„Müsste nicht langsam irgendjemandem auffallen, dass wir alle nicht da sind?”, murrte Daap Grootplen.

„Ich denke nicht”, knurrte Andriér Altabete und kam mit seiner Last die Treppe hinauf. „Wahrscheinlich sind sie bei diesem unsäglichen Wetter alle im Gebäude und vermuten uns in jeweils anderen Räumen.”

Asgaý von Spagor schichtete das Holz auf, das er zuvor zusammengeklaubt hatte, im Wesentlichen die Trümmer jenes Stückes der Treppe, das ihn nun von seiner Tochter trennte. Allein die Gewissheit, dass das Mädchen sich in der Obhut seines besten Ritters befand, der es sicher und sacht den Turm hinaufgetragen hatte, beruhigte den teirand ein kleines bisschen. Waýreth Althopian würde um sein eigenes Leben nicht zulassen, dass dem Kind ein Leid geschah. Und was sollte dort oben vor einer geschlossenen Tür passieren?

Láas half mit Eifer dabei, Brennbares zu finden, während Jándris yarl Emberbey zur Hand ging. Der alte Ritter hatte nicht lange darüber nachdenken müssen, wie sie mit dem, was sie im Keller an Material gefunden hatten, etwas Brauchbares improvisieren konnten. Aus bei längst vergangene Turnieren verbeulten und gerissenen Brustplatten und rostigen Ketten hatten die Männer und ihre Söhne eine geschlossene Feuerstelle zusammengefügt, wie einen kleinen Ofen, den sie jetzt mit dem trockenen, morschen Holz befüllten. Ein Jammer, dass weder im Keller noch in den kühlen Vorratskammern Kohle lagerte. Dafür war Jándris auf die schlaue Idee gekommen, einen Krug Speiseöl herbeizubringen, der ihnen beim Anfeuern nützen würde. Der Junge, so dachte Asgaý von Spagor sich zerstreut, war nicht nur beredsam und schlagfertig, sondern ebenso flink bei den Plänen, die er ausheckte. Das erklärte einen Großteil des oft nicht nachzuweisenden Unfugs, der zuweilen auf der Burg geschah und würde dem künftigen jungen Ritter später von Nutzen sein.

Andriér Altabete packte zu und riss mit zornverstärkter Kraft aus dem alten Helm, den er im Gerümpel gefunden hatte, heraus was Zeit und Verfall von der Polsterung übrig gelassen hatten. Von den aufgemalten Farben, die den Kopfschutz einst geziert hatte, war nicht mehr genug übrig, um zu erkennen, wer damit ein Spiel oder eine Schlacht bestritten hatte. Der Ritter warf die mürben Reste beiseite, fegte Krümel und Fetzen aus und klemmte den metallenen Rest umgedreht in die Öffnung zwischen den zerbeulten Metallkürassen.

„Wird das halten?”, fragte Kíaná von Wijdlant und kam zögernd näher.

„Es muss, Majestät. Etwas Besseres haben wir gerade nicht.”

„Diese Axt”, sagte Alsgör Emberbey und präsentierte ihr die Waffe mit ihrer schartigen Klinge, „ist die tauglichste, die noch zu entdecken war. Es ist anzunehmen, dass Herr Waýreth oben das bessere Werkzeug hat.”

„Es muss reichen. Macht das Feuer an.”

Jándris trat heran und schüttete sorgfältig kostbares Öl über das alte Holz. Daap Grootplen tunkte einen Fetzen Stoff in den Rest im Krug und ließ es von Altabete entzünden und anfachen. Kurz darauf loderte ein kleines, festes Feuer zwischen den alten Brustpanzern und warf zuckendes Licht auf die Wände.

Die teiranda seufzte. Dann nahm sie ihre Krone ab und legte sie achtsam in den Helm hinein. Asgaý von Spagor zögerte und tat es dann mit seiner eigenen Krone nach.

