„Ist er das?” Eine leise Stimme, die flüsterte, obwohl es keinen Grund dazu gab. „Ist das der Mann, von dem du geredet hast?”

„Ich weiß nicht.” Eine andere Stimme raunte zurück. Ein zweites Kind, das sich in seinen fast erloschenen Gedanken manifestierte. „Ich habe ihn ja nicht gesehen!”

„Sind wir denn am richtigen Ort?”

„Ganz bestimmt. Hier müssen sie ihn hingebracht haben. Sonst ist hier kein Mensch mehr weit und breit.”

„Nein”, sagte die erste Kinderstimme nachdenklich. „Keine Menschen. Nur wir. Und er. Er sieht traurig aus, findest du nicht?”

„Vielleicht hat er die ganze Zeit gewartet, dass ihn jemand rettet und war enttäuscht, weil keiner kam.”

Galéon versuchte, die Augen zu öffnen. Das war nicht leicht, denn sie waren von Tränen, Schweiß und Staub verkrustet. Es brachte ohnehin nicht viel, denn sein Blick war verschwommen und trübe. Ja, da war jemand zu ihm gekommen. Zwei Kinder, eines in Schwarz und eines in Weiß. Kinder und ein riesiges, zartbuntes, geflügeltes Tier, auf dessen Rücken sie saßen, waren gegenüber am Rand der Senke erschienen.

Der báchorkor war zu schwach und teilnahmslos, um länger hinzuschauen. Die sengende Sonne und die drückende Hitze hatten ihre Wirkung getan, nachdem die Chaosgeister wieder unter dem Sand verschwunden waren. Es fühlte sich an, als sei zwischenzeitlich ein Großteil seines Gehirns verdunstet und der Rest habe sich verklumpt, so träge war sein Geist.

„Wir müssen ihn einfach fragen”, sagte das eine Kind, ein kleines Mädchen wahrscheinlich.

„Und wenn er wirklich tot ist?”

„Na, dann wird er uns nicht antworten”, gab das Mädchen ernsthaft zurück.

Das hätte Galéon fast zum Lachen gebracht, aber selbst dazu fehlte ihm die Kraft. Er horchte. Das große Tier näherte sich, sein Schatten legte sich angenehm kühlend und lindernd über Galéons heißes Gesicht.

„Schau mal”, sagte der Junge erstaunt. „Die haben ihn mit den Zügeln von Sonnenstrahl festgebunden. Ich erkenne die Verzierungen.”

„Wer ist Sonnenstrahl?”

„Das Einhorn von meiner Mama. Wo haben die Knechte denn die Zügel hergenommen?”

Ja, dachte Galéon, das hatte ich mich auch gefragt. Und dann, mit etwas Verspätung: Deiner Mutter?

Er nahm alle Kraft zusammen und hob den Kopf. Nun waren die beiden so dicht bei ihm, dass er sie, wenn auch immer noch eingetrübt und verschwommen, genauer erkennen konnte. Der Junge, der gesprochen hatte, kletterte vom Rücken des seifenblasenschillernden, ungesattelten Einhorns herab, ließ einen großen Beutel fallen und wollte dann dem Mädchen helfen, es ihm gleichzutun, indem er es zu stützen versuchte. Das misslang jedoch, und sie purzelte in den Sand hinab und stieß ihn dabei um.

„Heiß!”, beschwerte die Kleine sich ungerührt. Sie war zierlich, barfuß und trug ein schwarzes Kleid, schwarz wie ihre langen Haare. Niemand in Aurópéa, der bei Verstand gewesen wäre, hätte sich unter Pataghíus Glanz in dieser Farbe gekleidet, geschweigedenn Kinderkleidung aus schwarzem Tuch gefertigt. Wo kam die Kleine her?

Der Junge stand eilig auf und klopfte den Sand von seinem Hemd. Er war etwa so alt wie seine Begleiterin und wesentlich tauglicher angezogen, mit luftiger Kleidung aus schimmerndem, bunt besticktem Stoff. Sein langes Haar war goldblond.

„He!”, stellte er erfreut fest, indem er sich näherte. „Er bewegt sich! Er lebt noch!”

