Der Violette war durch den einsetzenden Regen gerannt, so schnell er nur konnte. Von der Burg bis zu den Gärten, wo sich die Weide für die Einhörner befand, war es nicht allzu weit, aber der Regen schien den Boden aufzuweichen und zu einer zähen Masse zu machen, wo immer sich eine Pfütze bildete. Das Leuchten und Flimmern in den Wolken war unheimlich, und dem Ritter wurde immer klarer, dass es unter gar keinen Umständen mit diesem Wetter mit rechten Dingen zuging. Etwas hatte sich über dem Cielástel zusammengebraut und war in solcher Eile riesig geworden, dass es ihn entsetzte, ungeachtet all dessen, was er bereits an Gefahren bestanden, bekämpft und niedergerungen hatte.

Es würde schlimm werden. Und sicherlich hatte es etwas damit zu tun, dass die Schattensänger die fürchterliche Waffe herbeigebracht hatten, wenn auch sicher nicht aus bösem Willen. Arcaval’ay konnten Seelen lesen, und die der schüchternen Schattensängerin wäre nicht dazu imstande gewesen, etwas Feindseliges zu tun, im Gegenteil. Diese Frau hasste Unfrieden und Gewalt.

Aber die Einhörner, die brauchten sie nun, schnell und dringend in ihrer Nähe. Wenn es schlimm würde, wenn es nötig würde, den Cielástel, Aurópéa und das Weltenspiel zu beschützen, vor was auch immer sich da gerade seine Bahn brach, dann brauchten sie ihre Rösser.

Die Einhörner standen eng beieinander unter den Steinpalmen am Rande der Weide. Die Tiere blickten ihm vorwurfsvoll entgegen, als er sich näherte. Sie waren nass und trugen ihre Schwingen so fest geschlossen am Körper, wie es nur möglich war. Keines von ihnen schätzte es, im Regen zu stehen: schon gar nicht in Regen, der sich so unangenehm anfühlte. Farbenspiel war nicht bei ihnen. Der Plan, das entflogene Einhorn einzufangen, indem man ihm die Herde präsentierte, war also nicht aufgegangen. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Wahrscheinlich war der junge Hengst doch in die Wüste hinausgeflogen, oder er verwüstete gerade einen Obstgarten.

Und der Junge? Ob der Goldene wenigstens seinen Sohn hatte aufspüren können?

So viel Missgeschick und Sorge, und alles zur gleichen Zeit! Ganz so, als sei es einer unbekannten Macht in den Sinn gekommen, so viel Unordnung und Hektik als möglich zu veranstalten.

Der arcaval’ay lockte sein eigenes Reittier an. An einem schönen, sonnigen Tag hätte ihn das einige Zeit gekostet, denn in der Regel versuchten die Einhörner, ihre Weidezeit trickreich auszudehnen. Aber diesmal setzte sich das amethystfarbene Einhorn bereits in Gang, noch bevor er danach rufen musste. Unaufgefordert schlossen sich die sieben anderen an. Der Violette versuchte einen kleinen Bannzauber, der funktionieren sollte, als führe er jedes einzelne an einem Halfter, aber zu seiner Beunruhigung brachte er nicht mehr zustande als ein dünnes, substanzloses Bändchen.

Der verfluchte Regen. Das Wasser. Es versuchte, die maghiscal aufzulösen, die Pataghíu ihnen gegeben hatte, um in diesem Weltenspiel zu bestehen. Wie ein Bröckchen Salz in einer siedenden Suppe.

Nun, die Einhörner wären brav. Trockenheit, weiches Stroh und gutes Futter würde sie eher überzeugen als ein magisches Zaumzeug. Der Ritter erklomm sein Ross, versuchte, sich damit zu beruhigen, dass ihm schlimmstenfalls die ganze Herde auseinander preschen und hernach mühsam aus den Obstgärten zu entfernen wäre, und trieb es in die Luft. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Es war ihm nicht wohl dabei, die fajía allein mit der camatay’ra und dem sinor zu lassen, der sich so ungewöhnlich verhielt. Die Großmeisterin würde ihren Beistand benötigen, den aller arcaval’ay. Auch den des Großmeisters, mochten die Mächte ihn in diesem Sturm beschützen.

