„Folgt uns”, sagte der violette Regenbogenritter. „Für Euer Ross ist ein sicherer Platz im Stall, und genug Futter haben wir auch, damit das brave Tier sich stärken kann.”

Der sinor reagierte nicht auf das freundliche Angebot, aber er ließ es zu, dass der Violette das Pferd am Zügel packte und fort führte. Ich ging mit dem Indigofarbenen hinterher.

Der Stall war nun ganz leer. Cýelú Irísolor musste sein Reittier herausgeholt haben, kurz nachdem ich vor der alten Siledaú geflohen war. Vielleicht hatte ich Yalomiro nur um wenige Augenblicke versäumt, wenn die beiden tatsächlich gemeinsam auf die Suche nach den Kindern gegangen waren.

Ob sie den Stab bemerkt hatten?

Der Regenbogenritter schaute sich um und öffnete dann die Tür zu einem der goldenen Käfige, in dem die Einstreu frisch und unberührt aussah. Sehr wahrscheinlich war es der Platz seines eigenen Reittieres, das nach der Ankunft der arcavala’ay im Cielástel sofort auf die Weide gebracht worden war.

Ich warf einen unauffälligen Blick in den Zwinger, wo Meister Cýelús perlenfarbener Hengst gestanden hatte. Ja, der Stab war noch da. Ich hatte ihn ganz am Rand des Gitters unter das üppige Stroh geschoben. Es war zu erkennen, dass das Stroh dort etwas aufgebauscht war – vorausgesetzt man wusste, wonach man schauen musste.

Úldaise Tiáramalé sah sich aufmerksam im Stall um, aber er wirkte deutlich weniger beeindruckt, als ich erwartet hätte. Nun, ich konnte nicht wissen, wie man in Aurópéa Pferdeställe baute. Möglicherweise war überhaupt nichts Ungewöhnliches dabei, wenn man Reittiere hinter Goldgittern hielt, wenn Gold doch ein Allerweltsmaterial zu sein schien. Mir jedenfalls wurde wieder heiß und kalt zugleich, je länger ich auf der Stallgasse stand, wo sich das Metall und die Ausstrahlung der maghiscal der beiden Ritter zu einem seltsamen Gemenge verbanden. Darunter mischte sich eine weitere Empfindung, die ich mir nicht erklären, aber dennoch zweifelsfrei zuordnen konnte. Es ging von Úldaise Tiáramalé aus. Es war … muffig. Verzerrt. Benennen konnte ich es nicht. Aber es ähnelte dem, was ich zuvor an der alten Frau wahrgenommen hatte. Es ähnelte, war nicht ganz dasselbe. Ob es etwas damit zu tun hatte, wie camat’ay die Gegenwart alter Menschen spürten? War das etwa normal?

Ich war irritiert, fühlte mich fiebrig. Aber das wollte und durfte ich mir nicht anmerken lassen und hoffte inständig, wir würden bald weiter gehen. Ich schaute zu dem Indigofarbenen auf. Erwarteten sie von mir, dass ich vor den Augen des sinor den Stab an mich nahm, damit wir ihn zu Elosál bringen konnten?

Der Regenbogenritter schien zu verstehen, was ich auf dem Herzen hatte. Er schwieg, aber erhob seine Hand zu einer dezenten, beschwichtigenden Geste.

„Ihr seid zur rechten Zeit gekommen, sinor Úldaise”, plauderte der Violette, indem er das Pferd absattelte und ihm das Zaumzeug abnahm. „Bei den Mächten, wie heiß und erschöpft Euer Pferd ist.”

„Ich war heute schon eine weite Strecke damit unterwegs”, sagte der Alte. „Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.”

„Ganz allein? Ohne Gefolge?”

„Mir war nicht bewusst, dass außer mir noch andere geladen wären”, sagte der Alte. „Meine Knechte sind hoffentlich zurzeit bereits in der Stadt und in Sicherheit.”

„Sicherlich. Zum Glück scheint dieses Unwetter sich die Zeit zu nehmen, dass alle sich einen Unterschlupf suchen können.”