Galéon lächelte milde. Was für hübsche Wahnbilder sein Verstand ihm vorgaukelte. Die Chaosgeister hatten ihn also verschont. Nun kamen Kinder zu ihm, dunkel und hell. Er hatte schon lange nicht für Kinder erzählt, obwohl er das so gern tat.

„Los”, drängte das Mädchen aufgeregt und trippelte über den heißen Sand hinter ihm her. „Frag ihn doch!”

Der Knabe stand nun dicht vor ihm und schaute mit Augen zu ihm auf, die blau waren wie der klare Himmel über der Wüste. Galéon blickte hinein und verlor sich verträumt in der herrlichen Weite und Reinheit.

„He”, fragte der Knabe. „Kannst du mich hören? Geht es dir gut?”

„Bestimmt tut ihm etwas weh”, sagte das Mädchen mitfühlend. Zu dem Himmelsblau gesellte sich intensives Blättergrün, das sich in ihren Augen zu spiegeln schien wie in einer Pfütze unter Bäumen. Sie tippte ihn zaghaft, aber furchtlos in die Seite.

„Bist du der báchorkor, den die Diener von sinor Úldaise bei dem brennenden Garten geschnappt haben?”

Er schreckte auf undversuchte, zu antworten, aber er brachte nur ein Flüstern hervor. Die Kinder wechselten Blicke miteinander.

„Ich glaube, es geht ihm wirklich nicht gut”, meinte der Junge enttäuscht.

„Können wir ihn nicht losmachen?”, fragte das Mädchen. „Es muss doch ganz unbequem sein, da so festgebunden zu sein.”

„Ja. Natürlich. Farbenspiel, kannst du die Fesseln zerreißen?”

Das Einhorn fühlte sich angesprochen. Es stellte die Ohren auf und schaute aufmerksam, tat aber nichts weiter. Sein kleiner Gebieter streichelte ihm seufzend die Schnauze.

„Versteht er dich nicht?”, fragte das Mädchen.

„Doch”, behauptete der Junge selbstsicher. „Die Einhörner sind viel klüger als Hunde. Er versteht jedes Wort!”

„Und warum macht er es nicht?”

„Wahrscheinlich ist er schon zu gut erzogen, um einen Zaum zu zerreißen. Das Lederzeug ist dazu gemacht, dass wir sie lenken und ihnen gebieten können, weißt du? Das weiß er.”

Das Mädchen ging nachdenklich um den linken Pfosten herum. „Aufknoten geht auch nicht. Das ist viel zu stramm zugezogen. Hast du was zum Schneiden?”

„Natürlich.” Der Junge holte ein kleines goldenes Messer aus einer Scheide hervor, das er am Gürtel trug. „Mein Vater sagt, wenn ich einmal auf Abenteuer ausgehe, dürfe ich alles andere vergessen, aber ohne Messer …”

„Darf ich? Bitte, lass mich das machen”, bettelte das Mädchen aufgeregt. „Ich steig auf deinen Rücken wie auf ein Treppchen und mache ihn los, ja?”

Der Junge wirkte so verblüfft und überrumpelt, dass er dem Mädchen sein Messerchen gehorsam aushändigte.

„Danke! Weißt du, meine Mama lässt mich kein Messer alleine anfassen.”

„Warum denn nicht?”

„Das sei zu gefährlich für Kinder, sagt sie. Komm, hilf mir rauf! Ich mach dich los”, fügte sie begeistert an Galéon gerichtet hinzu. „Gleich bist du frei!”

Galéon nickte verwirrt. Was geschah hier? Waren die beiden ein Trugbild, das mit den Chaosgeistern aus dem Sand hochgeschwemmt worden war, um ihn zu narren?

„Pass nur auf, dass du ihm nicht in die Hand schneidest”, mahnte der Junge und ließ sich auf alle Viere nieder. Das Mädchen kletterte auf ihn wie auf einen Schemel, schwankte einen Moment und begann, den dünnen Ledergurt anzuritzen. Das war wohl schwieriger, als sie erwartet hatte, aber sie war so eifrig dabei, dass sie kaum bemerkte, dass sie prompt seine Haut streifte.