Während er auf seinem violetten Einhorn voran galoppierte, die anderen wie einen ungeordneten Regenbogen im Schlepp, wurde das Flimmern in der grauen Wolkendecke immer heller. Aber es machte die trübe Welt unter dem Regen nicht bunter.

***

Der sinor Úldaise betrat Pataghíus Halle mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es meinen Verdacht noch mehr bestärkte. Mit diesem alten Mann, diesem Würdentrüger aus der großen Stadt, stimmte etwas nicht. Lag es an meiner Unwissenheit, dass ich dem Greis mit solchen Vorbehalten begegnete? War diese an Arroganz grenzende Selbstverständlichkeit, diese Hochnäsigkeit gegenüber den Magiern normal bei den Einwohnern von Aurópéa, oder zumindest unter den Mächtigen unter ihnen?

Yalomiro hatte mir einmal erzählt, dass in all der Zeit nur wenigen Unkundigen das Privileg zuteilgeworden war, den Etaímalon, beziehungsweise Noktámas Saal zu betreten, und das war üblicherweise in Verbindung mit Notsituationen oder unter ganz außergewöhnlichen Umständen geschehen. Doch selbst wenn die Regenbogenritter es mit ihrem Heiligtum anders hielten, erschien es mir respektlos, wie der alte Mann eintrat, mit seinem Gehstock auf den schimmernden Boden klopfte und sich so steif vor Elosál verneigte, dass es fast gelangweilt wirkte.

Sie neigte höflich den Kopf vor ihm, hielt es ihrerseits aber nicht für nötig, sich zu erheben.Ich schaute mir das interessiert an. Vielleicht würde ich aus dem lernen, was und wie sie es nicht sagte und tat.

Úldaise Tiáramalé richtete sich wieder auf. Dabei fiel sein Blick auf den Stab zu Elosáls Füßen und blieb für einen etwas zu langen Augenblick daran hängen.

„Ich bin hocherfreut”, behauptete die fajía, „dass Ihr unsere Einladung angenommen habt, ehrenwerter sinor. Und ich bin untröstlich, dass gerade heute dieses überaus seltsame Wetter Eure Reise erschwert haben mag. Wisset, dass Ihr hier unter unserem Dach sicher seid.”

„Ich hoffe”, sagte er und ließ seine Blicke wie suchend durch den Raum schweifen, „dass ich Aufklärung in das bringen kann, was immer Ihr von mir erfahren wollt. Das Wetter kam wirklich sehr überraschend und heftig.”

„Setzt Euch”, forderte Elosál ihn auf, während der Indigofarbene mit einem prachtvollen Klappsessel herbeikam, ein Kissen in der anderen Hand. Wo mochte er das so schnell hergenommen haben? Obwohl … vielleicht war die alte Frau regelmäßig in diesen Räumlichkeiten zugegen gewesen und man hatte sich bemüht, auch für ihre Bequemlichkeit zu sorgen. Während der Magier die Sitzgelegenheit besorgt hatte, waren nach und nach auch die übrigen Ritter, mit Ausnahme des Violetten, wieder erschienen. Offenbar waren sie bei ihrer Suche nach der Alten erfolglos geblieben. Wie sonderbar, dachte ich. Die Greisin konnte sich in dieser kurzen Zeit schließlich nicht in Luft aufgelöst oder so weit von der Burg entfernt haben, dass die Magier sie aus ihren Sinnen verloren hätten.

Ich wusste nicht so recht, wohin mit mir und stellte mich an die Seite des Indigofarbenen, wo ansonsten wohl der Violette Stellung bezogen hätte. Von dort aus konnte ich das Gesicht des Alten unter meinem Schleier unauffällig betrachten.

Ich spürte aber auch die Unruhe, die die fünf hinzugekommenen Ritter zu packen schien, als sie den Stab bemerkten. Das war unheimlich und mir zutiefst unangenehm. Und doch ließ keiner von ihnen sich anmerken, wie entsetzt sie waren. Ich versuchte, mir vorzustellen, was sie fühlen mochten. Vielleicht war es für sie, als betrachte man etwas, das einem Angst machte, aus der Nähe, aber hinter dem Schutz einer dicken Glasscheibe. Eine giftige Spinne, zum Beispiel.