Úldaise drehte sich zu mir um. Der Schleier vor meinem Gesicht behinderte meine Sicht ein wenig, aber ich meinte, mir einzubilden, dass seine seltsam dunkelgrauen Augen mich von Kopf bis Fuß musterten.

„Woher kommt Ihr, Frau Salghiára?”, fragte er dann urplötzlich.

„Ich … bin mit meinem hýardor hergereist, ehrwürdiger Herr,” sagte ich. „Wir kommen aus der Nähe von Hethrom.”

„Von so weit her? Und aus der Wildnis?”, hakte er nach. „Welche Geschäfte habt Ihr hier vor Euch, wenn ich die Neugier äußern darf?”

„Wir …. eine Familienangelegenheit”, sagte ich vage.

„Familienangelegenheiten? Hier? Im Cielástel?”

Sinor“, mahnte der Violette und trug das Sattelzeug mit einer solchen Leichtigkeit aus dem Stall heraus, als trüge er eine Bettdecke anstelle eines schweren Ledersattels, „bedrängt die Dame nicht.”

„Mit Verlaub”, wandte der Alte ein, „wenn Besucher von so weit herkommen und nicht die Stadt, sondern Euch aufsuchen, erregt dass mein Interesse. Das müsst ihr mir zugestehen.”

„Es sind keine Geschäfte”, schaltete der Indigofarbene sich ein. „Persönliches muss nicht offenbart werden.”

„Vergebt mir meine Neugierde, Frau Salghiára.” Úldaise verneigte sich mit hohler Förmlichkeit und lehnte sich an die goldene Gittertür. „Ihr müsst wissen, dass es aus Sicht eines gewöhnlichen Menschen aus Aurópéa ausgesprochen ungewöhnlich ist, den Cielástel aufzusuchen. Und dann noch auf persönliche Einladung. Ihr müsst eine sehr hochgestellte Persönlichkeit sein, wenn Euch eine solche Ehre zuteilwird.” Seine dürren Finger umschlossen einen der Gitterstäbe, und sein verrunzeltes, freudloses Gesicht verformte sich zu einem hohl-höflichen Lächeln. „Da frage ich als Mitglied des konsej mich natürlich, welche interessante Vorgeschichte sich dahinter verbergen mag. Und warum Ihr ganz offensichtlich im Geheimen unterwegs seid.”

Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich ihm darauf antworten sollte. Am besten ließ ich ihn in seinem Glauben.

„Wer weiß”, scherzte ich lahm. „Möglicherweise bin ich eine hochedle Dame, unterwegs in sensiblen Angelegenheiten?”

„Das”, sagte er mit seiner unangenehmen Stimme, „wäre etwas, das der konsej aus Gründen der Diplomartie zu erfahren hätte. Ich bin sicher, Eurem hýardor ist das bekannt. Alles andere wäre … verdächtig.”

„Sicherlich”, wich ich aus, „finden wir später die Gelegenheit, darüber zu reden.”

Er verneigte sich. Der Violette, der das Sattelzeug in den Vorraum gebracht hatte, kam zurück und schritt an uns vorbei. „Folgt mir. Ich bringe euch sogleich zur Meisterin. Vielleicht klären sich dann nicht nur ihre, sondern auch Eure Fragen.”

Úldaise fixierte mich noch einen Moment auf eine irritierend intensive Art. Dann folgte er dem Ritter mit gemessenem, vom Alter ausgebremstem, aber nicht gebrechlichem Schritt.

Ich wollte hinterher, aber der Indigofarbene stellte sich mir in den Weg und hielt mich zurück.

„Hier ist etwas nicht geheut”, wisperte er mir zu.

„Ja”, stimmte ich leise zu. „War der sinor jemals hier?”

„Nein. Warum?”

„Er scheint sich überhaupt nicht zu wundern, warum der Stall leer ist. Müsste er sich nicht fragen, warum Ihr ausgeflogen seid?”