Der kleine Schmerz jedoch riss Galéon endgültig aus seinem Dämmerzustand. Sein Blick klarte auf und nun erkannte er, dass all das hier wirklich war. Die Mächte hatten Kinder gesandt, um ihn zu befreien.

Bei den Mächten, die Kinder! Sie und das Einhorn standen genau dort, wo der Sand die minderen Chaosgeister zu sich gezogen und die anderen Verurteilten spurlos hatte verschwinden lassen. Und der Himmel … im Norden war der Himmel nicht mehr so blau wie die Augen des Jungen. Dort hatte sich ein Dunst gebildet, eine seltsam milchige Wolkenbank. Näherte sich ein Unwetter? Nein. Nein, so sah kein gewöhnlicher Regensturm aus.

„Wir binden dich los”, erklärte der Junge sachlich. „Und dann musst du ganz schnell mit uns in den Cielástel kommen! Du musst unbedingt mit meinen Eltern reden, bevor dieser schreckliche Úldaise zu Besuch kommt. Weißt du, da ist diese Höhle, und …”

„Ich weiß”, krächzte Galéon. Sein Hals war trocken, seine Zunge klebte ihm im Mund, kaum dass er seine eigene Stimme erkannte. „Ich … wurde aufgehalten.”

„Was meinst du?”

„ … war auf dem Weg zu euch”, brachte Galéon hervor.

„Zu uns?”

„Wer bist du, Kind?”, ächzte Galéon, und sog zischend Luft ein, als die kleine Goldklinge ihm erneut ins Fleisch fuhr. Das Mädchen war tatsächlich nicht sonderlich geschickt mit einer Messerklinge, dafür umso emsiger am Werk.

„Ich bin Advon Irísolor. Die fajía und der Großmeister sind meine Eltern.”

„Oh”, machte Galéon überrascht. Pataghíu selbst hatte dann wohl einen Gesandten geschickt.

„Und ich bin Dýamirée Lagoscyre”, plauderte das Mädchen, das nun endlich den Riemen bis auf einen winzigen Streifen zerteilt hatte. Galéon ruckte halbherzig daran, und die Handfessel gab nach. Die Erlösung kam so überraschend, dass der báchorkor ins Schwanken geriet. Sie hüpfte, zufrieden mit sich, von dem Rücken ihres Begleiters herab und eilte schon hinüber zur andern Seite. Der Junge erhob sich ächzend und folgte ihr gehorsam, um ihr auch dort als Stufe zu dienen.

Galéon starrte dem schwarz gekleideten Kind entgeistert nach. Eiskalt wurde ihm, so sehr erschauerte er.

Lagoscyre?”, fragte er rau.

„Ja. Ich finde, das ist ein sehr schöner Name, du nicht auch?”

„Bist du zufällig mit einem Mann verwandt, der Yalomiro heißt?”

„Ja”, gab sie bereitwillig Auskunft und säbelte dabei bedacht an dem zweiten Riemen herum. „Das ist mein Vater.” Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Ihre grünen Augen nahmen einen misstrauischen Ausdruck an. „Kennst du etwa meinen Vater?”

„Noch nicht”, murmelte Galéon, überwältigt von dem Wunder, das Noktáma ihm dort gerade zuteilwerden ließ. „Ich habe von ihm gehört.”

„Und wie heißt du?”, erkundigte Advon Irísolor sich gespannt.

„Galéon. Einfach nur Galéon.”

Der andere Riemen gab nach. Galéon verlor den Halt und schlug unsanft rücklinks nieder, denn seine Füße waren immer noch gebunden und unfähig, ihn zu stützen. Der Junge, der Sohn der Hellen Magier, ganz offensichtlich von Pataghíu gesandt, eilite zu seinem Gepäck und brachte einen gefüllten Trinkschlauch heran.

„Trink”, sagte er fürsorglich. „Aber nicht zu hastig, sonst verschluckst du dich. Du hast bestimmt ganz viel Durst, wenn du seit heute früh hier in der Sonne gestanden hast.”