Während ich darüber nachdachte, fiel mir aber zugleich noch etwas ganz anderes auf. Das unangenehme, heiße, schwindelerregende Gefühl von Gold und Heller Magie in Pataghíus Halle erschien mir deutlich abgekühlt zu sein. Ich spürte nach wie vor das Gold und die maghiscal der Ritter, aber es war fast erträglich geworden. Gewöhnte ich mich so sehr daran? Oder dämpfte etwas die unangenehmen Gefühle?

„Wo ist der Großmeister?”, fragte der sinor mit Blick auf den leeren Thron.

„Er wird bald hier sein. Er ist kurz vor Eurer Ankunft mit einer wichtigen Sache ausgeritten.”

„So? Obwohl ich angekündigt war, hat er das Haus verlassen?”

„Das Wetter wird ihn überrascht und aufgehalten haben.”

„Gut. Und was macht Eure unkundige Gästin hier unter Euersgleichen?”

„Ich will, dass sie hierbleibt”, sagte Elosál. „Stört euch nicht daran.”

Úldaise Tiáramalé ließ sich in dem Sessel nieder, stellte seinen Gehstock mit einem so scharfen Klacken zwischen seinen Füßen ab, dass ich befürchtete, die hauchdünne Kristallfliese darunter nähme Schaden, und stützte sich auf den Knauf. Sein grauer Blick richtete sich fest auf die fajía, nicht ohne zuvor eine Winzigkeit zu lange an dem Stab haften zu bleiben.

Warum fragt er nicht danach?, dachte ich. Das Artefakt lag so offensichtlich vor Elosál auf dem Fußboden, dass es geradezu danach schrie, beachtet zu werden. Es zum Anlass für höfliches Vorgeplänkel zu nehmen wäre nicht unverschämter gewesen, als sich über meine Anwesenheit zu wundern.

„Ich habe nach Euch schicken lassen, weil ich mit Euch über die Vorkommnisse in Eurem Garten reden möchte”, begann Elosál.

„Bei den Mächten! Was ist es, das euch an diesem unbedeutenden kleinen Vorfall so fasziniert? Es sind ein paar alte taube Bäume abgebrannt, eure Ritter haben dankenswerterweise ein Übergreifen des Feuers verhindert und der Brandstifter ist nach Gesetz und Gerechtigkeit verurteilt und gerichtet.”

„Nun”, sagte Elosál, „habt Ihr herausfinden können, mit Gesetz und Gerechtigkeit, warum man Euren Garten verbrannt hat?”

„Ich kann es mir denken. Ich weiß, dass das Pack in Aurópéa mich nicht schätzt. Wir bemühen uns mit harter Hand, den Frieden und die Ordnung in der Stadt aufrecht zu erhalten, und doch flammen immer wieder kleinere Akte des Aufruhrs auf. Nichts, was Euch in Eurer Burg beunruhigen würde.”

Elosál seufzte lautlos. Ich war überrascht über den Ton, den der alte Mann anschlug und der keinen Zweifel daran ließ, dass er sich jegliche Einmischung der arcaval’ay verbat. Die Ritter schienen bemerkenswerterweise weder empört noch überrascht zu sein.

„Wir haben uns erlaubt”, sagte Elosál, „die Brandstelle zu untersuchen.”

„Das stand Euch nicht zu. Das ist eine Angelegenheit, die allenfalls den konsej betrifft.”

„Der Brand interessiert uns nicht!” Nun erhob Elosál sich so unvermittelt und energisch, dass Úldaise unwillkürlich zurückzuckte. „Aber Euer Garten birgt ein Geheimnis, das meinesgleichen sehr wohl etwas angeht. Habt Ihr von der Höhle auf dem Grundstück gewusst?”

Der Alte seufzte. Überrascht war er nicht. „Selbstverständlich”, sagte er gelangweilt. „Eine uralte natürliche Zisterne. Als das Wasser darin noch höher stand, war der Garten ausgesprochen fruchtbar.”

„Dann wisst ihr auch, dass in dieser Zisterne Menschen ums Leben gekommen sind?”

Was? Das war für mich eine neue Information. Ich warf der fajía einen fragenden Blick zu, den sie jedoch unter meinem Schleier wohl kaum wahrnehmen konnte.

„Wann soll das geschehen sein?”, fragte der sinor.

„Dem Zustand ihrer sterblichen Überreste zufolge”, sagte einer der Ritter, der Grüne, „vor vielen Dutzenden Wintern.”