„Gut beobachtet”, lobte er flüchtig. „Meisterin, nehmt den Stab. Und kommt hinauf in die Halle, auf dem Weg, den wir gerade gekommen sind. Ich hole die Einhörner. Ich habe das Gefühl, wir sollten sie zur Hand haben.”

Ich kniete nieder, biss die Zähne zusammen und tastete in die Einstreu jenseits der Gitter. Fast sofort bekam in den Stab zu packen und zerrte ihn hervor. Der Regenbogenritter blickte sich nervös um, und als ich das Ding in der Hand hielt, war sein Gesicht voller Entsetzen. Das war erschreckend, denn ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass diese selbstbewussten, überlegenen Wesen, die arcaval’ay, von denen ich immer noch nicht wusste, was sie eigentlich waren, nun ja … Angst empfinden konnten?

„Bei Pataghíus Glanz”, ächzte er. „So lange ist es her …”

„Schnell”, forderte ich, „was soll ich tun?”

„Bringt es in die Halle zur Meisterin. Wenn Ihr damit lauft, überholt Ihr den Violetten und den alten Mann. Bringt ihn hinauf und lasst die Meisterin entscheiden, ob Ihr ihn offen zeigt oder vor den Blicken des sinor verbergt. Ich bin alsbald wieder bei Euch.”

„Ihr lasst mich mit dem Stab unbeaufsichtigt allein im Cielástel herumlaufen?”, fragte ich überrascht. „Habt Ihr denn keine Angst, ich könnte etwas damit anstellen?”

„Nein”, sagte er. „Ich vertraue Euch. Und nun los. Ich bin in ebensolcher Eile wie Ihr.”

***

Cýelú konnte sich nicht erinnern, Perlenglanz jemals zuvor zu einer solchen Geschwindigkeit getrieben zu haben. Das Einhorn gab sein Bestes, wenn es auch merklich ungehalten darüber war, dass man ihm nach seinem weiten Flug seit dem Vormittag nur so eine lächerlich kurze Pause gegönnt hatte.

„Advon!”, rief der Regenbogenritter in die Wüste. „Advon! Wo bist du?”

Er rief vielleicht sechs oder sieben Mal, dann geriet ihm mit jedem Atemzug so viel Sand ins Gesicht und den Mund, dass er befürchtete, zu ersticken. Von Süden hatte sich Wind erhoben, noch entfernt davon, ein Sturm zu sein, aber schon so heftig, dass es ihm nicht üblich erschien. In Wellen stob der feine Wüstensand auf und blendete ihn, indem er die Welt ringsum in einen staubigen Schleier hüllte. Perlenglanz schnaubte und entschied sich eigenmächtig, niederzugehen und am Boden weiter zu laufen. Wenn selbst das Einhorn es vermeiden wollte, zu fliegen, dann würde der Wind sich so schnell nicht legen.

Bei den Mächten. Und wenn Advon tatsächlich in seinem kindlichen Leichtsinn hier in die Wüste geritten war, das junge Einhorn vor dem Sturm scheute und das Kind aus der Höhe stürzte? Wenn beide Kinder verunglückten? Wenn die Mächte sich dazu entschieden hatten, ihn zu strafen, und ihm nicht nur den Sohn nahmen, sondern dem Schwarzmantel Anlass dazu gaben, eine neue Feindschaft zu erheben?

„Advon!”, rief Cýelú und spuckte Sand. „Advon! Dýamirée!”

Aber die Sicht reichte nicht weit genug, weder um am Himmel ein möglicherweise fliegendes Einhorn zu erblicken, noch zu sehen, was sich in weiterem Umkreis am Boden bewegte. Das Sandgewirr wurde immer heftiger.

Wenn der sinor Saháalír sich nicht irrte, hatte Advon sich in den Kopf gesetzt, jemanden zu retten, den die Unkundigen in Aurópéa wegen eines Verbrechens zum Tode verurteilt hatten. Wie kam der Junge darauf, das zu hinterfragen? Und selbst wenn es so sein sollte, dass Advon zurecht ein Unrecht hatte verhüten wollen – warum hatte er nicht seine Mutter oder wenigstens einen der Sieben ins Vertrauen gezogen. Oder … ihn selbst?