„Ich mach derweil deine Füße frei”, setzte das Mädchen hilfreich hinzu, das sich von dem Messerchen wohl noch nicht trennen wollte.

Galéon nahm dankbar einen kleinen Schluck. Gern hätte er seinen Durst gestillt, aber zunächst galt es, die Stimme wiederzubeleben. Die Kinder schauten ihm zu, wie er bedächtig trank. Sogar das Einhorn kam neugierig näher.

„Die Mächte seien gepriesen”, sagte er dann und gab dem Jungen das Wasser zurück, „Pataghíu in seiner Gerechtigkeit, Noktáma in ihrer Gnade.”

„Bist du verletzt?” Beide musterten ihn besorgt und mit unverhohlener Neugier.

„Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Es fühlt sich an, als siede es in meinem Schädel. Aber gebt mir einen Moment. Es wird gleich besser.”

„Ich wäre schon viel früher hierher gekommen”, berichtete der Junge eifrig, Advon Irísolor, von dessen Existenz Galéon natürlich gewusst hatte, denn die arcaval’ay hatten damals aus ihrer Freude über seine Geburt kein Geheimnis gemacht. „Aber zuerst wurde ich aufgehalten, und dann haben die Knechte von sinor Úldaise Dýamirée entführt.”

„In die tiefe Höhle werfen wollten sie mich!”, empörte sich das Mädchen. „Dabei habe ich ihnen gar nichts getan! Und diesen garstigen alten Mann kenne ich überhaupt nicht. Nur die gemeine alte Frau.”

„Welche gemeine alte Frau?”, fragte Galéon verwirrt.

„Siledaú. Das ist meine opayra. Oder mestara. Oder was auch immer. Jedenfalls scheint sie mit dem sinor zusammenzuhalten.”

Galéon rieb sich die Schläfen. Schneidender Schmerz zog sich um sein Gehirn zusammen. Aber es kam langsam wieder Gefühl in seine Glieder. Die Schnitte an seiner Hand bluteten kaum, so zähflüssig war sein Blut wohl geworden.

„Ist es wahr, dass du den Garten von Úldaise angezündet hast?”, fragte Advon gespannt.

„Nein. Die beiden Knechte haben mich in der Nacht gejagt und waren unachtsam mit ihren Fackeln.”

„Aber was hast du denn in dem Garten gemacht?”

„Ich bin aus der Höhle geflohen.”

„Aus der, in die sie mich reinwerfen wollten?”, fragte das Mädchen gespannt.

„Es war nicht einfach, da wieder hinauszukommen”, antwortete Galéon.

Das Mädchen schaute ihn so erwartungsvoll und zutraulich an, dass es ihn geradezu trieb, nun augenblicklich eine Geschichte von diesem Abenteuer zu erzählen, spannend ausgeschmückt und schön verziert, ganz nach dem Geschmack von kindlichen Zuhörern. Aber dazu war nun wirklich keine Zeit, und sie hätten auch einen behaglichen Rahmen dafür gebraucht, einen sicheren Platz an einem prasselnden Kaminfeuer zum Beispiel, weit, weit weg von diesem Ort. Nun gab es Wichtigeres. Denn, bei allen Mächten, es konnte doch kein Zufall sein, dass ausgerechnet die Tochter desjenigen, die das Traumphantom ihn zu suchen geheißen hatte, hier und jetzt auftauchte.

„Bist du eine camat’ayra?”, fragte er, um sicher zu gehen.

„Nein. Aber meine Mama ist eine. Ich kann nicht zaubern.”

„Ich auch nicht”, gab der Junge ohne Not und so unbekümmert zu, als sei ihm das völlig gleich. „Pataghíu hat mir keine Magie gegeben.”

Das war … interessant und überaus beunruhigend. Galéon rappelte sich an einem der Pfähle auf und versuchte, wieder aus eigener Kraft zu stehen. Wenn die Chaosgeister zurückkehrten, waren die beiden also ebenso wehrlos wie Unkundige, mehr noch: Wie unkundige Kinder. Sie durften auf keinen Fall länger als nötig hier an diesem Ort bleiben! Die Wolken im Norden gefielen ihm ganz und gar nicht.