„Ich werde veranlassen, dass man diese … Überreste birgt und formell bestattet. Sonst noch etwas?”

„Ja. Überreste, die sich nicht bergen lassen. Magische Überreste.”

„Magische Überreste?”

„Wir glauben”, sagte Elosál ruhig, „dass wir nach all der Zeit den Ort gefunden haben, an dem der Mann das Weltenspiel verlassen hat, der seinerzeit das Chaos zu entfesseln wagte.”

Nun hatte ich es ganz deutlich gesehen. Úldaises Blick war zu dem Stab zu ihren Füßen hin gezuckt.

„Es steht Euch frei”, sagte der alte Mann gelangweilt, „diesen Leichnam zu nehmen und zu vernichten, wenn Euch danach ist.”

„Das”, sagte Elosál ruhig, „hätten wir augenblicklich getan, wäre da einer gewesen.”

Nun erhob sich auch Úldaise Tiáramalé und wandte sich zu mir und den sechs Rittern um. Er grinste über sein ganzes verrunzeltes Gesicht, etwa so, als habe ihm gerade jemand einen ganz ausgezeichneten Witz erzählt. „Ach nein! Ihr dringt unbefugt auf mein Grundstück ein, findet dort ein paar alte Knochen, aber die falschen, und denkt nun, ich hätte mit Dingen zu tun, die einmal geschehen sind, als ich noch ein Knabe war? Was denkt Ihr, was ich mit dem Körper des Verfluchten gemacht haben könnte? Glaubt ihr, ich hortete ihn daheim in einem geheimen Schrein?”

„Es erscheint mir interessant, dass Ihr denkt, dass wir denken, Ihr könntet etwas über den Verbleib des Körpers wissen.”

„Das ist nicht interessant. Es ist lächerlich.” Er drehte sich wieder zu ihr um. „Ja, ich wusste von der Höhle, und es wundert mich nicht, dass möglicherweise irgendwelche unvorsichtigen Unbefugten sich beim Herumstromern dort den Hals gebrochen haben oder dort von Dritten beseitigt wurden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass in Aurópéa Leute verschwinden und verschwunden bleiben. Ich habe nichts dazu getan. Den Garten habe ich vor vielen Wintern gekauft, eine Samtapfelplantage hatte ich im Sinn, aber ich fand niemanden, der sich darum hätte kümmern wollen, und dann war ich im konsej mit wichtigeren Dingen beschäftigt und vergaß es darüber.”

„Ihr müsst Euch nicht rechtfertigen”, sagte Elosál geduldig. Sie stand, den Rücken einem der Fenster zugewandt. Hinter ihr flimmerten die Wolken, und etwas zog über den Himmel vorbei. Mein Schleier trübte den Blick auf diese Entfernung, sodass ich es zunächst für einen Schwarm riesiger grauer Vögel hielt, aber dann wurde mir klar, dass es die Einhörner waren, die der Violette von ihrer Weide geholt haben musste und sie nun zurückführte. Aber hätten die Tiere nicht strahlend bunt und leuchtend aussehen müssen?

„Doch selbst wenn”, fuhr Elosál fort, „und irgendjemand auf den lästerlichen Gedanken gekommen sein sollte, die Gebeine des Verfluchten an einen anderen Ort zu bringen, um sie zu verehren, so wird es doch nichts bringen und nichts ändern.”

„Wer”, sagte Úldaise mit unvermindertem, nun aber eisigem Lächeln, „sollte auf die Idee kommen, den Verfluchten zu verehren?”

„Nun”, sagte Elosál, „es sind hier Dinge geschehen, die weit seltsamere Verdächte nahelegen. Seid Ihr vertraut mit einer Frau namens Siledaú?”

Der sinor zögerte, sehr kurz.

„War das diejenige, die den Brief überbracht hat?”, fragte er dann. „Ich habe das Schreiben an mich genommen, mehr nicht.”

„Das, hochedler sinor, fällt uns schwer zu glauben. Die ehrenwerte Alte schien über Dinge im Bilde zu sein, die ihr unmöglich zu wissen waren.”

Nun runzelte er die Stirn, was noch mehr Falten auf sein Gesicht malte, als ich es für möglich gehalten hätte.

„Ist das ein Verhör?”, fragte er. „Mit welchem Recht?”

