„Ich wünschte”, sagte Dýamirée Lagoscyre betrübt, „ich könnte zaubern wie mein Papa. Sogar meine Mama kann sowas heil machen.”

„Meine auch”, sagte Advon. „Die würde ganz einfach ihre Hand darüber halten und es wäre alles wieder gut. Und mein Vater … der würde es einfach wollen.”

„Müssen deine Eltern dazu nicht singen?”

„Nein. Wieso denn das?”

„Keine Ahnung. Sie singt dann immer etwas von einem Gänschen, das sich weh getan hat und einem Kätzchen, das ein Schwänzchen hat.”

Advon warf ihr einen konfusen Blick zu. Galéons Interesse war geweckt.

„Das Lied kenne ich nicht”, murmelte er matt, aber aufmerksam. Báchorkoray mussten sich jede neue Geschichte, jedes Lied einprägen.

„Soll ich es dir vorsingen?”, fragte das kleine Mädchen hilfsbereit. „Allerdings wird es davon nicht heil werden.”

„Es ist nicht schlimm. Wir haben jetzt ohnehin keine Zeit dazu. Aber ich möchte es lernen, sobald wir aus der Wüste heraus sind und weit, weit weg von den Chaosgeistern sind.” Er richtete sich stöhnend auf und tat unsicher ein, zwei Schritte auf das Einhorn zu, das geduldig neben ihnen gewartet hatte. Farbenspiel ließ brav zu, dass der báchorkor sich an seiner Schulter abstützte, um nicht umzuknicken.

„Es ist wirklich schade, dass wir beide nicht zaubern können.” Advon, der neben ihm im Sand gekniet hatte, stand auf und klopfte sich den Sand von der Hose. „Oder zumindest Verbandszeug dabei haben.”

„Wollt ihr mich verhöhnen? Ihr habt mir das Leben gerettet!” Galéon wandte sich den beiden zu. Das Einhorn hatte ihn über eine weite, weite Strecke hinter sich her geschleift, während die beiden Kinder mit aller Kraft versucht hatten, die Lederzügel festzuhalten und ihn irgendwie zu sich hinauf zu ziehen. Das hatte natürlich nicht funktioniert, und so war der báchorkor jetzt noch zerlumpter als zuvor und übersät von Schürfwunden, tiefen Kratzern, blauen Flecken und Blessuren, denn natürlich war der Wüstenboden unter dem Sand voller Unebenheiten und Felsen. Allerdings: Er war gerettet und den Chaosgeistern entkommen, die nun am zweiten Versuch gescheitert waren, ihn ins Chaos zu ziehen wie durch einen Trichter.

Advon und Dýamirée waren so klug gewesen, das kleinere Übel zu wählen und ihn so lange mit dem Einhorn hinter sich her zu zerren, wie ein Pferd es mit einem Treidelboot tat. Beide waren nicht lebenserfahren genug, um sich darüber zu wundern, dass er das nicht nur überlebt hatte, sondern nun schon wieder auf eigenen Füßen stand, wenn auch am Rande seiner Kräfte.

„Danke, Farbenspiel”, sagte Galéon zu dem jungen Einhorn. „Furchtlos wie eine Ziege, in der Tat. Sei deinem jungen Herrn immer ein mutiger Freund und Beschützer.”

Das Einhorn schnaubte. Vielleicht war es stolz, gelobt zu werden.

Advon Irísolor kam heran. Der Junge war immer noch kreidebleich, aber es schien, als wolle er die Panik, die er gerade so tapfer zurückgedrängt hatte, noch so lange beiseite schieben, bis er in den Armen seiner Eltern das tun konnte, was jedes Kind angesichts der Chaosgeister getan hatte: aus Leibeskräften schreien und um Hilfe weinen. Nun, er mochte keine Magie besitzen, aber er war ganz unverkennbar in Gegenwart von kämpferischen Magiern aufgewachsen.

