
Der Tisch wurde von einer heftigen Sandwoge ergriffen und vorwärts geschleudert. Die drei Kinder darauf klammerten sich aneinander und an dem alten schwarzen Holz fest und versuchten, sich so gut es ging vor dem umherpeitschenden Körnchen zu schützen, die ihnen ins Gesicht schlugen wie unzählige winzige Nadeln.
Sie hatten es aufgegeben, um Hilfe zu rufen, und sogar das panische Kreischen, das sie sich nicht hatten versagen können, als das Sandmeer in der Leere in Aufruhr geraten war, war verstummt. Zunächst war es Schrecken und der schiere Fluchtinstinkt gewesen, der die drei in Panik versetzt hatten. Zwischenzeitlich war ihnen klar, dass es keine Flucht gab. Sie waren verloren.
Die teirandanja schniefte leise. Ihr fein geflochtenes Haar war nun wild und zerrauft, ihr Kleidchen hatte beim Sturz durch das Dach, das längst nicht mehr da war, Schaden genommen. Sie sah jämmerlich aus, aber in ihrem kreidebleichen Gesicht las Merrit eine Festigkeit und Würde, die ihn zutiefst beeindruckte. Manjév von Wijdlant und Spagor war alles andere als ein verzagtes, banges Fräulein.
Natürlich nicht, dachte Merrit. Sie wäre eine teiranda geworden, eine starke, entschlossene Herrscherin. Zu schade, dass es so weit nicht mehr kommen würde.
Osse blickte zaghaft auf, als der peitschende Sandsturm einen Moment nachließ. Das Spielzeugboot, das mit ihnen hierher geraten war, hatte er schützend an sich gedrückt. Vielleicht erinnerte es ihn an sein Zuhause, an die Schiffe auf dem Meer, die er, von seinem Fenster aus, jeden Tag sehen konnte. Auch er schwieg nur noch duldsam, während das, was immer hier im Sand plantschte wie ein kleines Kind im Badezuber, sie hinab zu reißen versuchte.
Eine Weile kreiselte der Tisch herum. Die drei schauten einander scheu an, und jeder machte sich wohl seine eigenen Gedanken. Osse dachte bestimmt an seine beiden Schwestern, die er nie wiedersehen würde. Die teiranda war mit den Gedanken sicher bei ihren Eltern. Und er … er konnte nicht mehr hören, was sein Vater irgendwo, weit entfernt, an einem anderen Ort tat. Der überall rieselnde Sand war viel zu laut. Ach, sein geliebter Vater, dem er so sehr hatte nacheifern wollen in Tapferkeit, Edelmut und Stärke.
„Wo hast du das her?”, fragte die teiranda, und er benötigte einen kurzen Augenblick, bevor er begriff, dass sie mit ihm redete. „War das hier? Oder nein: War es in dem Turmzimmer?”
Sie deutete auf den rostigen Streitflegel, mit dem er so ausdauernd die Tür bearbeitet hatte. Einige der rostigen Spitzen waren davon nur noch winzige, gebrochene Stümpfe.
„Nein. Das war im Verlies, Majestät. Jándris Altabete sagte, ich könne es haben.”
„Du hättest da sicher was Besseres gefunden”, sagte sie, offenbar nur, um ein Gespräch zu beginnen, denn das betretene Schweigen fühlte sich scheußlich an. „Ein Schwert in deiner Größe oder so. Láas und Jándris haben da schon öfter was Brauchbares entdeckt. Láas hat letzten Winter einen total verrosteten Dolch herausgeschmuggelt und wieder sauber gemacht und geschliffen. Ich hab es gesehen. Er kann das wirklich gut!”
„Ich wollte das hier”, sagte Merrit, dem es zutiefst befremdlich vorkam, dass das Mädchen sich über Waffen unterhalten zu wollen schien.
„Warum?”