„Mit unserem Recht. Denn es betrifft nicht die Geschäfte der Unkundigen.”

„Nun gut”, sagte der alte Mann. „Ich habe nichts zu verbergen. Bringt sie her, die alte Frau, und ich werde es vor Euren Augen mit ihr klären.”

Die fajía wandte sich an ihre Ritter, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, schüttelte der Rote den Kopf. „Wir haben sie in der Schnelle nicht gefunden”, sagte er.

„Sie ist nicht hier. Nicht in einem Umkreis, der ihr zu Fuß erreichbar gewesen wäre”, fügte der Blaue hinzu.

„Es ist unverständlich”, ergänzte der Gelbe. „Als habe sie gelernt, sich in Luft aufzulösen.”

„Vielleicht”, versuchte der Grüne einen Scherz, „hat sie aus ihren Büchern doch noch gelernt.”

Sicherlich hatte er mit dieser Bemerkung die Stimmung etwas lockern wollen, einen absurden Scherz gemacht. Elosáls Mundwinkel zuckten. Aber Úldaise Tiáramalés Gesicht war wie erstarrt. Offenbar fand er so wenig Spaßiges daran, dass er nicht einmal versuchte, der Höflichkeit halber mitzulachen.

„Schade ist es schon”, sagte Elosál. „Sicherlich hätte sie sehr gern einen Blick auf die Kostbarkeit geworfen, die Ihr hergebracht habe, Meisterin Salghiára. Welchen Wert muss das Objekt in den Augen der armen verwirrten Alten gehabt haben, bei allem Grauen, das damit in Verbindung steht.”

Die Regenbogenritter schauderten, so subtil, dass es kaum zu spüren war. Elosál schaute eindringlich in meine Richtung. Sie hatte etwas vor.

Meisterin Salghiára?”, fragte der sinor überrascht.

„Salghiára Lagoscyre”, sagte ich.

„Ah. Lagoscyre. Nun, das erklärt, warum man Euch hier duldet.”

Was wollte er damit sagen? Hätte er nicht viel eher fragen müssen, was es mit dem Stab auf sich hatte? Oder war es möglich, dass er es wusste? Hatten die Ritter und die fajía das auch bemerkt?

„Die Meisterin war so freundlich”, sagte Elosál ruhig, „uns nach all der Zeit endlich das Artefakt zu übergeben, mit dessen Hilfe der Verfluchte damals wirkte. Ihr werdet einem großen und ehrenvollen Ereignis beiwohnen, Úldaise Tiáramalé, sobald der Letzte meiner Ritter wieder bei uns ist. Mir ist, als hätte ich ihn soeben einfliegen hören.”

„Was für ein Ereignis?”, fragte der Alte misstrauisch.

„Damals, in jenen schrecklichen Tagen, als die große Schlacht um Aurópéa tobte und die Hügel von Pfützen aus Menschenblut getränkt waren”, begann die fajía und nickte ihren Rittern zu, „da fochten die arcaval’ay einen verzweifelten Kampf gegen die Ausgeburten des Chaos, die Kreaturen, die das Widerwesen aus den übrig gebliebenen Dingen des ersten und wahren Weltenspiels erschaffen hatte. Unzählige arcaval’ay fielen, und meine geliebten Schwestern ließen ihr Leben beim Versuch, die Unkundigen zu beschützen.”

„Das ist mir wohlbekannt”, sagte Úldaise, nicht direkt gelangweilt, aber mit geringem Interesse. „Was hat das mit mir und meinem Garten zu tun?”

„Meinesgleichen hat bei alledem, was der Verfluchte gewirkt hat, bei allem Leid, das er über uns gebracht hat, durchaus erkannt, dass seinesgleichen mit allem, was sie an Kräften aufzubieten hatten, so wenig es war, so schwach und gering sie waren, versucht hat, den Wahnsinnigen zu stoppen und zur Strecke zu bringen. Nun, ich will Euch nicht mit Dingen langweilen, die Ihr ohnehin schon wisst.”

Schade, dachte ich. Vielleicht hätte ich hier mehr über das große Geheimnis, über die Schande erfahren, die Yalomiro, die alle Schattensänger seit jenen Tagen zu tragen gehabt hatten.