„Du hast gezaubert, nicht wahr?”, fragte das Schattensängerkind und stand ebenfalls wieder auf. Dafür, dass sie gerade eben noch im Maul eines Chaosgeistes gesteckt hatte und sich mit dem Messerchen erfolgreich gewehrt hatte, war sie bemerkenswert gelassen. Ließ auch sie den Schrecken nicht in ihre Nähe, solange sie nicht in Sicherheit waren? Oder begriff sie nicht gänzlich, was vorgefallen war?

Galéon fühlte höchsten Respekt und Ehrfurcht vor diesen beiden unkundigen Kindern, die da vor ihm standen und so vertraut miteinander aussahen, dass er sich das eine beim besten Willen nicht ohne das andere vorstellen konnte. Es war kaum zu glauben, dass die zwei sich wohl erst seit dem Vormittag kannten. Noktáma und Pataghíu, das war so offenkundig wie der Sonnenschein und das Dunkel der Nacht, hatten die beiden an diesem Ort, unter diesen Umständen zusammengeführt. Nicht wie unschuldige Spielkameraden, nicht einmal wie Geschwister von zweierlei Blut. Nein. Advon und Dýamirée gehörten zusammen, untrennbar. Sie mussten beieinander sein!

„Ich? Ich bin ein báchorkor, Dýamirée Lagoscyre. Wie sollte ich denn zaubern können?”

„Wir haben es doch gesehen.” Advon Irísolor kam näher und steckte dem Einhorn ein Stück Früchtebrot zu. „Du hast irgendwas gemacht, um die Chaosgeister aufzuhalten.”

„Ich habe sie verwirrt”, behauptete Galéon. „Báchorkoray müssen so etwas können. Mit jeder Geschichte, die ich erzähle, mache ich Leute in ihrer Vorstellung Dinge glauben.”

„Nein”, beharrte das Mädchen. „Du hast den Chaosgeistern doch kein Märchen erzählt!”

„Ich hab so getan, als sei ich ein Magier. Damit sie lange genug von euch ablassen.”

Die beiden schauten ihn mit vorwurfsvollem Wissen an. Ganz offensichtlich nahmen sie ihm seine Ausflüchte nicht ab.

„Wo soll ich denn Magie hergenommen haben, wenn ich weder Noktáma noch Pataghíu diene?”, versuchte er es erneut. „Ich gehöre weder zu deinen Leuten, Advon Irísolor, noch zu deinen Dýamirée Lagoscyre.” Und dann fügte er hinzu, denn das sollte doch wohl das Beste aller Argumente sein: „Wenn ich zaubern könnte, dann würde ich doch kaum durch die Gegend reisen und mir mein Brot gegen ein paar alberne Geschichten zusammenbetteln, oder?”

„Ach ja. Brot”, sagte Advon Irísolor und verhinderte beiläufig, dass Farbenspiel sich gierig das letzte Stück Früchtebrot aus seiner Hand klaubte. „Bist du auch hungrig?”

„Nein”, log Galéon. „Ich bin viel zu aufgeregt, um etwas zu essen. Wir müssen weg von hier. Könnten wir uns schnell auf den Weg machen?”

„Wenn du umherreist und die Leute hören deinen Geschichten zu, gehörst du vielleicht zu einer anderen Macht”, beharrte Dýamirée. „Jedenfalls hast du gezaubert.”

„Nein!”

„Doch!”

Galéon seufzte. Das war nun wirklich nicht der richtige Ort und Moment, sich mit einem kleinen Mädchen zu streiten. Fehlte nur noch, dass sie anfing, ihm die richtigen Fragen zu stellen.

Advon grinste. Dann bedeutete er dem Einhorn mit erhobenem Finger, sich hinzusetzen, wie ein gehorsamer Hund es tat. Das Einhorn war sich nicht zu schade, dieses Kunststück für die Leckerei zu vollführen. Das Kind klopfte ihm den Hals und zog sich dann an seinem Flügel hoch.