„Und all die schönen Funkelsteine?”, fragte Tíjnje. Sie hatte das Treiben der Erwachsenen still aus der Entfernung verfolgt und war tief beeindruckt davon, dass die guten teiranday sich von ihrem schönsten und wertvollsten Besitz trennten.

„Den Steinen wird schon nichts geschehen”, tröstete Láas. „Sie wollen sie ja nicht sieden wie Gemüse in einer Suppe.”

„Mit etwas Glück”, sagte Asgaý von Spagor mit Blick in den zum Topf zweckentfremdeten Helm, „bleiben die Steine heil. Sobald das Gold weich und flüssig ist, tragen wir es auf die Axt auf.”

„Was für ein Wahnsinn”, zürnte Altabete. „Was für ein Unglück, dass durch diese verfluchte dunkle Magie das hier geschehen konnte.”

„Das”, unterbrach der teirand ihn, „wird zu klären sein, sobald wir hier heraußen sind und Meister Yalomiro uns Rede und Antwort steht. Ich glaube nach wie vor nicht, dass all das vorsätzlich sein Werk war.”

„Welchen Unterschied macht es? Es hat Euch gezwungen, Eure Krone zu opfern!”

„Nun”, entgegnete Asgaý von Spagor ernst, „ich vertraue auf meine yarlay und die meiner hýardora, dass das unter uns bleibt. Wenn wir hier heraus kommen, dann wird der Vertrauenswürdigste von Euch sich auf den Weg nach Aurópéa machen, um Kopien unserer Kronen fertigen zu lassen. Bis dahin werden wir uns wohl behelfen können!”

Sie lauschten auf das Knistern der Flammen. Nach und nach zerflossen die herrschaftlichen Insignien der teirandon Wijdlant und Spagor zu einem glänzenden See.

Jándris entfernte sich, um aus den Vorratsräumen mehr Öl zu holen und kehrte mit einer langen Gabel zurück, mit der sich Dinge aus tiefen Krügen entnehmen ließen.

„Vielleicht können wir damit die Steine herausfischen”, sagte er auf die fragenden Blicke. Und leise fügte er hinzu: „Dann ist Tíjnje abgelenkt und beruhigt.”

„Versuch es, Junge”, nickte Asgaý von Spagor ihm zu, berührt darüber, dass Jándris so umsichtig an das Kind dachte. „Aber verbrenn dir nicht die Finger.”

„Es ist so still oben”, sagte Láas und blickte in die düstere Höhe des Turmes. „Man hört Herrn Waýreth gar nicht mehr hämmern und klopfen.”

„Sicher hat er genug damit zu tun, die Kinder zu beruhigen. Vielleicht redet er ihnen gut zu. Viel ausrichten konnte er dort oben ohnehin nicht.”

„Euer Sohn”, sagte die teiranda und blickte zu dem alten Ritter hinüber, „ist ebenfalls dort oben. Macht ihr Euch denn keine Gedanken um ihn?”

„Ich habe Wert darauf gelegt, dass Osse sich um sich selbst kümmert”, sagte Alsgör Emberbey knapp. „Er wird Althopian nicht im Weg stehen und der teirandanja gegenüber brav Abstand halten.”

„Wie könnt Ihr so hartherzig sein, Herr Alsgör?”, fragte sie leise. „Euer Erstgeborener ist in ebensolcher Gefahr und schlimmer Lage wie unsere Tochter. Und in meinem Herzen ist blanker Aufruhr.”

Alsgör Emberbey antwortete ihr mit einem undurchschaubaren Blick, ein wenig verärgert, ein wenig verletzt und größtenteils ohne erkennbare Gefühlsregung. Dann wandte er sich ab und ging dorthin, wo noch mehr Treppentrümmer lagen, um davon aufzusammeln.

„Lass ihn”, flüsterte Asgaý von Spagor seiner hýardora zu. „Er hat mehr Gefühl für den Jungen übrig, als er jemals zugeben wird. Die Mächte haben es ihm nicht leicht gemacht in seinem Leben.”