„Ihr wisst, wie es endete. Den camata’ay, den Schwarzgewandeten, deren Gemeinschaft das Monster hervorgebracht hat, gelang es, den Verfluchten zu entwaffnen.” Sie blickte auf den Stab hinab, auf dieses Stück magischen Sperrmüll mit dem zerschmetterten Eiskristall an der Spitze.

„Wäre es einem der unseren gelungen, dieses Artefakt zu erobern”, schloss Elosál, „wir hätten es gänzlich zerstört. Nun, da Meisterin Salghiára uns das Artefakt aus freien Stücken überlassen hat, werden wir dies hier und jetzt vollenden.”

Úldaise Tiáramalé ließ die Schultern hängen, als sei er … verblüfft.

„Vollenden?”, fragte er, nun ganz und gar nicht mehr angeödet, sondern, wie es mir vorkam, fast ein wenig beunruhigt.

„Die camat’ay hielten den Stab für unzerstörbar. Nun, für die Kräfte Noktámas mag das zutreffen, und ich habe keinen Grund, an den Beteuerungen des ehrenwerten Meisters zu zweifeln, der mir dies damals darlegte. Allerdings haben wir ganz andere Möglichkeiten und hätten nicht die camat’ay, sondern die arcaval’ay damals die Waffe erbeutet, wäre das umgehend geschehen. Hier, im Cielástel. In dieser Halle. Mit Pataghíus Feuer.”

Die Stille in der Halle war körperlich zu spüren, sie dröhnte in meinen Ohren, war intensiver als das Brennen des Goldes und die Spannung, die von all den hellen maghiscal ausging. Die Ritter waren entsetzt! Und ich erfuhr sogleich, warum.

„Das”, sagte Úldaise Tiáramalé, „wird den Cielástel zerstören.”

Elosál nickte. „Ich weiß.”

„Und der Großmeister?”

„Den”, sagte Elosál, „benötigen wir für diese Sache nicht. Kein Menschenwesen darf sich im Heiligtum aufhalten, wenn wir das Feuer entfesseln. Sobald das Wetter sich beruhigt hat, werdet Ihr und Meisterin Salghiára die Burg verlassen. Und da die Stadt uns nicht mehr braucht, wird es wohl niemanden stören, wenn wir verschwinden.”

Ich schaute verwirrt in die Runde. Was erzählte die fajía da plötzlich? Und warum waren auch alle arcaval’ay plötzlich so still, so gefasst? Das Licht flimmerte und ein sehr heller Blitz ohne Donner erhellte die Halle. Die Ritter wirkten immer noch übermenschlich, groß, würdevoll und magisch. Aber ihre Farben schienen zu verblassen, als erbleichte ihre ganze maghiscal. Sogar der Violette, der gerade in diesem Moment hinzukam, unterschied sich kaum noch von dem Blauen oder dem Indigofarbenen. Wusste er, wovon gesprochen worden war? Hatte die fajía eine lautlose Verbindung mit ihren Leuten? Was geschah mit ihnen – und ging es von ihnen selbst aus?

Ich fröstelte. Úldaise Tiáramalé schaute einen Ritter nach dem anderen mit gesenkten Brauen an.

„Und das Kind?”, fragte er die fajía. „Was ist mit Eurem Sohn?”

Sie lächelte und bückte sich, um den Stab aufzuheben. Die Ritter kommentierten das mit entsetztem Ächzen.

„Mein Sohn”, sagte sie ruhig, „ist unkundig. Er wird mit seinem Vater einen anderen Ort finden. Sein Vater wird einen Ort fern von alledem finden, hier im Weltenspiel oder anderswo.”

Ihre Fingerspitzen hatten den Stab beinahe erreicht. Ich sah das wie in Zeitlupe und mit großem Schrecken. Was tat sie da? Wollte sie Úldaise Tiáramalé zu irgendeiner Reaktion bewegen? Würde irgendetwas Unkontrollierbares geschehen, wenn sie den Stab berührte, kaputt oder nicht? Wenn das Ding ihre Schwestern vernichtet hatte, konnte sie es denn dann gefahrlos anfassen? Bluffte sie?

Nein. Das war eine ernste Sache. Die Ritter waren viel zu erschrocken, um einen schlauen Plan ihrer Anführerin zu durchschauen. Das Entsetzen der hellen Magier war echt.