Natürlich hat er das nicht getan. Cýelú hatte seinen Sohn seit Tagen nicht gesehen und zuvor immer weniger Gelegenheit gehabt, Zeit mit ihm zu bringen. Zu voll war sein Kopf mit den Geschichten dieser gemeinen alten Hexe gewesen!

Aber damit wäre bald Schluss. Sobald es sich geklärt hatte, welches abscheuliche, wahnsinnige Spiel Siledaú spielte, aus dem Cielástel verbannen würde er sie höchstpersönlich, und Bannkreise wirken, die die Alte daran hinderten, jemals wieder auch nur in die Nähe des Cielástel zu gelangen!

Jedenfalls hatte er durch diesen wertvollen Hinweis des Stadtältesten ein Ziel, einen Ansatzpunkt, um nach dem Jungen zu suchen. Wo die Bewohner von Aurópéa ihren Richtplatz angelegt hatten, um es Pataghíu zu überlassen, Verbrechen zu ahnenden, wusste Cýelú. Nicht umsonst hatten sie sich bei ihren Ritten durch die Wüste immer wieder gewundert, wo die Überreste der Unglücklichen geblieben waren. Nach der strengen Hand, mit der der sinor Úldaise das recht regelte und dem geradezu widersinnigen Verfall von Sitten und Gesetz mussten es seit den letzten Wintern hunderte Menschen sein, die die Wüste verschlungen hatte. Und für jeden, der hier sein Ende fand, schien die Stadt auf geheimnisvolle Weise drei neue anzuziehen. Fast so, als sei es das geheimnisvolle Schicksal all jener, die der Verlockung des Verbrechens erlagen, unweigerlich aus allen Winkeln des Weltenspiels nach Aurópéa zu streben, wie Steine, die einen Berg herab rollten.

Cýelú führte Perlenglanz voran und schirmte seine Augen mit der Hand ab. Es war nicht nötig, zu sehen, wohin er ging; die Wüste war ihm in all den Jahren so vertraut geworden, dass er auch blind jeden beliebigen Ort finden würde, den er erreichen wollte. Aber das bloße Verlangen, Advon zu finden, das reichte nicht aus. Hätte der Junge Magie in sich getragen, dann wäre es einfacher gewesen. Aber nun war der Magier ebenso rat- und machtlos wie der Schattensänger, den er bei den Alten und ihrem Gefolge zurückgelassen hatte.

Das war ganz und gar nicht höflich und angemessen gewesen. Aber was sollte er sich mit der Anwesenheit des Schwarzmantels belasten, der ihm hier in der Wüste ohnehin nicht hilfreich sein würde? Sollte er doch die Unkundigen in den Cielástel begleiten. Seine Tochter würde er ihm wohl mitbringen, ihm beweisen, wie ehrenhaft und fürsorglich die arcaval’ay waren.

Das Mädchen, das süße, mutige kleine Mädchen … mochten die Mächte geben, dass Advon es gut beschützte. Der Vater war gekommen und wartete. Wenn er vergebens wartete, wer wusste dann schon, ob es Noktáma gelang, ihren Diener zu bändigen?

Perlenglanz schnaubte unruhig, je näher sie der Senke kamen, in der so viele Menschen den Weg hinter die Träume begonnen hatten. Offenbar beunruhigte der Sturm das Tier mehr, als Cýelú angenommen hatte. Der Magier blieb stehen und schaute zum Himmel auf. Die Ausläufer des dräuenden Regensturms waren zwischenzeitlich weit in die Wüste hineingezogen, fast so, als hätten sie ihn verfolgt. In der Höhe trafen sie nun auf den sandgeschwängerten Wind aus dem Süden, feuchter Regen prallte auf trockenen Staub, beides rieb sich aneinander. Es gab noch kein Gewitter, keinen Donner und keinen Blitz, aber an den Rändern der Wolke flackerte bereits ein beunruhigendes Leuchten.

Und das alles genau über seinem Kopf.