„Steig auf, Galéon. Farbenspiel trägt uns zum Cielástel. Und da musst du sofort meinen Eltern und den Regenbogenrittern erzählen, was hier passiert ist. Und was Úldaise plant. Und … überhaupt, alles! Aber kein Märchen. Alles, was in Wahrheit geschehen ist.”

„Oh ja”, sagte Galéon, froh über die Ablenkung. „Besonders über das, was Úldaise unter allen Augen in Aurópéa getan hat. Das eine mag mit dem anderen zusammenhängen.”

„Hilf mir rauf, Galéon”, verlangte Dýamirée. „Du sitzt hinter mir und hältst mich fest.”

„Vorhin hast du gesagt, niemand muss dich aufheben”, sagte Galéon verwundert über diese Zutraulichkeit.

„Du darfst das”, entgegnete sie. „Du hast mich beschützt. Der freundliche Ritter daheim im Wald hat auch versucht …”

Sie verstummte. Galéon hob die Brauen. Advon wurde aufmerksam.

„Der, den ein anderer Ritter erschlagen hat?”, fragte Advon, halb mitfühlend, teils begierig, Details über diesen Vorfall zu hören, die sie ihm gegenüber wohl schon einmal erwähnt hatte.

Sie nickte versonnen.

Oh, dachte Galéon. Es war deutlich zu spüren, dass schwere Gedanken an das Mädchen herankamen.

„Magst du nicht darüber reden?”, fragte er, kletterte hinter den Flügeln des Einhorns auf dessen Rücken und griff mit seinen aufgeschürften, geschundenen Händen nach ihr, zog sie an sich. Advon Irísolor wartete, bis er sie sicher vor sich abgesetzt hatte. Auf den Wink des Jungen wuchtete das Einhorn sich wieder auf den Rücken, so mühelos als trüge es keine drei Menschen. Advon lenkte das Tier nach Norden und warf einen besorgten Blick auf die Wolkenwand. Farbenspiel schnaufte. Dann setzte er sich in Bewegung, nicht im Flug, sondern in schnellem Schritt. Vielleicht wollte er sich zunächst vergewissern, wie sicher sich der fremde Mensch hielt.

Dýamirée Lagoscyre seufzte. Dann lehnte sie sich vertrauensvoll an seine Brust.

„Nein”, sagte sie leise. „Nicht jetzt. Ich erzähle es dir, wenn ich dir das Lied vom Heilegänschen vorsinge, ja?”

„Einverstanden.”Galéon wurde klar, dass der Junge der Grund dafür war, warum das kleine Mädchen nun nicht aussprach, was sie bei der Erinnerung an den fremden Ritter belastete.

„Du warst also auch in der Höhle in Úldaises Garten?”, fragte Advon Irísolor, als das Schweigen zu unangenehm wurde.

„Ja. Es gibt einen durchgehenden, wenn auch sehr unbequemen Verbindungsweg zwischen Aurópéa und der Höhle.”

„Einen Geheimgang?”

„Eher einen natürlichen Tunnel. Einen, den Wasser über lange, lange Zeit gegraben haben muss.”

„Wie aufregend! Weißt du, ich hab gestern Nacht die Höhle auch gefunden, aber ich durfte nicht hineinschauen. Einen Tunnel hab ich nicht gesehen.”

Galéon horchte auf. „Hast du deinen Eltern davon erzählt?”

„Ja, meiner Mama. Ich glaube, sie waren heute Vormittag da und haben nachgesehen.”

Sehr gut, dachte Galéon. So viele Magier wie möglich sollten sich diesen seltsamen Ort anschauen.

„Und hast du da drin was Interessantes gefunden? Außer dem Silberstern?”

„Ja. Aber wenn es dir recht ist, würde ich das gerne erst in Anwesenheit deiner Eltern erzählen. Die Geschichte wird nicht interessanter, wenn ich sie mehrfach wiederholen muss.”