Ebenso echt wie die kopflose Panik, die urplötzlich in Úldaise Tiáramalé zu fahren schien. Der alte Mann ließ seinen Gehstab fallen und bewegte sich plötzlich, wie von einer Bogensehne schnellend, auf die fajía zu.

Ich überlegte nicht lange. Wenn Elosál sich etwas ausgedacht hatte, dann begab sie sich möglicherweise in Gefahr.

„Nicht!”, rief ich aus, warf mich in den Weg das Alten, spürte gerade noch, wie der Indigofarbene im Reflex nach mir griff, um mich aufzuhalten, aber nur meinen Schleier in die Finger bekam. Im nächsten Moment fand ich mich, halb auf dem Stab liegend, halb sitzend auf dem immer farbloser werdenden Boden wieder und schaute, vermutlich ziemlich belämmert, in Úldaise Tiáramalés Gesicht, ohne den dünnen, seinen Verstand schützenden Stoff dazwischen.

Die Ritter gerieten alle zugleich in Bewegung, Schwerter wurden gezogen, Metall klang, und endlich erschallte von draußen der Donner, den ich die ganze Zeit vermisst hatte. Welche unglaubliche Entfernung musste das Geräusch überwunden haben?

„Nicht”, sagte ich und starrte dem Alten in seine grauen Augen, konnte einfach nicht anders. „Nicht, Meisterin. Tut nichts Unbedachtes! Ihr dürft den Cielástel und die Euren nicht opfern!”

„Warum?”, fragte Elosál und trat einen Schritt zurück. Auch der Alte richtete sich auf, ohne seinen Blick von mir zu nehmen. „Warum habt Ihr das getan?”

Ich rappelte mich auf, aber es war mir unmöglich, den Augenkontakt zu dem alten Mann zu unterbrechen. Ich umklammerte den Stab, hob ihn auf und hielt ihn halbherzig so vor mich, dass ich etwas Abstand gewann.

„Warum”, fragte ich in die Richtung des von gezückten goldenen Schwertern umringten Greises, „wolltet Ihr die Großmeisterin daran hindern, den Stab zu berühren?”

„Wollte ich das?”, fragte er ruhig.

„Ja”, behauptete ich. „Ihr seid genauso hinter dem Stab her wie die verschwundene alte Frau. Aber das ist kein Schatz, kein kurioses Andenken an eine schreckliche Zeit! Das ist nichts, was Unkundige berühren dürfen. Das ist … gefährlich.”

„Deswegen”, sagte Elosál und winkte den Rittern, sich zu beruhigen, „will ich es vernichten.”

„Das respektiere ich”, versicherte ich. „Aber nicht überstürzt und auf Eure Kosten. Versteht doch! Das ist das, was es will! Wenn Ihr Euch und selbst opfert, dann …”

„Es wird nichts geschehen”, unterbrach mich Úldaise Tiáramalé gelassen. Er lächelte, und je tiefer ich in seine Augen sah, je heftiger es in den Wolken rings um den Turm flimmerte, desto mehr schien sich der trübe Glanz aufzuhellen, auf eine bizarr vertraute Weise, die mich in Furcht versetzte und zugleich auf eine seltsame Weise nicht im Geringsten erstaunte. „Nichts wird in Pataghíus Feuer aufgehen, nichts wird zerstört. Trotzdem wäre es äußerst unklug, wenn Ihr Euch an dem Stab vergreift, oder versucht, ihn zu demolieren. Geradezu töricht wäre das. Für Euch und für das Weltenspiel, das ihr doch so gern beschützen wollt, der Schatten ebenso wie die Farben und vielleicht sogar das Licht.”

„Was soll das heißen?”, fragte der Indigofarbene.

„Ich”, sagte Úldaise Tiáramalé, „werde den Stab nun an mich nehmen. Ich bin derjenige, dem er rechtmäßig gehört. Und keiner von euch wird mich daran hindern.”

„Seid Ihr nun wahnsinnig geworden?”, erzürnte sich der Rote, und der Blaue fügte hinzu: „Was erlaubt Ihr Euch? Wenn Ihr das Ding in die Hand nehmt, werdet ihr es keinen Wimpernschlag lang festhalten können!”

Úldaise Tiáramalé zuckte die Achseln und streckte mir auffordernd die Hand entgegen.

„Habt ihr eigentlich schon bemerkt”, fragte er, „dass es regnet?”