„Warum hat Úldaise dich in den Brunnen werfen lassen und dann behauptet, dass du den Garten niedergebrannt hast?”, wollte der Junge wissen.

„Ich weiß es nicht; zumindest nicht zur Gänze, Advon Irísolor”, gab Galéon jenen Teil der Wahrheit zu, den er glaubte, vor den Kindern verantworten zu können. „Ich denke, er befürchtete, dass ich etwas herausfinden würde, was niemand erfahren soll. Der Brandstiftung hat er mich bezichtigt, um mich dem Gesetz nach hinrichten lassen zu können, ohne dass jemand nach nebensächlicheren Dingen gefragt hätte.”

„Ha!” Der Junge war sichtlich stolz auf sich, aber offenbar nicht auf seine Heldentat, sondern seine Intuition. „Da hörst du es, Dýamirée! Genau so, wie ich es mir gedacht habe!”

„Dann ist das ein ganz, ganz böser alter Mann. Richtig böse!”

Galéon ließ sich vor den Kindern auf ein Knie nieder, denn es gab Wichtiges zu klären. „Aber wie konntest du von mir und meiner Not wissen, Advon Irísolor? Und wieso glaubst du mir, was ich dir gerade gesagt habe? Ich bin ein báchorkor und könnte dir alles Mögliche weismachen, wenn ich finstere Absichten hätte. Ihr habt gerade einen Verbrecher befreit.”

„Du bist aber nicht böse”, sagte das Mädchen gleichmütig. „Das würden wir doch spüren.”

Was für ein entzückendes Kompliment, und das an einem so furchtbaren Ort. Der Junge zuckte die Achseln.

„Ich hatte mir gleich gedacht, dass sie vielleicht versuchen, eine Schuld einem Unschuldigen zuzuschieben. Ich hab mir so lange Gedanken darüber gemacht, was mit den Leuten passiert, die in die Wüste gebracht werden.” Er zögerte und fragte: „Wo sind die anderen? Sind sie … hinter den Träumen?”

„Nein”, antwortete Galéon wahrheitsgemäß. „Man hat sie … anderswohin gebracht.”

„Das ist gut”, atmete der Junge auf. „Weißt du, die arcaval’ay überlegen, wo all die Skelette sind, die übrigbleiben müssten, wenn hier … also, wie all die Leute so spurlos verschwinden können.”

„So”, machte Galéon skeptisch. Dann waren die Regenbogenritter vielleicht doch nicht so gleichgültig, wie er befürchtet hatte, auch wenn durchaus mehr in ihrer Macht gestanden hätte. Schließlich verschleppten hier beinahe in Sichtweite des Heiligtums Chaosgeister lebendige Menschen.

„Hast du schon mal ein Gerippe gesehen, Galéon?”, forschte das Mädchen mit ebenso unschuldiger wie morbider Neugierde.

„Ja”, antwortete er und fügte in Gedanken hinzu: gestern.

Bevor sie noch auf unangenehme Nachfragen kommen konnte, wandte Galéon sich dem kleinen Mädchen zu. „Wie kommst du an diesen Ort, Dýamirée Lagoscyre? Bist du mit deinen Eltern nach Aurópéa gereist?”

„Nein. Meister Cýelú hat mich entführt.”

Seit wann entführten Regenbogenritter Kinder? Und noch dazu Schattensängerkinder?

„Die garstige alte Siledaú hat meinen Vater irgendwie dazu gebracht, Dýamirée aus ihrem Wald zu stehlen. Er hat das ganz gewiss nicht freiwillig gemacht”, brach es eilig aus dem Jungen heraus. „Mein Vater würde nie etwas Böses tun! Aber … weißt du, Siledaú sammelt alles, was mit Schattensängern zu tun hat. Wegen der Prophezeiung.”

„Ja”, stimmte Dýamirée zu. „Und mich hatte sie auch gesammelt. Und dann hat der alte Mann mich wegsammeln wollen.”