„Dann los”, sagte Advon, dem das Signal genug war, sich endlich zu beeilen. „Haltet euch fest! Los, Farbenspiel! Zurück in den Stall!”

Das Einhorn galoppierte an. Galéon griff geistesgegenwärtig nach dem Flügelansatz, um ein wenig Halt zu haben, und das Tier jagte los, unbeeindruckt von den Menschen.

Dann breitete es die Flügel aus und begann, von Düne zu Düne zu segeln.

„Ich glaube doch, dass du ein Magier bist”, sagte Dýamirée plötzlich.

Nun konnte Galéon nicht widerstehen. „Und wenn? Und wenn ich wirklich einer wäre?”

Sie antwortete nicht. Aber sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte müde zu ihm hinauf.

„Es ist gut”, sagte sie, „dass wir dich gefunden haben. Du gehörst zu uns.”

***

Osse schrie, halb vor Schmerz, denn das Wesen zog unnachgiebig an seinem Arm, halb vor Entsetzen, denn was da vor ihm aus dem Sand emporgetaucht war, hatte ein Gesicht, das aussah, als habe jemand mit einem Hammer herein geschlagen, und eine sabbernde Hundezunge zwischen grünlichen Zähnen. Die Gliedmaßen und der Oberkörper schienen menschlich zu sein, zerlumpte Kleidung schlotterte daran.

„Nein!”, kreischte Manjév und packte beherzt zu, fasste den Jungen um die Mitte und versuchte, ihn in die Mitte des Tisches zu ziehen. Für ein Mädchen entwickelte sie erstaunliche, verzweifelte Kräfte.

„Mein Arm!”, schrie Osse vor Pein!

Das Monster gurgelte und spuckte trockenen Sand. Der teirandanja gelang es, den Jungen ein Stück näher zu sich hin zu zerren, allerdings zog sie damit auch das Monster mit sich voran. Im selben Moment tauchte hinter ihr, auf der anderen Seite des Tisches eine weitere, aufgedunsene Hand mit fetten weißen Fingern auf und fasste das Mädchen an seinem bloßen Fuß, schleifte es in die andere Richtung.

„Hilfe!”, kreischte nun auch Manjév auf.

Merrit war auf die Füße gesprungen, die Tischplatte schwankte unter ihm, und ringsum tauchten sie überall aus dem Sand auf, Hände, Köpfe, Gesichter, so alptraumhaft verzerrt und entsetzlich anzuschauen, und doch alle, jedes Einzelne, unverkennbar in Ansätzen menschlich. Der Junge war hörte die Monster unverständliche Laute ausstoßen und die beiden anderen Kinder schreien.

Chaosgeister! Bei den Mächten, echte, wirkliche Chaosgeister! Und so anders, als er sie sich in seiner Fantasie immer vorgestellt hatte. Deformiert, zerstört, verunstaltet. Nichts, was er sich in seiner kindlichen Phantasie aus dem heraus hatte ausmalen können, was er in den alten Geschichten gehört und gelesen hatte, oder dem, was er belauscht hatte, wenn an langen Winterabenden ein báchorkor spätabends Geschichten für Erwachsene vorgetragen hatte. Merrit schauderte und erinnerte sich deutlich an einen dieser Abende, als ein weißhaariger, alter Erzähler aus dem eisigen Westen daheim in der Halle erzählt hatte, vier, fünf Sommer war das her. Merrit, der sich damals mucksmäuschenstill hinter einer Truhe versteckt und für die Geschichte tapfer gefroren hatte, denn sein Versteck war weitab vom Kamin gewesen, war sich sicher, dass sein Vater ihn damals bemerkt, aber nichts gesagt hatte. Möglicherweise war es ihm ganz recht gewesen, dass der Junge seine Tapferkeit mit solchen verwegenen Aktionen gestärkt hatte. Die Mutter hatte es später verstanden, seine bösen Träume zu beruhigen. Ach die Mutter …

Und diese Wesen hier – die waren so viel grausiger als das, was der alte báchorkor damals beschrieben hatte. Da war nichts mit Schuppen und Reißzähnen und Glutatem – die hier waren viel zu echt, um einer Geschichte zu entstammen.

