner Familie fortführen.”
Manjév war beeindruckt. Die beiden schienen besessen von dem zu sein, was sie als Erwachsene hätten erreichen wollen, dass es ihnen die Kraft gab, sich dem unweigerlichen Ende zu widersetzen und sich an der Hoffnung festzuhalten, dass jemand sie retten würde. Sie dachten an das, was sein würde. Nicht an etwas, an das sie sich erinnerten und viel zu gering geschätzt hatten. Wenn sie etwas zum jammern verspürten, dann wollten sie davon nichts wissen.
Sie nahm das Spielzeugboot in die Hand und betrachtete es nachdenklich. Welches Kind mochte es gebaut und an den Sand verloren haben?
„Majestät.” Merrit Althopian ließ seinen Streitflegel noch einmal drohend auf den Sand niederklatschen, holte die Metallkugel ein und kniete dann halb in ihre Richtung gewandt nieder. „Vielleicht bringt Euch das hier auf andere Gedanken.”
Er zog etwas unter seinem Hemd hervor und reichte ihr ein Tuch, in das etwas eingeschlagen war. Sie nahm es und lüftete die Hülle. Es war ein rot schimmernder Edelstein von beachtlicher Größe und einer glatt glänzenden Oberfläche.
„Was ist das?”, fragte sie, während er sich schon wieder erhob, um die Monster zu vertreiben.
„Es war in dem Zimmer, in das ich einst hinein ging. Ich wollte es als Beweis mitnehmen, dass ich hier war. Ich denke, daran zweifelt Ihr nicht mehr.”
Manjév schaute ratlos den faustgroßen Stein an. Wenn das tatsächlich ein großer Karfunkel, war, dann war er enorm wertvoll. Aber was sollte sie hier und jetzt damit anfangen?
„Danke”, sagte sie und griff an ihren samtenen Gürtelbeutel, um den Edelstein zu verstauen. Aber zu ihrer Überraschung fand sie darin viel zu wenig Platz. Es war ein altbackener Wecken, der ihr unter die Finger geriet. Am Vormittag, so fiel ihr ein, hatte sie den kleinen Frühstücksbrotlaib achtlos eingesteckt. Das war gewesen, bevor der Regen gekommen war, als sie mit Tíjnje das Frühstück geholt hatte.
Die teirandanja betrachtete das Brot einen Moment lang verwirrt, holte es hervor und wollte gerade den glänzenden Stein in den Beutel hineinlegen, als sie, ganz flüchtig nur, etwas sah, dass sich in dem Karfunkel widerspiegelte. Für einen Wimpernschlag erkannte sie die Spiegelbilder der beiden Kinder, die links und rechts dicht neben ihr standen und ihr den Rücken zuwandten, um den Sand zu beobachten. Aber es waren nicht der abgekämpfte blonde Knabe mit dem Streitflegel, nicht der magere Junge mit der hängenden Schulter. Da waren zwei erwachsene Männer zu ihrer Seite, einer in Rüstzeug, einer mit vornehmer Robe, beide von ihr abgewandt.
Willst du das, kleine teirandanja, klang etwas in ihrem Verstand, etwas, das definitiv nicht das schreckliche Wesen war, das den Sand hierher gebracht hatte. Es war etwas anderes, fremd, freundlich und vertraut zugleich. Und es war … weiblich. Willst du, dass das wahr wird? Willst du ihnen das gewähren?
Und dann war es vorbei. Die teirandanja schaute von einem zum anderen und wieder zurück in den nun stumpfen Stein, ging sogar soweit, diesen zu schütteln, woraufhin sich natürlich nichts tat. Was war das gewesen? Spielte ihr ihre Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit einen Streich?
Sie strich über den Karfunkel. Er zeigte ihr kein Bild mehr, doch er fühlte sich auf eine ganz sonderbare Weise angenehm an. Von dem gerade noch kühlen Stein ging eine Wärme aus, etwa so, als läge ein Sonnenstrahl auf ihrer Hand. Manjév von Wijdlant und Spagor war so fasziniert, dass sie für einen Moment ganz vergaß, dass sie umzingelt von Monstern in einer sanderfüllten Leere saß. Wer … oder was war das gewesen, das da zu ihr geredet hatte? War da etwa doch noch etwas anderes bei ihnen, etwas, das ihnen wohlgesonnen war?