Er erinnerte sich an sein Spiel mit dem Filzball an der Schnur und den Holzklötzen, das er vor ewigen Zeiten als kleiner Junge gespielt hatte, und kämpfte tapfer die Tränen nieder, die diese Erinnerung in ihm hervorrief. „Das versteht Ihr sicher nicht, Majestät.”
Sie bemerkte wohl, wie er um Fassung rang und wechselte das Thema.
„Wenn die Erwachsenen uns gerettet haben”, sagte sie, „wenn du alt genug dafür bist, dann sollst du einen eigenen, ganz neuen haben. Den schenk ich dir dann.”
„Weshalb?”, fragte Merrit verdutzt.
„Bin ich dir schuldig.” Nun war ihr etwas unangenehm. Zum Glück ergriff Osse das Wort und lenkte sie ab. Er hatte zuvor nachdenklich und stumm dagesessen und offenbar über etwas nachgegrübelt.
„Das Boot”, sagte er, „das muss von ganz weit weg gekommen sein.”
„Woher willst du das wissen?”
„Das Holzstück hier, woraus es gemacht ist. Das kommt von einem Baum, den es auf unserer Seite des Montazíel nicht gibt. Meine Mutter hatte eine wertvolle Schatulle aus genau demselben Holz.”
„Es kann seit Ewigkeiten hier im Sand herumschwimmen.”
„Dann wäre das Blatt nicht mehr so frisch, das es als Segel hat.”
„Nützt uns das etwas, es zu wissen?”
„Ja. Dann muss es nämlich irgendwo einen Weg von hier an einen anderen Ort geben.”
„Einen Ausgang?”, fragte die teirandanja hoffnungsvoll.
„Oder einen Eingang.”
„Selbst wenn”, dämpfte Merrit die Hoffnung, die er in der Miene des Mädchens aufkeimen sah. „Selbst wenn wir wüssten, wo so ein Ausgang wäre. Wir können von diesem Tisch hier nicht runter. Wir würden sofort im Sand versinken.”
„Wir können den Tisch nicht einmal steuern wie ein Boot”, bedauerte Osse.
„Ich habe einmal eine Geschichte gehört”, begann die teirandanja, „von einem, der mit einem großen Schiff unterwegs war. Es kam ein Sturm und versenkte das Schiff, aber der Mann konnte sich an einem großen Stück Holz festhalten und damit übers Meer schwimmen, ungefähr so, wie wir jetzt gerade.”
„Und wie ging die Geschichte aus? Ist er gerettet worden?”
„Ich weiß nicht. Die opayra hat mich erwischt und zurück ins Bett gebracht. Es war nämlich eine Geschichte für die Erwachsenen. Ich hatte mich auf der Galerie versteckt, um zuzuhören.”
„Ich glaube, das, was immer hier gerade mit uns spielt, kann uns nichts tun, solange wir auf dem Tisch sitzen”, sagte Osse. „Wir dürfen nur nicht hier runterfallen.”
„Meinst du?”
Der Junge nickte. „Weißt du noch, wie Meister Yalomiro mit uns unter dem Tisch gesessen hat, als wir uns versteckt hatten? Die Erwachsenen haben uns nicht gefunden. Der Tisch hier ist sowas wie ein Beiboot von einem großen Schiff im Sturm.”
„Aber wo fährt es hin?”
„Nirgends. Das ist wie bei den Feldern bei dem Weltenspiel, wo die anderen Figuren nichts machen können, wenn man da steht.”
„Du kannst schon auf dem großen Spielbrett spielen?”, fragte die teirandanja beeindruckt.
„Nicht gut”, gestand Osse. „Es ist enorm schwierig. Mein mestar hat angefangen, es mir beizubringen.”
Merrit, dem schon das einfache Steinespiel zu viel Geduld abverlangte, seufzte. Das war ja alles schön und gut, aber es brachte sie überhaupt nicht weiter. Obwohl es schon interessant gewesen wäre zu erfahren, was es war, das diesen alten abgenutzten Tisch so sicher machte. Im Augenblick dümpelte er vor sich hin, so als habe das Wesen, das sie hier zum Spielzeug erkoren hatte, sich für den Moment einer anderen Sache zugewandt.