Und sie versuchten, sich über seinen einzigen Freund und das Mädchen herzumachen, dessen Gegenwart sich so bittersüß und wunderbar in seinem Herzen anfühlte, wenn er auch nicht verstehen konnte, weshalb sie so abweisend zu ihm war.

„Hilfe!”, kreischte die teirandanja, sie strampelte und zappelte, während das aufgeblähte Wesen versuchte, ihren anderen Fuß zu packen. Der Chaosgeist wirkte ekelhaft weich, aber nicht etwa wie ein beleibter Mensch, sondern als ob er aufgeblasen wäre wie ein Teig für ein Hefebrot.

Aber die teirandanja hielt Osse fest, dem das Wesen mit dem zerbeulten Gesicht und der Pergamenthaut den Arm auszureißen drohte, während der Junge sich mit der anderen Hand an der Tischkante festkralle.

„Lasst sie los!”, schrie Merrit aufgeregt in die Leere. „Die Dinger sollen sie loslassen!”

Sie gehören mir, kleiner Ritter!, meldete sich das Wesen in seinen Gedanken. Einen nach dem anderen werde ich mir holen! Erst die hier und dann die anderen!

„Ruf deine Monster zurück!”, zürnte Merrit. Er vergaß allen Anstand und Sitte, packte den Fuß der teirandanja und versuchte, die monströsen Finger von ihrem Knöchel zu lösen. Er konnte keine Knochen darin spüren. Einmal hatte Merrit bei einem Besuch in Virhavét den Stand eines Fischhändlers gesehen, der ein seltsames Meerestier mit einem dicken Kopf und vielen labberigen Gliedmaßen feilgeboten hatte. So ähnlich kamen ihm diese Handglieder vor. Es gab auch keine Gelenke daran. Das Mädchen wimmerte und trat, und dabei drohte sich ihr Griff um Osse zu lockern.

Ich hole sie zu mir, bekräftigte das Wesen. Und wenn dein Vater so töricht ist, die Tür zu öffnen, dann werden wir sehen, was passieren wird.

„Merrit!”, keuchte Osse flehend, und das Mädchen schrie schrill und trampelte um sich.

Und du, kleiner Ritter, du bist der Nächste!

„Gib sie sofort frei, sonst …”

Du kannst es nicht verhindern! Du kannst nicht beide zugleich festhalten! Entscheide dich!

„Aber …”

Welches ist dir mehr wert? Der hier, der die nie im Leben im Kampf beistehen wird? Oder sie, die niemals dein Herz erfreuen soll? Welche sinnlose Wahl willst du treffen?

„Ich kann nicht … ich will sie beide!”

Vielleicht solltest du dich selbst gleich selbst in den Sand stürzen. Es geht schnell! Du wirst es kaum bemerken. Deine Mama hat es auch nicht bemerkt.

„Meine Mama?”

Vielleicht ist sie längst bei mir? Vielleicht habe ich sie mir als Allererstes geholt?

Merrit Althopian ächzte zornig auf. Das, was das Wesen da in seinem Kopf redete, was es an Bildern und Gefühlen erweckte, war nicht zu ertragen.

„Merrit!”, drang die schmerzerfüllte Stimme von Osse Emberbey an ihn heran. Der Junge hatte den Griff an der Tischkante lösen müssen, und im selben Moment verließen auch die teirandanja ihre Kräfte. Das eine Monster zerrte Osse nach vorn, das andere das Mädchen an der anderen Seite vom Tisch herab. „Merrit! Was immer es dir erzählt, hör nicht hin!”

Was redete Osse da? Konnte er das Wesen hören?