Dieser rote Stein … das war kein schnöder teurer Karfunkel. Das war ein Geschenk. Eine Botschaft. Ein Versprechen.
„Ich”, murmelte sie, „will dabei sein.”
„Majestät?”
„Osse … Merrit. Lasst die Monster. Kommt zu mir. Kniet nieder.”
Sie selbst erhob sich, stellte den Stein und das Boot zwischen ihren Füßen ab, von denen einer keinen Schuh mehr trug. Die Jungen wechselten einen verwirrten Blick miteinander.
„Beeilt Euch! Schnell! Entscheidet Euch!”
Die beiden Jungen gehorchten. Natürlich. Wie hätten sie ihr widersprechen sollen?
Manjév brach von dem drögen, zäh gewordenen Brot ab, einen Brocken für jeden.
„Lass es uns noch einmal richtig machen”, sagte die teirandanja, steckte den Rest des Brötchens ein. „Ohne Erwachsene, die es niedlich finden. Ich glaube, hier und jetzt und nur wir drei, so muss es sein.”
„Ohne Erwachsene, die es bezeugen?”, fragte Osse stirnrunzelnd. „Ist es dann gültig?”
„Natürlich. Es reicht doch, wenn wir es wissen. Es ist nur für uns, für euch beide und mich.” Die teirandanja schaute von einem zum anderen und dann auf den Sand ringsum. Dessen Oberfläche war spiegelglatt. Die Kreaturen hielten den Atem an.
Wie possierlich, spottete das andere, das Schlimme in Manjévs Verstand. Was soll es ändern? Es wird nie geschehen! Es wird nie passiert sein!
Das Mädchen erschrak still. Aber es hatte keine Angst.
„Merrit Althopian”, sagte sie und gab ihm das Stückchen altes Brot. „Willst du der erste unter meinen yarlay sein? Willst du den Mächten gefällig handeln und der Wächter des teirandon sein? Wirst du mich, die Menschen und das Weltenspiel beschützen, so wie du es hier und jetzt getan hast?”
Er schaute sie einen Augenblick lang stumm an. Der Fieberglanz in seinen so unwirklich hellen Augen war verglommen.
„Meine teiranda“, sagte er leise und streckte die Hand aus. Als ihre Finger die seinen berührten, schauderte sie. Was war das nur?
Gern hätte sie ihn gefragt, ob auch er etwas gefühlt hatte, aber das war nicht der richtige Moment.
„Osse Emberbey. Willt du mein mynstir und treuer Ratgeber sein? Willst du das Wissen und die Weisheit, die du zusammentragen wirst, mit mir teilen, mir beistehen, eine den Mächten gefällige teiranda zu sein und für mich handeln, wenn ich es nicht kann?”
Er verneigte sich und nahm das Brot. „Meine teiranda.”
„Dann soll es so sein”, flüsterte sie. Und bevor sie sich klar machte, was sie tat, noch bevor die beiden begonnen hatten, zu kauen, kniete sie bei ihnen und umschlang sie innig mit ihren Armen. Das war ganz gewiss nicht Teil des Rituals, nicht statthaft und nichts, was ein Zeuge jemals hätte sehen dürfen. Sie spürte, wie die Jungen erstarrten, natürlich, denn es war nicht angemessen, dass sie einander so nahekamen. Und sie glaubte, zu fühlen, wie die Herzen der beiden und ihr eigenes schlugen, so heftig, dass es den Tisch und den Sand zum Vibrieren brachte. Aber waren das wirklich ihre Herzen? Oder war es das Krachen von Axtschlägen, in weiter, weiter Ferne, das leise erklang? Das näher herankam wie eine anrollende Welle, den Sand aufstörte wie Wasser in der Brandung und sie mit ohrenbetäubender Gewalt niederriss, während der Tisch emporgehoben wurde, geradezu sprang und das Knäuel aus Kindern davontrug? Während irgendwo in der fernen Welt uralte Holzdielen unter der Last brachen und zugleich Wassermassen emporschossen, so als ob ein Korken aus einem übervollen Fass sprang, während ringsum Menschen um ihr Leben schrien?