„Ist das eine Entschuldigung?”

„Nein. Eine Erklärung.”

„Schau, Tíjnje”, hörten sie Jándris. „Den hier haben wir schon einmal gerettet. Passt du darauf auf? Gib acht, er ist heiß!”

Das kleine Mädchen lachte erfreut und trippelte an den Jungen heran, hielt ihr Schürzchen auf und fing den roten Rubin auf. Láas, der mit seinem Vater das Feuer bewachte, warf seinem Freund eine anerkennende Geste zu.

„Danken wir den Mächten, dass die Kinder das hier als Spiel sehen”, wisperte der teirand. „Was hätte Emberbey wohl darum gegeben, wenn sein Sohn …”

Asgaý von Spagor verstummte. Kíaná von Wijdlant folgte seinem Blick. Emberbey stand unterhalb der Treppentrümmer, blickte nach oben und hielt dabei eine Hand vor sich ausgestreckt. Andriér Altabete bemerkte das auch und ging zu ihm hinüber. Auch er schaute irritiert nach oben.

„Láas, Jándris, Tíjnje”, sagte der teirand. „Ihr hütet das Feuer. Grootplen, kommt eben mal mit mir.”

Kíaná von Wijdlant wollte sich anschließen, aber er bedeutete ihr, zu warten und ging dann selbst nachschauen. Grootplen bemerkte es, sobald er näher kam. Er fluchte und zog sich seine Kapuze über, um seine Glatze zu schützen.

„Waýreth!”, rief Andriér Altabete nach oben. „Was ist da oben los? Wo kommt der Sand her?”

„Sand?”

„Schaut”, sagte Emberbey und präsentierte den anderen den Sandhaufen, der sich in seiner Handfläche angesammelt hatte, innerhalb der wenigen Augenblicke, die er dort gestanden hatte. „Es regnet Sand. Ganz feinen Sand.”

„Was bei den Mächten soll das?”

„Beunruhigt Euch nicht, Majestät. Vielleicht fegen die Kinder den Schutt beiseite, den Althopian von der Decke schlägt.”

„Nein. Das ist kein Schuttstaub! So pulvrig und warm. Feiner als der Seesand am Meer. “

Die Männer wandten sich der Frau und den drei Kindern zu, die um den Ofen standen und fragend zu ihnen hinüberschauten.

„Ganz schön staubig, hier drüben”, scherzte Asgaý von Spagor und warf hilfeheischende Blicke hinüber.

„Althopian!”, rief nun auch Emberbey. „Was passiert da oben?”

Keine Antwort. Mehr noch: Emberbeys eigene Stimme, deren Schall sich eigentlich in dem leeren Turm hätte hallend emporschwingen müssen, kam nicht weit. Sie wurde nicht voller und lauter, klang dumpf, als stünde er mitten in einer niedrigen Holzhütte. Offenbar war die Verbindung zu dem Mann und den Kindern oben im Turm nicht allein durch die Treppe gekappt.

Und dann ließ ein weiteres Beben den Turm schwanken, und eine große Ladung Sand prasselte auf die Männer nieder, als schütte sie jemand von oben mit einem Eimer herab. Der Turm ächzte und knirschte, und der Sandregen weitete sich aus, auf die anderen zu, als zöge eine Wolke über sie hinweg, aus der Hagel niederregnete.

Geistesgegenwärtig stürzten die Ritter heran. Wer einen Umhang oder einen Mantel trug, beeilte sich, die Kinder darunter abzuschirmen. Kíaná von Wijdlant neigte sich geistesgegenwärtig über die aus dem Helm aufsteigende Hitze, bevor allzu viel Sand hineinfallen und das Gold verderben konnte. Tíjnje quietschte erschrocken auf und klammerte sich an ihrem jungen Onkel fest. Dann war es vorbei, ebenso schnell, wie es geschehen war. Der Sandregen wurde sachter. Und stetiger. Es prasselte nicht mehr mit Wucht. Es rieselte. Asgaý von Spagor schützte seine Augen mit der Hand und schaute hinauf.