„Hör auf!”, wimmerte die teirandanja. „Du lügst! Du lügst!”

Ja, sie hörten das Wesen. Aber sie hörten es in ihren eigenen Köpfen. Merrit sah, wie das Mädchen den Halt verlor und unaufhaltsam vom Rand des Tischs hinunter rutschte, zurück in den Sand.

„Bei den Mächten”, rief Merrit. „Vergebt mir, Majestät!”

Und mit diesen Worten ließ er sich fallen, gerade rechtzeitig, bevor das Mädchen ganz den Halt verlor und von der sich neigenden Tischkante rutschte. Er kam auf ihrem Rücken zu sitzen, klemmte sie unter sich fest und schwang den Streitflegel hoch über den Kopf und ließ ihn mit einem Wutschrei auf das aufgeblähte Wesen niedersausen.

Das Monster platzte auseinander, als zerrisse eine dünne Hülle, die seine Masse zusammenhielt, inklusive der Hand, die nun ruckartig den Fuß der teirandanja freigab.

Merrit zog seine Waffe wieder an sich, sprang auf und zerrte das Mädchen beiseite, weg von der Tischkante. Das aufgequollene Wesen war nicht tot, nicht zerstört. Das, was geborsten war, war nur eine glibberige Masse gewesen, die einen viel kleineren, fast kindlichen Körper umschlossen hatte. Das, was sich darunter verborgen hatte nun mit einem schmerzhaften, fast verblüfften Blick in den Sand zurück stürzte, ballte drohend seine Faust, bevor es verschwand.

Merrit Althopian dachte nicht nach. Er sprang auf, packte die teirandanja an der Schulter, erwischte dabei grob einen Großteil ihrer blonden Haare und warf sie auf die Tischmitte zurück. Dann stand er breitbeinig über Osses Kopf, sodass dessen Schultern von seinen Knöcheln gestoppt wurden, und schwang den Streitflegel so kraftvoll, dass er zuerst den dürren Arm des Chaosgeistes zerschmetterte und dann dessen eingebeulte Gesicht noch mehr vertiefte. Das Blut des Wesens war bläulich und dünn wie Wasser. Aber es war nicht besiegt. Es kreischte, schnellte aus dem Sand heraus wie ein Fisch, der ach Fliegen schnappt und wollte sich auf die Kinder werfen. Die Stachelkugel erwischte es am Bauch und schleuderte es ein gutes Stück vom Tisch weg.

Merrit starrte ihm verwirrt nach und warf dann einen verstörten Blick auf seine Hände und die alte Waffe darin. Die Wesen hätten tot sein müssen, aber ganz offensichtlich waren sie nichts, was er erschlagen konnte. Entweder war er noch nicht stark genug, oder der Streiflegel funktionierte nicht. Oder die Wesen waren tatsächlich unbesiegbar, eindeutig die schlechteste Wahrscheinlichkeit, denn dann konnten sie immer und immer wieder angreifen. Er würde sie nicht ewig mit seiner Wut und seiner Verzweiflung zurückhalten.

Aber wenn dem so war, dann würde er sich dennoch ganz gewiss nicht von dem Wesen verlocken lassen, aus eigenem Willen hinter die Träume zu gehen. Das war Betrug! Wenn die hier unsterblich waren, dann wäre er es auch nicht. Und er wollte keiner von ihnen werden. Er wollte eines Tages der schönen Roten Dame folgen!

Bei den Mächten, er hatte auf der teirandanja gesessen und er hatte noch einige ihrer schönen blonden Haare zwischen den Fingern. Wenn sie jemals wieder in eine normale Wirklichkeit zurückkehren würden, dann würde er diese Unverschämtheit ohnehin bitter bezahlen müssen. Aber nicht jetzt. Nicht hier. Jetzt musste er sich auf das besinnen, was er war. Was sein Vater von ihm erwartete. Was seine Mutter ihm damals vorausgesagt hatte.