„Was war denn nun eigentlich drin in dem Turmgemach?”, fragte die teirandanja. „Hast du da drin etwas Geheimnisvolles gefunden?”
„Nein. Es hat wohl einmal ein Mann da drin gewohnt, der sich mit Kräutern und Elixieren beschäftigt hat. Möbel waren drin, etwas Kleidung. Ein Deckenbild von einer schönen Roten Dame.” Oh ja. Die Rote Dame. Merrit schloss die Augen, dachte an den schönen Traum und fühlte sich auf eine seltsame Weise getröstet, so zart und subtil, dass er nicht hätte sagen können, was ihn so bewegte. Wie schade, dass das Bild nun wohl zerstört war. Nicht nur hier, wo die verputzte Zimmerdecke ohnehin nicht mehr existierte, sondern auch in der Wirklichkeit, wo sein Vater das Dach hatte zerschlagen wollen.
„Sonst nichts?”
Merrit dachte nach und entsann sich dann. Unter seinem Hemd trug er immer noch den roten Karfunkel verborgen, den er in der Truhe gefunden hatte. Aber was war das denn nur mehr als ein protziger wertvoller Edelstein? Es erschien ihm fast nicht wert, ihn dem Mädchen jetzt zu zeigen.
„Wie langweilig”, sagte die teirandanja, ein wenig Enttäuschung in der Stimme, die sie nicht zu verbergen vermochte. „Dann haben sie uns das Zimmer vielleicht doch nur wegen der morschen Dielen verboten.”
„Und wegen des schrecklichen Wesens, das Meister Yalomiro festgebannt hat”, erinnerte Osse.
Merrit hob den Kopf. „Morsche Dielen?”
„Der Fußboden. Es hieß immer, es sei gefährlich, weil …”
„Ich weiß! Das haben Láas und Jándris ja auch behauptet. Aber angenommen, der Boden hält wirklich keine allzu große Last mehr. Und wir sind … irgendwie … immer noch drin im Zimmer …”
Manjév schaute verwirrt. Osse stellte das Spielzeugboot ab.
„Majestät”, wisperte er, „könnt Ihr Euch vorstellen, was all dieser Sand hier wiegen mag? Und sei nur ein Bruchteil davon zur gleichen Zeit dort?”
„Bei den Mächten”, flüsterte das Mädchen bestürzt. Aber noch bevor die drei sich ausmalen konnten, was aus dieser Erkenntnis folgen mochte, geriet um sie herum die Oberfläche des Sandmeeres erneut in Bewegung. Hier und dort türmten sich kleine Hügelchen auf, so als versuchten hundert Maulwürfe zugleich an die Oberfläche zu stoßen. Aber es kamen keine Maulwürfe, denn sobald so ein Hügel seinen Gipfelpunkt erreicht hatte, schien etwas darin zu verpuffen, und zurück bleiben Krater, die auseinander rieselten und sich wieder mit dem Sandmeer vermengten. Es sah fast aus, als würde es brodeln wie Wasser, das zu kochen begann.
Die Kinder rückten zusammen und betrachteten das Schauspiel ebenso wehrlos wie verstört. Immer schneller und dabei vollkommen lautlos kamen und vergingen die Sandblasen, abgesehen von dem leisen Rieselgeräusch der Körnchen, die es in die Luft katapultiert hatte und niederregneten. Dann schien sich das Geblubber und Gebrodel wieder zu beruhigen und kam schließlich zum Erliegen. Osse zögerte und wagte sich ein Stück näher an die Tischkante, um nachzuschauen.
„Es ist wohl vorbei”, sagte er dann verwirrt.
„Was war das wohl?”