„Advon!”, rief Cýelú, wohl wissend, wie unsinnig das war. „Kinder! Hört ihr mich?”

Perlenglanz blieb stocksteif stehen. Seine rosigen Nüstern blähten sich nervös auf. Seine Flügelspitzen zitterten und raschelten. Das Einhorn mochte nicht mehr voran, dabei waren sie dem Ziel so nah. Hinter der nächsten hohen Düne war die Richtstätte. Wenn Advon es mit dem Mädchen und Farbenspiel bis hierhin geschafft hatte, war er sicher nicht mehr da. Er hätte die Rufe seines Vaters gehört und darauf reagiert. Aber vielleicht gab es einen Hinweis darauf, ob sie hier gewesen waren … und wohin sie als Nächstes gegangen waren.

„Gut”, sagte Cýelú ärgerlich zu seinem von plötzlichem Starrsinn und Feigheit besessenen Ross. „Ich schaue allein nach. Bleib du nur hier. Aber lass dir nicht einfallen, wegzulaufen, wenn es hier ein wenig gewittert. Ich will, dass du auf mich wartest.”

Perlenglanz schnaubte und scharrte. Seine Schlangenaugen waren geweitet und er bleckte seine Fangzähne. Aber der Bann, den Cýelú so beiläufig an ihm gewirkt hatte, würde wohl eine Weile halten.

„Ich bin schnell wieder da”, tröstete der Goldene. Das sonderbare Verhalten des Tieres war verdächtig. Und wenn es nicht nur der Regensturm war, der oben über ihren Köpfen tobte? „Mach dich nützlich”, wies der Magier das Einhorn an. „Wenn Farbenspiel hier in der Nähe ist, dann ruf ihn herbei! Lock ihn zu dir. Ich will auch nicht abwarten, bis hier Blitze einschlagen.”

Mit diesen Worten wandte er sich ab und stieg den Sandhügel hinauf. Es war nicht weit und nicht anstrengend, und so dauerte es nur wenige Herzschläge, bis der Ritter den Kamm der Düne erreicht hatte und in die Senke hinab blickte.

Er hatte erwartet, dort unten zwischen die Pfähle gefesselt die leblosen Körper von Unkundigen zu sehen, die Pataghíus Glanz verbrannt hatte. Cýelú hatte damals in den Chaoskriegen, viel Grauenhaftes gesehen und nahm an, dass ihn in dieser Hinsicht wenig schrecken würde. Aber das, was er nun dort unten sah, war beängstigend.

Unten in der Senke war niemand, weder Lebende noch Leichname. Die Verurteilten, die man erst am Vormittag hier ihrem Schicksal überlassen hatte, waren spurlos verschwunden, mitsamt Körpern und Knochen. Und die Pfosten, die einen unheilvollen, bedrückenden Kreis am Grund der Senke gebildet hatten … die lagen geborsten und ungeordnet genau in der Mitte, etwa so, als habe ein Kind ein paar Stöckchen gesammelt und im Spiel achtlos auf einen Haufen geworfen.

Welches Kind war in der Lage, mannshohe Pfähle aus Steinpalmenstämmen umzustürzen und zum Zersplittern zu bringen? Was bei den Mächten war hier passiert?

Cýelú schauderte. „Advon?”, rief er ratlos.

Natürlich bekam er keine Antwort. Cýelú verharrte einen Moment reglos und horchte in den Wind. Hatte da ganz in der Ferne ein Einhorn gebrüllt? Oder bildete er sich das in trügerischer Hoffnung nur ein?