Manjév von Wijdlant und Spagor schaute sich verstört um und tastete nach ihrem Knöchel. Bestimmt konnte sie den knochenlosen, zähen Druck der Finger noch dort spüren, wo sie zugepackt hatten. Wie lange hatte all das gedauert? Es konnten nur ein paar Atemzüge gewesen sein, aber er fühlte sich, als hätte es vom Angriff der beiden Wesen bis jetzt viele Tage gedauert. Die Zeit fühlte sich anders an, denn sie schien hier in dieser Leere voller Sand, in diesem Wahnsinn nicht zu existieren.

Osse wimmerte, aber er hatte die Kraft, selbst wieder in die Mitte der Tischplatte zu kriechen. Er kauerte sich zusammen und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter und sein Handgelenk. Immerhin saß seine Brille, wie durch ein Wunder, immer noch auf seiner Nase.

Die teirandanja starrte verstört zu Merrit auf. Der stand, heftig atmend, die von Monsterblut tropfende Stachelkugel in der Hand und schaute sich mit heißem Atem und hetzendem Blick um. Die Chaosgeister, die ringsum aus dem Sand schauten wie Seehunde, die neugierig ein Boot umringten, hielten respektvollen Abstand.

„Kommt nur her!”, rief Merrit Althopian fiebrig. „Kommt her und versucht es noch einmal! Keinen von uns bekommt ihr, keinen!”

Er ließ die Kugel kreisen und drehte sich um, um seiner Entschlossenheit auch auf der anderen Seite des Tisches Ausdruck zu verleihen.

„Merrit”, sagte Osse, vor Schmerz zischend, „reize sie doch nicht!”

„Kannst du den Arm noch bewegen, Osse?”

„Ja. Es tut weh, aber ich glaube, es ist nichts kaputt.”

„Gut. Dann bleib da sitzen, halt die teirandanja fest und bewege dich nicht vom Fleck. Hier!”

Merrit kickte das Spielzeugboot vorsichtig zu ihnen hinüber. „Darauf passt ihr auf. Das ist eure Aufgabe. Es bringt uns Glück.”

„Merrit Althopian!” Die teirandanja setzte sich auf. „Was …”

„Majestät, das gerade tut mir leid!” Er hielt inne und brüllte einen Chaosgeist, der sich wieder heranwagte, mit einem so ungebührlichen Fluch an, dass sowohl das Monster, als auch die beiden anderen zurückzuckten. Das böse Wort hatte er einmal aufgeschnappt, als vor den Burgmauern Unratknechte in einen Streit geraten waren. Merrit hatte es für genau so einen Fall einem verbotenen Winkel seiner Erinnerung aufbewahrt, säuberlich getrennt von seinem guten betragen.

„Niemand wird davon erfahren!”, rief sie. „Komm her! Komm da vom Rand weg, bevor sie dich packen!”

„Bleibt, wo ihr seid! Ich halte sie von euch fern! Bewegt euch nicht!”

Ein anderes Monster, das aussah wie geschmolzen, schwamm heran. Merrit schlug danach und schrie wie ein wütendes Waldschwein. Der zweite Schlag, unmittelbar seitlich, traf ein drittes Monster, drückte es unter den Sand. Merrit lachte gellend auf. Ein kaltes Funkeln trat in seine eisfarbenen Augen.

Manjév von Wijdlant und Spagor duckte sich verstört zusammen. „Ist er jetzt wahnsinnig geworden?”, wisperte sie Osse Emberbey zu.

„Vielleicht”, raunte Osse heiser. „Aber solange er wütend ist, sind wir beschützt.”

Merrit konnte hören, dass sie über ihn sprachen. Er lächelte grimmig, obwohl ihm die Tränen aufstiegen und ihm die Brust zuschnürten.

„Auf dem Tisch sind wir sicher”, flüsterte er. „Bitte, vertraut mir. So lange, bis jemand kommt und uns rettet, besiege ich die Chaosgeister!”