„Der Sand”, sagte er dann, so ruhig wie er es fertigbrachte, „scheint mir durch die Bodenbretter dort oben zu rinnen, wie durch ein Sieb hindurch.”

„Wie soll denn so viel Sand in das Turmgemach gekommen sein?”, fragte Altabete. „Das ist doch lächerlich!”

„Ich kann nicht mehr sagen, als ich sehe.”

„Bei den Mächten”, wisperte die teiranda, die Haut gerötet von dem Hitzeschwall. Emberbey reichte ihr das eine Ende seines noch vom Regen nassen Mantels, sodass sie sich kühlen konnte. „Die Kinder!”

„Lauft, Jungs”, forderte Grootplen. „In den Keller. Bringt irgendwas Großes mit. Reiterschilde, wenn ihr welche findet. Dem Feuer darf nichts passieren.”

„Und du, Kíaná, nimm Tíjnje. Geht in die Lagerräume und bleibt da, bis wir mit der Axt und der Tür fertig sind.”

„Aber …”

Er ließ die Ritter stehen und nahm die Frau beiseite, während Altabete mit Emberbey den Mantel als Schutzdach hielt. „Wenn uns hier der Turm einbricht und alles unter dem Sand verschüttet”, wisperte er, „dann habt ihr da drinnen Nahrung und Zeit. Selbst wenn uns noch niemand vermisst, wird es doch wohl Aufsehen erregen, wenn auf einmal Sand aus allen Ritzen quillt und den Hof erreicht.”

„Ja”, wisperte sie unwillig zurück. „Wir sind da sicher, bis der Sand den Boden eindrückt und das Verlies und den Keller flutet. In der Falle sind wir da.”

„Soweit wird es nicht kommen! Das Gold ist fast flüssig. Wir tunken die Axt hinein, und dann …”

Ein weiterer Sandschwall wogte herab. Welch ein Glück, dass sie den Ofen gebaut hatten, anstatt eine offene Feuerstelle zu versuchen. Obwohl …

„Wir tun genau das Richtige”, sagte sie entschlossen. „Was immer uns da mit Sand bewirft, es versucht jetzt, das Feuer zu löschen. Gebt mir auch einen Schild. Ich will mithelfen, die Flammen zu schützen und die Axt zu vergolden.”

„Aber …”

„Warum sollte … es versuchen, es zu vereiteln, wenn es ohnehin müßig wäre?”

Das klang überzeugend. Er nickte und trat einen Schritt beiseite, nur um festzustellen, das Tíjnje eingeschüchtert ganz dicht hinter seiner hýardora gestanden und alles mitgehört hatte.

„Ich bleib auch hier”, sagte die yarlandora, leise vor Angst, aber fest im Willen. „Ich muss doch auf die Steine aufpassen, damit Ihr die schönen Kronen wieder zurückbekommt.”

„Tíjnje …”

„Das Gold ist doch egal”, beharrte die Kleine. „Das kann man ersetzen. Aber die Steine, die gibt es nur einmal. Die müssen zurück in die Kronen, damit alles wieder gut wird. Ich darf nichts mit Feuer oder scharfen Dingen machen, sonst schimpft Mama mit mir. Aber Steine kann ich hüten. Ich will mitmachen.”

Die teiranday wechselten stumme Blicke miteinander. Dann nickte die teiranda und griff nach der Gabel, die Jándris zurückgelassen hatte, als er zurück ins Verlies geeilt war. „Komm, Tijnje. Das ist eine Aufgabe für uns beide. Ich habe schon so lange nicht mehr an einem Kochtopf gestanden.”

***

Saháalír klopfte an die Wand der Sänfte, das Zeichen für den Begleiter, der die Maultiere führten, stehen zu bleiben und abzuwarten.

„Warum halten wir?”, fragte die sinora.

„Waren die zwei Reiter, die uns gerade entgegenkamen, nicht die beiden Knechte von Úldaise?”