„Ich weiß nicht, Majestät. Es scheint …”
Weiter kam er nicht. Direkt vor ihm schoss ein Arm aus dem Sand hervor, dürr wie ein Hühnerbein und mit Haut wie Pergament, und eine krallenbewehrte Hand mit zehn Fingern und zwei Daumen packte den Jungen beim Oberarm und riss ihn fort.
***
Wir verließen den Turm auf einem anderen Weg, als wir ihn betreten hatten. Auf dem Hinweg hatten wir einen Aufgang benutzt, der vom Seitengebäude über einen Korridor ohne Seitentüren in den zentralen Turm geführt hatte. Nun wählten die Regenbogenritter Außentreppen und Brücken, die im Freien am Gebäude herab und zu den Außenmauern und angrenzenden Gebäuden führten. Das erinnerte mich vage an die Struktur im Inneren eines Schneckenhauses, organisch und unwirklich zugleich. Diese Verbindungen mit den Nebengebäuden, die aussahen, als stützen sie den Turm zur Mitte hin, hatte ich natürlich schon zuvor bemerkt; die Treppe hingegen verschmolz aus der Ferne betrachtet optisch mit der sonderbaren Glasstruktur. Ich drückte mich, so nahe, wie es ging, gegen die Mauer, zitterte am ganzen Körper und fragte mich, was diese seltsamen Leute hier dazu veranlasst haben mochte, eine solche Konstruktion ohne jegliche Sicherung zu erschaffen. Offenbar hatten Magier Vorlieben für lebensgefährliche Treppen. Die in Meister Gors Turm war seinerzeit ähnlich verstörend gewesen.
Der Indigofarbene bemerkte, dass mir die Tiefe unter dem offenen Himmel Angst machte. Ohne etwas zu sagen, schritt er plötzlich an meiner Seite. Das war sicher nett und zuvorkommend gemeint, aber nun fühlte ich mich durch seine intensive maghiscal geradezu bedrängt. Etwa so, als müsste ich mich zwischen der Wand und einem die Treppe einnehmenden Luftballon bewegen. Ich war mir sicher, dass es eine entsetzliche Entladung geben würde, wenn ich ihm zu nahe kam. Wäre meine maghiscal nicht durch das ganze physische Gold hier ohnehin geschwächt, wäre das sicher schon längst passiert.
Er balancierte haarscharf am Abgrund und schien auf eine merkwürdige, wohlwollende Art belustigt zu sein, wie ein überlegener Erwachsener, der sich mit einem unerfahrenen Kind abgeben muss. Ich war überzeugt davon, dass der Violette, der hinter mir ging, ebenfalls grinste. Wahrscheinlich hatten sie insgeheim Spaß daran, dass jemand, den sie für einen überlegenen mächtigen Gegner gehalten hatte, sich als inkompetentes, schwaches Ding entpuppte.
Die übrigen Regenbogenritter waren zunächst noch direkt vor uns gewesen, dann aber einer nach dem anderen über die Seitenbrücken ausgeschwärmt. Als die Windung der Treppe unseren Blick nach Norden lenkte, blieb der Indigofarbene plötzlich stehen.
„Die Wolken gefallen mir nicht”, sagte er zu seinem Kameraden. „Sie kommen immer schneller heran.”
„Mir auch nicht. Ganz und gar nicht. Und ausgerechnet jetzt ist der Meister nicht da.”
„Und die Tiere auf der Weide.”
„Denen kann nichts passieren.”
„Aber unwohl ist dir doch, oder?”