Der Umstand, dass die Kinder nicht hier waren, vermochte den Ritter nicht zu beruhigen. Schließlich waren auch die unglücklichen Verurteilten verschwunden. Mochten die Mächte geben, dass die Kinder gleichfalls nur den verstörenden Holzhaufen gefunden hatten und sich unverrichteter Dinge schon längst auf den Rückweg in den Cielástel gemacht hatten. Cýelú zögerte. Die Vernunft gebot es, sich die aus ihrer Verankerung gerissenen Pfähle aus der Nähe anzusehen. Ganz ohne Zweifel war hier etwas Unnatürliches geschehen, das sich weder mit Menschenwerk noch mit Magie erklären ließ. Magie, die so etwas bewirkte, hätte irgendeine, wenn auch vielleicht sehr zarte Spur hinterlassen, wie Qualm, der sich in einem Gewand festsetzte, wenn man zu nahe an einem schlechten Feuer saß. Aber da war nichts. Dieser Ort war auf eine gespenstische Weise leer und schal.

Aus den Wolken grollte es. Das Wetterleuchten warf ein kurzes, flackerndes Licht zwischen die sandverstaubte Abenddämmerung und die Finsternis des lauernden Regensturms. Aus den Augenwinkeln nahm Cýelú einen Lichtreflex ein paar Schritte neben sich im Sand wahr. Stirnrunzelnd ging er hin, um nachzuschauen, kniete nieder, strich Sand beiseite und spürte Kälte durch seine Adern fluten. Sein Herz krampfte sich zusammen, als balle es sich wie eine Faust. Das goldene Messer, genau im richtigen Format für Advons Kinderhand und am Griff umwickelt und verziert mit buntem Leder, war verbogen, gesplittert. Der untere Teil der Klinge war überzogen mit einer bräunlichen Substanz, klebrig und zäh wie Sirup, und zwar nur noch zart, aber nichtsdestoweniger bestialisch stinkend.

Advon musste versucht haben, sich damit gegen etwas zur Wehr zu setzen, das hier nicht sein durfte. Etwas, das hier nichts zu suchen hatte. Dem Cýelú einst gegenüber gestanden hatte, damals, so lange her. Damals hatte Cýelú ein Schwert in der Hand gehabt und wie besessen damit um sich geschlagen und gestochen, in schierer Panik und dem, verzweifelten Versuch, am Leben zu bleiben, zumindest so lange, bis ihm jemand erklären konnte, was vorging. Cýelú war damals nicht allein gewesen. Und er hatte Magie zur Verfügung gehabt.

„Advon”, wisperte der Goldene. „Oh, Advon … warum? Warum hier?”

Was war nun zu tun? Waren diese … Dinger tatsächlich zurückgekehrt? Hatten sie es, unter den wachsamen Blicken der arcaval’ay schon so nahe an die Stadt geschafft, gerade eben außer Sichtweite des Cielástel? Ohne dass jemand es bemerkt hatte? Die Kraft, die Pfähle umzuwerfen hatten sie. Und die Kraft, zwei Kinder und ein Einhorn zu zerreißen und zu verschlingen, die hatten sie auch.

Bei den Mächten! Er durfte keine Zeit verlieren! Er musste die Sieben, musste Elosál warnen, vor der Gefahr, die aus dem Süden kam! Nicht aus dem Norden, wo zwei übrig gebliebene Schwarzmäntel alles waren, was von Noktámas Dunkler Dienerschaft übrig geblieben war!

Perlenglanz!

Das Einhorn brüllte und quietschte zugleich wie ein wütender Stier und ein verschrecktes Zicklein. Das Einhorn spürte die Gefahr, noch bevor Cýelú sie sah. Und bevor der Sand unter seinen Füßen in Bewegung geriet und ihn haltlos ins Rutschen brachte, wie ein Getreidekorn, das in einen Mahltrichter rutschte.

„Nein!”, rief der Ritter und grabschte sinnlos um sich auf der Suche nach Halt, aber der Sand rann durch seine Finger. „Pataghiú! Pataghiú, steh mir bei!”

Aber es nutzte nichts. Unaufhaltsam zog es Cýelú Irísolor hinab in die Senke. Und mit dem ersten Blitz, der niederging, begann es, zu regnen. Erst waren es nur einzelne Tropfen, die auf Cýelús Rüstzeug niederprasselten. Aber aus den Tropfen wurde binnen Wimpernschlägen ein heftiges Prasseln. Unter dem Haufen aus Holzpfählen begann etwas, sich zu bewegen.