Sie reckte den Kopf und stemmte sich etwas nach oben, soweit sie es mit ihren schmerzenden Knochen konnte, und schob den Schleier beiseite, der unter der so seltsam drückend gewordenen Hitze etwas Schatten spendete.

„Möglich”, sagte sie. „Ich habe die beiden noch nie beritten gesehen.”

„Umkehren”, wies der alte sinor die Begleiter an. „Ich will mit den beiden da sprechen. Du, sei so gut und reite voran, halt sie auf!”

Der junge maedlor, ein Diener des konsej, den sie draußen vor dem Palast angetroffen und der offenbar gerade nichts zu tun gehabt hatte, wendete sein eigenes Pferd und trabte den beiden Männern nach, die es zügig nach Aurópéa zu ziehen schien. Der junge Mann hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich besseres vorstellen konnte, als die beiden sinoray auf eine Landpartie zu begleiten, insbesondere angesichts des aufziehenden Wetters im Norden. Die Aussicht, dass sie es sich anders überlegt haben könnten und nun wieder auf halber Strecke zurückkehren wollten, schien ihn zu beflügeln.

„Selbst wenn sie es sind”, fragte die sinora, „was willst du mit ihnen, Saháalír?”

„Ich will wissen, wo sie herkommen. Und wann und wo sie ihren Herren zuletzt gesehen haben.”

Der maedlor hatte der beiden Männer eingeholt und diskutierte noch mit ihnen, als der wortkarge Sänftenbegleiter die beiden sinoray herangeführt hatte. Es handelte sich tatsächlich um die beiden groben Burschen, deren Hilfe sich Úldaise bediente, wenn es Sachen zu tun galt, die ihm selbst nicht mehr möglich waren. Die zwei Männer wirkten merkwürdig verstört, besannen sich aber der Sitte, als sie den Stadtältesten sahen und stiegen von ihren Pferden ab. Es gehörte sich nicht, von Mitgliedern des konsej erhöht zu sitzen.

„Seid gegrüßt”, begann der alte Mann freundlich das Gespräch. „Dachte ich mir doch, dass ich euch brave Kerle erkannt habe. Was treibt ihr denn so eilig hier auf der Straße?”

„Na ja”, sagte der eine und knetete nervös seine Kappe in den Händen. „Die Pferde wollen wir schnell zurückbringen, bevor es zu teuer wird.”

„Genau”, versuchte der andere, das Gespräch abzulenken. „Sollte der konsej mal einen Blick drauf werfen, auf die Wucherpreise von den Mietställen.”

„Verehrteste”, wandte Saháalír sich an die Dame und zwinkerte, als sei ihm Sand ins Auge geraten. „Notierst du dir das bitte für die morgige Versammlung? Du weißt, mein Gedächtnis …”

„Sicher”, ging sie darauf ein, zückte ihre in Horn gefasste Wachstafel und malte mit wichtiger Miene und einem Goldgriffel ein Häuschen mit einem Baum daneben.

„Außerdem”, fügte der Knecht hinzu, „seht mal, was sich da zusammenbraut! Will nicht hier draußen sein, wenn die Wüste wegschwemmt.”

Saháalír schaute zum Himmel auf. Tatsächlich hatten sich die Wolken zwischenzeitlich so zusammengeballt, dass sie das Licht von Pataghíus Glanz merkwürdig dämpften. Seltsam sah das aus, so als zögen sich die Wolkenschleier, die es vom Norden über den Montazíel geschafft hatten und eigentlich verdunsten hätten müssen, je wärmer es wurde, Welle um Welle zusammen und türmten sich auf, als hielte ein unsichtbares Hindernis sie auf. Wie ein Staudamm, kam es dem alten Mann in den Sinn.

„Das ist wohl wahr”, sagte er. „Habt ihr Euren Herrn zum Cielástel begleitet? Wie ich hörte, hat er heute die große Ehre, vor den Magiern zu sprechen.”