Ich versuchte, den Abgrund neben mir zu ignorieren, und schaute mir die so sonderbar massive Wolkenwand an, die da den Himmel zumauerte. An einigen Stellen konnte man noch erkennen, dass es sich um Gewitterwolken handelte, hier und dort wogte und brodelte es, als sei ein Sturm in der Masse eingesperrt. Insgesamt jedoch wirkte das Gebilde am Himmel verstörend massiv. Mit kam ein Werk eines surrealistischen Malers in den Sinn, das mich sehr beeindruckt hatte und das einen riesigen Felsen zeigte, der über dem Meer schwebte. Außerdem, das bemerkte ich, als ich begriff, dass ich nicht einen seltsamen Nebeneffekt des Goldes auf meine maghiscal, sondern tatsächlich die Außentemperatur fühlte, hatte sich etwas in der Luft verändert. Es war keine trockene Hitze mehr. Stattdessen fühlte sich die Luft nun schwül an.
„Ist das ungewöhnliches Wetter?”, fragte ich.
„Ich habe nie zuvor einen solchen Regensturm aus dieser Richtung und so schnell nahen sehen”, gab der Violette zu. „Wenn das auf die Wüste zukommt und das Unwetter ausbricht, sollte besser niemand im Freien sein.”
„Ich frage mich, ob die Großmeisterin das auch schon bemerkt hat.” Der Indigofarbene schaute zum Turm auf.
„Sicher. Aber sie wird mit den Gedanken ganz woanders sein.”
„Ihr macht Euch Sorgen um Eure Einhörner?”, fragte ich und ging einfach weiter. Ich wollte, so schnell es irgendwie ging, wieder Erdboden unter die Füße bekommen. Sie setzten sich ebenfalls wieder in Bewegung.
„Ich wüsste das meine lieber im Stall”, sagte der Indigoritter.
„Können wir sie nicht einfach holen?”, fragte ich. „Vielleicht kann ich Euch irgendwie helfen. Oder ist es weit weg?”
„Nun”, erklärte der Violette, „es dauert eine Weile, zu Fuß zu den Gärten zu gehen und sie einzusammeln. Zurück können wir in wenigen hundert Herzschlägen fliegen.”
„Können wir das dann nicht zuerst machen? Oder reicht es nicht, wenn einer von Euch mich und den Stab bewacht und der andere die Tiere holt?”
„Ist das eine finstere List?”, fragte der Violette und klang dabei, als wisse er nicht, ob er misstrauisch oder erheitert sein sollte.
„Nein. Ich möchte nur, dass eure Tiere in Sicherheit sind. Ich mag Tiere. Wenn ich ein Haustier hätte, ich würde es auch hinein holen.”
Die beiden überlegten.
„Ich habe ganz bestimmt keine finsteren Absichten”, beteuerte ich den beiden. „Ich bin doch nur hier, weil wir unsere Tochter suchen. Sehe ich für euch aus, als könnte ich irgendwas Schreckliches planen?”
„Nein”, sagte der Violette so rasch, dass es fast etwas kränkend war. Offenbar hatten die beiden mich zwischenzeitlich tatsächlich so weit eingeschätzt, dass sie mich nicht für eine ernstzunehmende Magierin hielten.
„Lasst uns den Stab holen”, schlug der Indigofarbene vor. „Oder ist er weit entfernt?”
„Nein, im Gegenteil. Er liegt hier in der Burg und ist gut versteckt. Hoffe ich zumindest.”
„Wo genau?”
„Im Stall.”
„Ihr habt das Ding im Stall versteckt?”, rief der Indigofarbene entsetzt aus.
„Es musste schnell gehen. Die alte Frau …”
„Geht weiter. Umso schneller das verfluchte Ding fort ist, desto besser. Bei allen Mächten, wieso musste der Stab nach all der Zeit wieder auftauchen?”
„Zu Pataghíu gefleht haben wir, dass das Ding auf ewig verborgen bleibt. Bis heute verfolgt es mich in meine Träume!”
„Die Großmeisterin hätte es verhindern sollen, statt es den Schwarzmänteln zu überlassen”, knurrte der Violette, bemerkte, dass er sich im Ton vergriff und fügte hinzu: „Das was unbedacht gesprochen, Meisterin Salghiára. Ich wollte Euch nicht beleidigen.”