***
Ohne sich abgesprochen zu haben, hieben Waýreth Althopian oben und Andríer Altabete unten im Turm zugleich mit den vergoldeten Äxten auf die beiden versperrten Türen ein. Die Menschen unten im Turm hatten beschlossen, diesem yarl den Versuch zu überlassen. Yarl Emberbey war nicht mehr stark genug, um mit der nötigen Gewalt eine Axt zu schwingen, yarl Grootplen hätte es wohl getan, fand es aber sinnvoller, sich um seine Enkeltochter zu kümmern, eine gute Entscheidung, wie sich unmittelbar im Anschluss erwies. Tíjnje war tapfer und weit davon entfernt, sich wie ein ängstliches Wiegenkind zu geben. Aber sie war von allen Anwesenden die kleinste und zerbrechlichste, die er mit seinem stattlichen Körper beschirmen wollte, für den Fall, dass weitere Sandmassen niederstürzten. Der teirand fühlte sich einen Moment lang verpflichtet, selbst den entscheidenden Schlag zu tun, aber er hatte sich nie als geschickter Kämpfer versucht und die Axt sicher nicht richtig geführt. Und da es der Dame und den beiden Jungen hierzu an Kraft mangelte, blieb die Sache nun ohne große Diskussion in Altabetes Hand.
Andríer Altabete fixierte die Tür mit eben dem unnachgiebigen, respekteinflößendem Blick, mit dem er bei so manchem Turnier seinen Gegner verunsichert hatte. Doch die Tür kümmerte sich nicht darum.
„Schlag das Schloss heraus, Vater”, empfahl Jándris. „Das ist die schwächste Stelle.”
„Was du nicht sagst”, knurrte Altabete. „Mehr Licht hierher, dass ich das verfluchte Ding auch sehen kann!”
Asgaý von Spagor hielt seine Laterne näher an die Tür und schützte sie zugleich mit einem der Schilde gegen den von oben rieselnden Sand. „Seht Ihr so besser?”
„Wie kann es so rasch so finster geworden sein?”, murmelte die teiranda. „Ist es draußen denn schon Nacht?”
„Das werden wir gleich wissen.” Emberbey leuchtete seinerseits mit einer Flamme, die sie aus ihrem Ofen genommen hatten. „Seid bedacht, Herr Andríer. Das Gold wird nicht lange halten.”
Altabete tat einen unwilligen Laut und schwang die Axt, noch bevor jemand anderes ihm weitere schlaue Ratschläge erteilen konnte. Das vergoldete Blatt drang krachend in das Holz. Tatsächlich. Es drang hinein und Splitter brachen aus dem Holz.
„Es glückt!”, rief Láas entzückt aus. Die Brandwunde unter seinem Auge sah übel aus, doch der Junge strahlte übers ganze Gesicht.
„Vorsicht!”, mahnte Grootplen. „Dass das Gold sich nicht absprengt!”
Altabete löste die Axt vorsichtig ruckend aus der Tür. Die Vergoldung schien weitgehend intakt zu sein. Er holte erneut aus, diesmal mit etwas mehr Zuversicht im Blick.
Im selben Moment traf oben im Turm die kleine Axtklinge die Tür des Turmgemachs, und Waýreth Althopian brach der Boden unter den Füßen weg.