„Nee.” Der, der etwas einfältiger zu sein schien, schüttelte den Kopf. „Haben nur ‘nen Botengang gemacht. Beim Cielástel isser nicht, der sinor.”

„Woher wisst ihr das?”

„Na ja, wir hätten ihm unterwegs begegnen müssen. Da kommen wir doch gerade her.”

„Ach?”

Der Schlauere rempelte seinen Kameraden ärgerlich und vermeintlich unauffällig an.

„Botengang?”, fragte die sinora. „Daher das Maultier mit den Körben. Darf man fragen, was darinnen ist?”

„Nichts”, behauptete der Schlauere und wurde knallrot im Gesicht.

„Schau nach”, gebot Saháalír dem maedlor. Die Befugnis dazu hatte er, und da die beiden zwar entsetzt dreinschauten, aber nicht einen Deut machten, es zu vereiteln, entsprach es wohl der Wahrheit. Der maedlor schaute hinein und zuckte die Schultern.

„Dann habt ihr etwas zum Cielástel hingebracht?”

„Nein, wir …”

„Etwas abgeholt?”

„Äh … ja. Abgeholt und abgeliefert. Wir haben unseren Auftrag gut erledigt. Und jetzt … jetzt haben wir für heute frei. Nicht wahr?”

Der andere nickte eifrig. „Ja, wir haben alles erledigt, und jetzt müssen wir ganz schnell in die Stadt, bevor der Sturm losbricht.”

„Oder bevor Úldaise euch noch einmal aufhält und etwas anderes aufträgt, nicht wahr?”, fragte Saháalír leutselig.

„Ja. Ganz genau.”

„Nicht, dass ich neugierig wäre. Aber was könntet ihr bei den Regenbogenrittern, die ihre Geschäfte nicht mit Menschen teilen, abgeholt und auf halbem Rückweg abgeliefert haben?”

„Das ist ein Geheimnis”, wehrte der eine in seiner Not ab. Dazu, sich listig herauszureden, reichte seine Phantasie nicht aus.

„Ich bin der oberste sinor. Vor mir darf es keine Geheimnisse geben, und wer doch welche hat, der macht sich verdächtig.” Saháalír setzte eine gestrenge Miene auf, was die beiden zu beeindrucken schien. Die sinora verbarg ihr Gesicht hinter dem Schleier ihres Kopfputzes, denn sie hatte Mühe, ihr Kichern zu unterdrücken.

„Also, was planen die Regenbogenritter mit Úldaise gegen die Stadt?”, donnerte Saháalír, so unerwartet, dass die beiden armen Kerle zusammenzuckten und sogar der maedlor erstaunte Augen machte. So gebieterisch kannte niemand den alten gebrechlichen Mann!

„Wir … die Regenbogenritter haben gar nix damit zu schaffen”, rief der Dümmere in Angst. Da … für die Alte haben wir was weggebracht!”

„Welche Alte?”

„Na, für das Liebchen von Úldaise”, rutschte es dem einen heraus.

„Wie bitte?”

„Oder für seine Schwester oder so was! Da ist eine alte Frau bei den Buntkerlen, und die hatte … also, für die haben wir was weggeschafft.”

„So? Noch mehr Bücher, wie neulich?”

„Nein. Die Bücher, die waren doch ganz woanders.”

„Ja, die hatte doch jemand an der Straße zu den Gärten abgestellt. Fein verpackt in Körbe und Kisten.”

„Wie? Die habt ihr nicht aus Úldaises rattenverseuchtem Mietshauskeller geholt?”

„Was für’n Mietshauskeller?”

„Ihr zwei”, mischte sich die sinora beiläufig ein, „das ist auch so eine Sache, die ich mich immer gefragt habe, all die Zeit. Wo wohnt Úldaise eigentlich, wenn er in der Stadt ist? Er hat das immer so vage gelassen, dass wir annahmen, es sei ein Geheimnis.”

Nun waren die beiden ganz offenkundig verblüfft. Fragend glotzten sie einander an.