Nun konnte Galéon beiden nicht mehr folgen. Was er aus der wirren Rede verstand, war dass es das kleine Mädchen auf ungute Weise ans Südende des Weltenspiels verschlagen hatte, unfreiwillig und ungeplant. „Ist dein Vater denn in der Nähe, Dýamirée Lagoscyre?”

„Noch nicht. Aber bestimmt ganz bald. Meine Eltern werden schnell kommen, um mich zu befreien.” Und zu dem Jungen gewandt, setzte sie hinzu: „Keine Angst, Advon. Ich werde ihnen sagen, dass dein Vater gut ist und das alles nur gemacht hat, weil er Angst vor der dummen Alten hat. Mein Vater wird ganz bestimmt nicht schelten.”

„Mein Vater hat keine Angst! Mein Vater ist doch kein Feigling!”

„Nein, natürlich nicht. Aber Angst hat er doch.”

„Das ist … „

„He!” Galéon unterbrach das seltsame Pärchen, bevor sie sich zanken konnten. „Vielleicht ist das alles gar nicht schlimm. Vielleicht ist es sogar sehr gut. Ich verstehe es richtig, dass die alte mestara und der sinor miteinander in Verbindung stehen, Advon Irísolor?”

„Na ja. Sie müssen mindestens voneinander wissen. Sonst hätte der sinor ja nicht seine Diener geschickt, um Dýamirée abzuholen.”

„Aber wie konnte der sinor von dir wissen, Dýamirée Lagoscyre? Du bist ihm wirklich nie begegnet?”

„Nein, wann denn? Ich bin ja erst seit heute früh überhaupt hier! Aber Advon passt gut auf mich auf “, fügte sie vertrauensvoll hinzu. Der schaute verlegen beiseite, als sei es ihm vor dem Erwachsenen peinlich, dass das Mädchen ihn lobte.

Galéon dachte nach. Etwas in seinen Gedanken hatte sich rettungslos verworren, aber die Kopfschmerzen waren so stark, dass er es nicht wagte, sich fester zu konzentrieren. Advon Irísolor reichte ihm umsichtig noch einmal die Trinkflasche, die der báchorkor dankbar annahm. Das Einhorn entfernte sich wieder ein paar Schritte. Es bestand wohl nicht die Gefahr, dass es fortlaufen würde, denn der Junge ließ es gewähren.

„Wir müssen nun schnell weg von hier”, sagte der báchorkor dann. „Hier ist es nicht sicher.”

„Wir sollten uns ohnehin beeilen. Du musst unbedingt mit meinen Eltern reden, bevor der sinor auftaucht. Bist du so weit bei Kräften, dass du reiten kannst? Farbenspiel ist stark und du wiegst nicht zu viel, er trägt uns alle drei.”

„Es macht noch viel mehr Spaß, als auf einem Pferd zu reiten”, vertraute Dýamirée ihm an und steckte sich das Messer unter ihren Gürtel. Sicherlich wollte sie es dem Jungen nicht mausen, aber bestimmt so lange wie möglich behalten. Galéon war amüsiert über ihre kindliche Begeisterung. Dann brach eine neue Idee durch seinen benommenen Verstand. Das Schattensängerkind, auch wenn es unkundig und ohne Magie war, das gehörte nicht hierher. Wenn Úldaise oder die opayra des Knaben – oder alle beide zusammen – es entführt hatten, dann bestimmt nicht, um ein Kind zu rauben. Aber wie viele Geschichten hatte er in seinem Leben gehört und erzählt, in dem der eine dem anderen das Liebste raubte, um sich im Austausch zu bereichern? War das nicht in schlechteren Zeiten, an üblen Orten ein übliches Mittel der Macht?

Was, wenn Úldaise auf etwas aus war, das Yalomiro Lagoscyre gehörte oder bewachte? Was, wenn Yalomiro Lagoscyre, der, den er suchen sollte, gewillt war, es aufzugeben, um dieses entzückenden kleinen Mädchens willen? Würde nicht jeder Vater zumindest darüber nachdenken?

„Ist alles in Ordnung?”, fragte Advon Irísolor. „Warum schaust du so erschrocken?”

Galéon gab sich einen Ruck. Langsam tastete er nach der geheimen Tasche in seinem Gewand. Das Amulett, das er in der Höhle gefunden hatte, das war noch da. Er holte es hervor.