Die schweren Balken und Dielen splitterten unter dem Gewicht von weit mehr Sand, als in das Gemach gepasst hätte, und alles zusammen, Holz, Sand und der Ritter stürzten in den Abgrund, der sich unter ihm auftat, und den entgeisterten Menschen im Erdgeschoss entgegen. Aber obgleich all das Gewicht im Bruchteil eines Herzschlags hätte fallen und sie alle umgehend hätte erschlagen müssen, geschah das nicht. Stattdessen schien alles, der Sand und die Trümmer, nicht schwerer zu sein als ein zerfetztes Federbett, zumindest, was die Fallgeschwindigkeit betraf. Der Sand fiel wie eine Wolke, wie sich senkender Nebel, und begann etwas auf halber Höhe des Turmes zu stocken, sich zu formieren, zu rieseln wie das Innere einer Sanduhr. Was immer es mit diesem Sand auf sich hatte, es war nicht darauf aus, die Menschen zu erschlagen.
Geistesgegenwärtig schwang Asgaý von Spagor seinen Schild und stieß seine hýardora so nah an die Wand, wie möglich. Der Sandregen ging auf das arg ramponierte Holz nieder und rutschte beiseite. Die überraschten Schreie der anderen wurden von dem prasselnden Geräusch übertönt. Dann wurde es für einen Augenblick ganz still. Und dunkel, denn keines der Lichter und Feuer hatte das, was soeben geschehen war, überstanden.
„Opa”, beschwerte Tíjnje sich mit kleinem Stimmchen, „du erdrückst mich!”
„Althopian!” Das war Emberbey. „Althopian! Seid Ihr das?”
„Was ist geschehen?”, kam es irgendwo, ganz in der Nähe matt zur Antwort. Tatsächlich, es war die Stimme von Waýreth Althopian.
„Wo sind wir?”
„Das mögen die Mächte wissen”, sagte der teirand. „Wo seid ihr? Sind alle wohlauf?”
„Láas? Jándris?”
Sie riefen einen Moment einander bei den Namen, bis jeder in dem Stimmengewirr geantwortet hatte, aber sie fanden nicht gleich zueinander, denn um sie herum war nichts als Finsternis und Sand, heißer, loser Sand, der sie begraben hatte und zum Teil wie eine schwere Last, zum Teil leicht wie Pulverschnee auf ihnen lag. Sämtliche Fackeln und Lampen, die sie bei sich geführt hatten, waren erloschen.
„Das ist wie ein Moor!”, rief Láas erschrocken. „Etwas zieht mich hinab!”
„Bewahrt die Ruhe”, versuchte Altabete, sich Gehör zu verschaffen. „Wir müssen an die Oberfläche. Versucht, Euch empor zu graben.”
„Es geht nicht! Etwas zieht an mir!”
„Nicht strampeln!”, rief Althopian. „Ganz ruhig! Rede mit mir, Láas! Wo bist du? Ich komme zu dir!”
„Nein!”, keuchte der Junge. „Nicht! Dann zieht es Euch auch herab!”
„Kíaná!” Der teirand war in Aufruhr. „Kíaná! Wo bist du?”
„Hier”, antwortete die Dame, viel weiter fort, als sie gerade noch von ihm entfernt gestanden hatte. „Ich … ich schwebe!”
„Was?”
„Der Sand, er … trägt mich!”
„Verflucht!”, entfuhr es Altabete. „Wir brauchen Licht!”
„Herr Andriér! Habt Ihr noch die Axt in Händen?”
„Ja! Was soll ich damit, Emberbey?”
„Festhalten! Lasst sie nicht los!”
„Ist jemand verschüttet? Ist jemand in Not?” Grootplen klang, als sei sein Mund voller Staub, er hustete, und Tíjnje in seinem Arm wimmerte auf.
„Ja, ich!”, kam es von Láas. „Der Sand … er rieselt unter mir weg!”
„Hier! Hier, Láas, ich höre dich. Ich hab ein Stück Holz! Halt dich daran fest!”
Sie hörten, wie Jándris seinem Freund ein Trümmerstück der Holzbohlen zuschob. Asgaý von Spagor hatte sich an die Oberfläche gearbeitet und stapfte unbeholfen auf die Stimme seiner hýardora zu.
„Wo sind wir?”, wiederholte er. „Bei den Mächten, was ist das nun wieder für ein verfluchter Zauberort?”