Ich tastete mich weiter an der Glasmauer entlang. Die Wolkenwand verschwand aus meinem Blickfeld.
„Wenn es Euch trösten könnte”, sagte ich, „soweit ich es weiß, haben mein hýardor und die anderen sich alle Mühe gegeben, es auf ewig verborgen zu halten. Im Etaímalon lag es am sichersten aller denkbaren Orte, und nicht einmal ich hätte erfahren, wo es ist.”
„Ich bin gespannt, was Siledaú dazu zu sagen hat, wenn wir sie dazu befragen. Lass uns hoffen, dass es nur größenwahnsinniger Sammelwahn war, den sie in vom Alter verwirrten Geist entwickelt hat, wie bei all den Büchern und Sachen.”
Nun zeigte die Windung der Treppe in Blickrichtung des Burgtores. Dort tat sich etwas. Ein Reiter war gerade dabei, die Zugbrücke zu queren.
„Auch das noch”, murmelte der Indigofarbene, ließ mich und seinen Kameraden stehen und begann, die Treppe herab zu rennen, als ginge es nicht unmittelbar neben ihm einige Stockwerke in die Tiefe.
„Kommt”, spornte mich der Violette an. „Schnell. Hinterher!”
Ich zuckte zusammen. „Rennen? Auf dieser Treppe?”
Er seufzte. „Erlaubt Ihr mir, einen kleinen Zauber an Euch zu wirken?”, fragte er. „Du bist so schwach, dass es wohl nicht schaden wird.”
„Was?”
„Vertraut mir einfach. Ich will, dass Ihr ohne Furcht und Sturz mit mir kommst. Und zwar schleunigst.”
Ich überlegte nicht lange. Was immer er da plante, es gefiel mir nicht. Wahrscheinlich konnte ich dem nur entgehen, wenn ich tat, was er verlangte. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und eilte voran, ohne an die Tiefe und mein Ungeschick zu denken. Überraschenderweise war ich am Ende außer Puste, aber tatsächlich am Fuße der Treppe.
„Das ist Úldaise Tiaramale”, erklärte mit der arcaval’ay. „Er ist viel früher da, als wir dachten.”
„Soll ich mit Euch kommen?”
„Natürlich. Wir sollen Euch doch nicht aus den Augen lassen.”
Ich nickte und verschleierte mich wieder. Das zu tun, sobald ich in die Nähe von unkundigen Männern geriet, hatte Yalomiro mir geduldig eingeschärft. Schließlich war nicht auszuschließen, dass ich mit der geerbten Magie auch den unheilvollen Fluch der camat’ay übernommen hatte. Nicht auszudenken, wenn ich mit meinem Anblick den alten Herrn zu sehr in Erregung versetzte. Am Ende würde dessen Herz das nicht verkraften!
Der Indigofarbene war dem Mann behilflich, der gerade versuchte, vom Rücken seines grauen Pferdes zu klettern. Das sah sehr unbeholfen aus, und beim Näherkommen erkannte ich, dass es sich um einen wirklich sehr, sehr alten Mann handelte, den der Ritter da so vorsichtig beim Abstieg stützte, als sei er unsagbar zerbrechlich.
„Sinor Úldaise”, sagte der Violette. „Ihr seid früh.”
„Früh genug”; sagte der Alte mit einer so kratzigen Stimme, dass sich mir alle Haare aufstellten, „um dem Sturm zu entgehen.”
Der alte Mann zupfte sich seine Gewänder zurecht. Sie bestanden aus einem zarten, leichten und sicher in Anbetracht der Hitze in Aurópéa sehr angenehm zu tragenden Leinenstoff, aber sie waren komplett in Grau- und Anthrazittönen gehalten, aufgelockert mit verschwenderischen, schwarz-weiß-golden bestickten Bordüren und bunten Edelsteinknöpfen, die zumindest teilweise keine Funktion zu haben schienen, die über den Schmuck hinausgegangen wäre. Auf dem Kopf trug er einen aufwändigen Hut, irgendwo zwischen einem Barett und einem kunstvoll verschlungenen Kopftuch, das im Schulterbereich in eine Art Schal überging. Insgesamt sah das sehr vornehm aus. Diese Úldaise war wohl nicht nur sehr mächtig, sondern auch ebenso wohlhabend.
