
Yalomiro saß allein an seinem Lieblingsplatz, einem von der Zeit glatt polierten Steinfindling, der am Rand des Lagoscyre umgestürzt war und einem Steg gleich in das tiefe, im Sonnenschein silbrig flimmernde Wasser hineinragte. Dort konnte er die Fische sehen, wenn sie vorbeischwammen, und das Lied der Wellen hören.
Die Wellen und die Bäume waren die einzigen, die seit Tagen zu ihm gesprochen hatten. Die anderen Schattensänger redeten nicht mit ihm. Das war die Strafe für die Gedankenlosigkeit, für den Leichtsinn, mit dem er um ein Haar das Vertrauen der ujoray in den Frieden der Schattensänger und das fragile Verhältnis zu den arcaval’ay gefährdet hatte. All das nur, um ein verfluchtes Lamm zu retten.
Es tröstete ihn wenig, dass Falgrèd sich ebenso ernste Vorwürfe hatte anhören müssen. Mit der Goldmünze, mit deren Hilfe er sich vor den jüngeren Schattensängern hatte aufspielen wollen, hatte er sie in Gefahr gebracht. Die Münze hatte Falgrèd den Unkundigen aushändigen müssen – als Entschädigung für das Unbehagen, das sie ihnen bereitet hatten. Auch der Ausflug zu den Unkundigen war absolut unnötig gewesen, fand Meisterin Eketh. Diese Meinung teilte Arámaú, die allein von allen Vorwürfen verschont wurde, nicht. Immerhin hatte sie auf diese Weise die Geschichte von dem Ritter, der Freundschaft mit einem Drachen schließen wollte, gehört. Vom báchorkor hatte sie Meister Gíonar allerdings nichts erzählt. Unkundige hätten ihn vermutlich nicht interessiert. Aber die Drachengeschichte wollte sie Yalomiro erzählen, sobald man das Schweigen von ihm nahm. Ewig konnte das ja nicht dauern.
Und Falgrèd würde auch so schnell nichts mehr über ihr Abenteuer an die Meister herantragen. Gestern war er mit Meisterin Eketh in den Schatten aufgebrochen, um den Boscargén zu verlassen. Die Meisterin beabsichtigte, nach Ivaál zu reisen. Ab und zu reisten Schattensänger zu den ujoray, um ihnen beizustehen, wenn es ernste Probleme gab. Warum man in Ivaál nach camat’ay rief, wusste man noch nicht.
„Meister Gíonar ist beeindruckt von deiner Macht”, sagte Meister Askýn.
Yalomiro schrak herum. Er hatte nicht bemerkt, dass der Großmeister zu ihm gekommen war. Unter Mühe versuchte der alte Mann, sich ebenfalls auf den Stein zu setzen. Yalomiro sprang auf und war ihm behilflich.
„Du hast ein paar bemerkenswerte Zauber gewirkt und vor den Regenbogenrittern Standhaftigkeit bewiesen. Das sind Dinge, auf die du stolz sein kannst.”
Der Junge wollte etwas entgegnen, aber der Alte hob die Hand. „Ich habe dir nicht erlaubt, zu reden.”
Yalomiro seufzte. Meister Askýn lächelte.
„Die anderen reden über dich. Sie staunen über deine Fertigkeiten. Sie setzen großes Vertrauen in die Zeit, in der du erwachsen und bei voller Macht sein wirst.”
Yalomiro schnaubte zweifelnd und starrte ins Wasser.
„Was wirst du mit deiner Macht anfangen, wenn du einst an meiner Stelle bist, Yalomiro Lagoscyre?”
Der Junge schaute seinen Meister verwirrt an.
„Wenn das Weltenspiel es nicht auf andere Weise fügt, Yalomiro, wirst du einmal der Großmeister der Schattensänger sein. Ich werde nicht jünger. Und ich sehe unter unseresgleichen niemanden, der dich übertreffen könnte, wenn ich zwanzig Sommer in die Zukunft denke.”
Yalomiro schaute misstrauisch. Meister Askýn neigte sich vor und ließ Wasser durch seine Finger rinnen.
„Bei all dem Unfug, den du in deinem kindlichen Übermut so treibst, mein Schüler, hast du ihnen allen – auch Meister Gíonar, der das nicht so wirklich zugeben will – bewiesen, dass du der Meisterschaft würdig bist. Du hast das Wesen unseres Kreises verstanden und danach gehandelt. Diese Verständigkeit zusammen mit magischen Fertigkeiten, die zum Schutz und zur Ehre der Dunkelheit, Noktáma und des Kreises gereichen, sind deine Gabe, Yalomiro Lagoscyre. Aber finde ich deswegen Eitelkeit, Hochmut oder Größenwahn in deinem Herzen?”
Yalomiro schüttelte heftig den Kopf. Oh, wenn er doch nur reden dürfte…
„All deine Magie, all dein Können, all deine Macht, für die anderen? Um zu schützen, um zu heilen, um zu verteidigen, um zu bewahren?”
Der Junge schluckte die Worte hinunter. Dann nickte er.
„Um Verlorenes nicht aufzugeben, solange es noch Hoffnung gibt? Solange es gilt, die ganze Geschichte zu erfahren?”
Yalomiro zögerte. Dann nahm er allen Mut zusammen und ergriff die alten Hände seines Meisters.
Magie strömte von einer maghiscal auf die andere über, silbrig und warm. Meister Askýn lächelte. Dann stand er mühsam wieder auf. Yalomiro stützte ihn.
„Zweimal sei noch der Mond über dem Schweigen, Yalomiro, dann bist du erlöst”, sagte Meister Askýn.
Der Junge nickte ergeben.
Der Großmeister entfernte sich, schwer auf seinen Stab gestützt. Im Weggehen fügte er noch hinzu: „Und was diesen jungen Mann betrifft, der dir nicht aus den Gedanken will, Yalomiro…”
Er drehte sich noch einmal um. Yalomiro horchte begierig auf.
„Ein Traum, Yalomiro. Ein Wesen von den Träumen. Und ein Rätsel, für das du wohl noch zu jung bist.”
Yalomiro wollte widersprechen, doch der Meister legte den Finger an die Lippen.
„Zwei Nächte, Yalomiro. Alles andere wird sich fügen, wie es den Mächten im Weltenspiel gefällig ist.”
Damit ging er fort.
Der junge Schattensänger, der einmal der Großmeister der camat’ay sein würde, saß auf seinem Stein und beobachtete die Fische, die schweigen mussten wie er selbst. Doch die Sonne, das Wasser und die Bäume ringsum waren Frieden. Yalomiro war eines mit dem Wissen der Bäume und ihrem silbernen Duft.
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