Denn dass sie sich nicht mehr im Turm befanden, das war offensichtlich. Keine Mauern, keine steinernen Trümmer waren um sie herum. Doch nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, denn nun waren wieder Schemen zu erkennen. So, als ginge eine unendlich weit entfernte Sonne über ihnen auf, gedämpft durch eine dicke Schicht aus Nebel oder Wolken.
„Wo sind wir?”, beharrte der teirand, doch niemand konnte ihm eine Antwort darauf geben. Nach und nach kamen sie alle auf mehr oder minder festem Boden zu stehen.
„Bemerkt ihr das?”, fragte Waýreth Althopian.
„Was meint Ihr?”
„Der Sand. Er wird … nun, fester.”
„Wahrhaftig. Er wird feucht.”
„Was sagt ihr da, Emberbey?”, fragte Grootplen und nahm Tíjnje auf den Arm.
„Es zieht Wasser hinein”, antwortete der alte yarl. „Fühlt Ihr es, Majestät? Es ist wie daheim am Meer, wenn die Flut aus dem Boden kommt.”
„Althopian”, fragte Kíaná von Wijdlant und stapfte schwankend heran. „Althopian? Wo ist Manjév? Wo ist meine Tochter? War sie nicht mit Euch?”
Der Ritter wandte sich seiner Gebieterin zu. Auch der teirand schaute ihm gespannt entgegen.
„Ich weiß es nicht”, gestand er dann. „Ich weiß nicht, wohin sie und Osse geraten sind. Ich hoffe, sie sind bei meinem Sohn.”
„Bei den Mächten”, wisperte Asgaý von Spagor. „Ihr habt Manjév aus den Augen gelassen? Wie könnt Ihr wagen …”
Althopian senkte beschämt den Kopf. „Ich habe versagt, Majestät.”
„Sie werden doch wohl nicht im Sand untergegangen sein?”
„Osse!” Das war yarl Emberbey. Er rief nicht besorgt, nicht verstört nach seinem Sohn. Er rief mit einer solchen Strenge, dass der Junge sich ganz gewiss auch nicht in der Tiefe des Sandes zu verbergen gewagt hätte. „Osse Emberbey! Antworte mir!”
„Emberbey!”, mahnte Grootplen und versuchte, den yarl zu beschwichtigen. „So beruhigt Euch!”
„Beruhigen? Wovon redet Ihr, Herr Daap? Osse! Osse Emberbey! Wenn du mich hörst, dann zeig dich! Zeige dich augenblicklich! Gehorche deinem Vater!”
„Herr Alsgör!” Kíaná von Wijdlant zögerte, den Ritter zu berühren. „Har Alsgör, seid ruhig! Es hat keinen Zweck!”
„Keinen Zweck? Wo soll er denn sein, mein Sohn? Er kann doch nicht… hier im Sand … mein Sohn …” Seine Stimme wurde immer leiser, verwirrter. Dann entfuhr dem alten Ritter ein zitterndes Seufzen.
„Manjév!”, rief da plötzlich auch Tíjnje und strampelte sich vom Arm ihres Großvaters los. „Manjév! Komm zu uns! Nicht verstecken! Wir spielen ein andermal weiter, ja?”
„Tíjnje!”
Doch das kleine Mädchen ließ die anderen stehen und rannte leichtfüßig davon, so schnell, dass Láas und Jándris Mühe hatten, ihr zu folgen. „Manjév! Manjév!”
„Tíjnje! Komm zurück! Wo willst du denn hin?” Jándris erwischte das Mädchen beim Schürzchen und brachte es zu Fall. Tíjnje wehrte ihn unwillig ab.
„Ich höre sie doch! Hört ihr sie etwa nicht?”
„Was?”
„Pst! Seid doch leise!”
Die Erwachsenen hatten die Kinder eingeholt und lauschten. Ringsum rieselte der Sand, und aus der Tiefe klang etwas wie ein ersticktes Blubbern und Rauschen. Und ganz entfernt, weit, weit weg, rief ein kleines Mädchen nach ihren Eltern.
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