„Die Meisterin erwartet Euch.” Der Indigofarbene fasste die Zügel des Pferdes, das neben seiner hochgewachsenen Gestalt fast wie ein Pony wirkte. „Allerdings sind wir gerade noch mit einer wichtigen Sache beschäftigt.”
„Solange ich vor dem Regen ins Gebäude komme, habe ich die Geduld. Seid Ihr die Empfangsgesandschaft, ihr drei?”
„Wie gesagt”, erklärte der arcaval’ay geduldig, „Ihr kommt knapp zur Unzeit. Aber wir werden das, was zu tun ist, schnell abschließen und stehen Euch in Gänze zur Verfügung.”
„Gut. Ich wäre etwas enttäuscht, hätte ich mich auf den weiten Weg aus der Stadt begeben, nur um über den bedauerlichen Vorfall im Garten zu klagen.”
Ich stutzte. Seine Art zu reden erschien mir überraschend selbstbewusst und überlegen. Ein unkundiger Besucher im Etaímalon hätte wohl kam gewagt, so mit Yalomiro zu reden.
„Sicherlich ist auch der Großmeister in Kürze wieder zugegen. Kommt, folgt mir. Ihr sollt solange bequem rasten und auch eine angemessene Erfrischung erhalten.”
Ich hatte mich zwar im Hintergrund gehalten und etwas deplatziert neben dem Violetten gewartet, aber natürlich war dem alten Mann nicht entgangen, dass ich kaum zum Gesinde der Magier gehören konnte.
„Wer ist das?”, fragte der Alte dann und starrte mich an, mit trübgrauen Augen in einem verrunzelten Gesicht, dem eine gewisse Schärfe und Strenge noch anzusehen war.
„Eine Besucherin aus einem fernen yarlmálon“, erklärte der Indigofarbene, bevor ich selbst etwas sagen konnte. „Frau Salghiára.”
Ich verneigte mich unbeholfen. Also wollten die Regenbogenritter nicht, dass ich mich als das zu erkennen gab, was ich war. Warum? Hatten sie Angst, den Alten damit zu erschrecken?
Úldaise zögerte, als würde ihn diese Auskunft überraschen. Dann neigte auch er den Kopf, wie es die Höflichkeit gebot, aber nicht darüber hinaus. Besonders charmant war er also nicht. Nun, das gehörte vielleicht auch nicht zu seinen Aufgaben als sinor.
„Ich bringe Euer Ross in den Stall”, bot der Violette an. „Dort ist es sicher vor dem Regensturm. Ein seltsames Wetter.”
„Ja, fürwahr”, sagte der Alte mit seiner heiseren Stimme. „Ein sehr unerwarteter Wetterumschwung. So, als habe etwas aus dem Norden ihn hierher gebracht.”
„Erlaubt mir, dass ich Euch zur Großmeisterin führe”, sagte der Indigofarbene. „Leider kann ich Euch nicht ersparen, dazu eine Reihe von Stufen zu erklimmen.”
„Solange Ihr mich dabei nicht zum Rennen nötigt, bin ich durchaus noch in der Lage, aus eigenen Kräften zu laufen.”
Nanu? Was hatte der Alte denn für einen forschen Ton an sich? Und warum schien sich der Regenbogenritter darüber weder zu wundern noch zu ärgern?
„Folgt mir”, bat der arcaval’ay. „Der Weg mit der bequemsten Treppe führt durch den Stall hindurch, ehrenwerter sinor.”
„Ah”, machte Úldaise Tiáramalé. „Das ist sehr gut.”
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