Sinora“, sagte der schlauere schließlich, „das ist echt eine verdammt schlaue Frage.”

Sie hob erstaunt die Brauen. Saháalír stutzte. „Wo wohnt ihr beiden?”

„Naja. Wo immer ein Zimmer frei ist. Wir brauchen ja nur eines zum Schlafen, wenn wir nichts zu tun haben.”

„Dann verstehe ich das richtig? Ihr seid gar nicht Úldaises Gesinde?”

„Nein Herr. Wir sind freie Tagediener.”

„Eigentlich sind wir seine persönlichen Tagediener”, dachte der andere laut nach. „Ich hab seit ein paar Sommern gar nicht mehr für wen anderen gearbeitet.”

„Es ist sehr interessant, was man so über die engsten Rangesgleichen erfährt, wenn man einander zufällig auf der Straße begegnet”, sagte Saháalír. „Da scheint unser guter Úldaise uns die ganze Zeit etwas vorgetäuscht zu haben. Wer hätte gedacht, dass er obdachlos ist, ein Fahrender.”

„Herr”, meldete sich der Einfältige eifrig, „vielleicht wohnt er ja im Cielástel bei der alten Frau. Wäre doch möglich, nicht wahr?”

Der sinor dachte kurz darüber nach. Dann nickte er den beiden zu. „Das”, sagte er, „finden wir heraus. Genießt eure freie Zeit, ihr beiden.”

Sie schauten ihm verblüfft an, verneigten sich dann übertrieben tief und ehrerbietig und kletterten in Windeseile wieder in die Sättel.

„Ich frage mich nur”, fügte Saháalír nachdenklich hinzu, „was ihr denn nun aus dem Cielástel wohin gebracht habt und wo es jetzt ist. Wenn ihr mir das jetzt sagt, werde ich mir keine Mühe machen, euch in euren Herbergen aufspüren zu lassen. Ich bin mir sicher, dass jeder Gastwirt in Aurópéa mich zu euch führen kann. Sicher seid ihr stadtbekannt.”

Die beiden hätten ihre Pferde antreiben und das Maultier einfach zurücklassen können. Aber … sie taten es nicht. Stattdessen schienen sie einen Moment ernsthaft nachzudenken.

„Wir haben ein kleines Mädchen, äh … begleitet. In den Garten des sinor.”

„Oh!”, machte die sinora. „Was für ein Kind? Was soll das arme Ding denn in dem abgebrannten Garten?”

„Was hat Úldaise mit einem Kind zu tun?”, fragte der sinor ebenso aufgebracht wie verwirrt. „Ihr habt ein Kind allein auf dem verbrannten Hügel zurückgelassen?” Er wandte sich an den maedlor und befahl: „Schnell. Reite hin und such das Kind! Unverantwortlich! Bring sie in die Stadt, bevor der Regensturm kommt!”

„Zu spät, Herr!”, warf der Schlauere ein. „Ist schon nicht mehr da, das Kind.”

„Wie bitte?”

„Na, er hat sie doch abgeholt”, sagte der Knecht, und sein Gesicht erhellte sich dabei, als sei ihm eine unfassbar kluge Idee gekommen.

„Wer? Úldaise?”

„Nein! Das Rotzbal… der Junge. Der Sohn des Anführers der Buntkerle! Der uns mit dem Kuchen vergiften wollte, der Bengel.”

„Mit ‘nem Einhorn”, setzte der andere, zum sichtbaren Unmut seines Begleiters hinzu. „Ab in die Wüste sind die beiden. Wollten zur Richtstätte. Keine Ahnung, warum.”

„Die Richtstätte”, wisperte die sinora erschrocken „Der báchorkor!”

Saháalír sank in seinem Sitz zusammen. Das war zu viel Information auf einmal für seinen alten Verstand.

„Geht”, sagte er finster. „Geht. Und fleht zu den Mächten, dass Úldaise für all das eine wirklich gute Erklärung hat.”