„Dýamirée Lagoscyre”, fragte er und zeigte es ihr vor, „ich frage mich, ob du dieses Zeichen nicht vielleicht kennst.”

„Oh, das ist aber hübsch!”, entzückte sie sich, nahm es an sich und betrachtete es. „Wo hast du das her?”

„Das vertraue ich dir an ich dir, wenn du mir sagen kannst, was das ist”, antwortete er listig.

„Könnt ihr euch das nicht anschauen, wenn wir wieder im Cielástel sind?” Advon Irísolor sammelte die Reste der Lederzügel ein, vielleicht als Beweismittel, und knotete sie zusammen. „Es wird spät. Nicht, dass der schreckliche Úldaise schon da ist, bevor wir ankommen!”

„Sag es dir etwas?”, fragte Galéon unbeeindruckt. „Hast du einen solchen spitzigen Stern schon anderswo gesehen?”

„Natürlich”, sagte Dýamirée Lagoscyre heiter. „Das ist unser Stern. Noktámas Juwel, das ihre Halle schmückt, im Heiligtum.”

„Ein Stern? Ein echter Stern?”, erkundigte sich der báchorkor.

„Nein, natürlich nicht. Wie sollte denn ein echter Stern in die Halle kommen?” Dýamirée schien kurz zu überlegen, ob er womöglich so einfältig war, das zu glauben. „Aber weißt du, in Noktámas Halle ist ein großes weites Dach, wie eine Kuppel. Und da drin ist ein Fenster, direkt über dem Thron des Großmeisters. Da schickt Noktáma ihren Glanz hindurch, und das Fenster erstrahlt dann wie dieser Stern. Genau so sieht er aus.”

„Dann hat dies hier einmal einem Schattensänger gehört?”, fragte Galéon.

Dýamirée nickte. „Ja. Und bestimmt einem sehr mächtigen.”

Advon kam näher und warf nun auch einen Blick auf das Amulett, aber es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. „Wieso denn einem Mächtigen? So wertvoll sieht es nicht aus.”

„Na, weil das doch ein Zeichen ist, das zum Etaímalon gehört”, erklärte sie, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. „Das ist wie ein Erkennungszeichen, von jemandem, der immer nahe an der Halle ist.”

„Wie ein Wappen? So ein Bild, wie es die yarlay auf ihren Schilden haben, damit sie einander auch mit Helm erkennen?”

„Ja, so ähnlich.”

„Wo hast du das her?”, fragte Advon, bei der Erwähnung von Kämpfern nun doch neugierig geworden. „Und was würde Siledaú darum geben, so ein Schmuckstück zu besitzen!”

„Ich glaube, ich weiß, wem es gehört”, sagte Galéon grimmig. „Gibst du es mir zurück? Ich würde es nur zu gern seinem Besitzer persönlich überreichen.” Vielleicht, setzte er sarkastisch für sich hinzu, gibt es einen netten Finderlohn dafür.

Sie legte es ihm vertrauensvoll zurück in die Hand und er steckte es wieder ein.

Advon rief das Einhorn näher. Farbenspiel trottete heran und stellte seine Flügel auf. Doch bevor er die Menschen erreichte, verharrte er plötzlich stocksteif. Die gelben Schlangenaugen und seine Nüstern weiteten sich. Der Hengst stieß ein nervöses Schnauben aus.

„Farbenspiel?”, fragte Advon Irísolor erstaunt. „Was ist? Was erschreckt dich?”

„Oh nein”, wisperte Dýamirée. „Nicht schon wieder erschrecken. Dann rennt er weg und lässt uns hier womöglich noch stehen!”

Das Einhorn spreizte die Flügel ab und ließ sie sacht erzittern. Es tänzelte auf der Stelle. Nun war zu spüren, was es nervös zu machen schien.

Irgendetwas vibrierte, ganz, ganz tief unter dem Sand.

Galéon griff nach den Kindern und zog sie zu sich hinüber. „Ruhig”, flüsterte er ihnen zu. „Vertraut mir. Was immer geschieht.”