
In dem Stall war es angenehm schummrig und im Gegensatz zu der sengenden Sonne draußen auch erträglich kühl. Yalomiro hatte mich gebeten, hier hinein zu gehen und einfach auf ihn zu warten. Nachdem die arcaval’ay ihre Reittiere irgendwo anders hingebracht hatten, erklärte er, hielt er es für unwahrscheinlich, dass einer von ihnen in der nächsten Zeit dieses Gebäude betreten würde. Er wolle sich nur kurz umschauen, aber jemand müsse auf den Stab und die Tasche mit seinen Utensilien aufpassen. Schließlich konnte er das Zeug nicht mit sich herumschleppen, wenn er sich unauffällig verhalten musste.
Ich hatte protestiert, denn unter gar keinen Umständen wollte ich ohne ihn allein in dieser fremden Burg, in diesem Heiligtum fremder Magier stehen. Jeden Moment könnte schließlich einer durch die Tür treten, dem ich dann irgendwie meine Anwesenheit erklären müsste und dabei jämmerlich versagen würde.
Es würde genügen, hatte er erwidert, wenn sie ihn erwischen würden, denn das, was er vorhatte, war waghalsig und ganz bestimmt gegen die Regeln.
Und was mache ich, wenn sie dich erwischen?, hatte ich entsetzt gefragt.
Du könntest versuchen, mich zu retten, hatte er völlig ernsthaft geantwortet. Es sei nötig, dass ich mich weiterhin der Suche nach Dýamirée widmen konnte, falls er daran gehindert werde. Mir zu sagen, dass ich sein Vorhaben gefährden würde, weil ich unbeholfen und begriffsstutzig war, das brachte er wohl nicht übers Herz.
Ich lasse dich nicht länger allein als nötig, hatte er versprochen, seine Stirn zärtlich an der meinen. Dann hatte er mir seine Tasche und diesen schrecklichen Zauberstab in die Hand gedrückt, Dýamirées Stofftier an sich genommen und war quer über den Hof hinüber zu dem Eingang gehuscht, den die alte Frau und Cýelú Irísolor benutzt hatten, den zu dem mächtigen mittigen Turm, der sich hoch über die Mauern erhob, glitzerte und glänzte und trotz seiner Dimensionen befremdlich schwerelos wirkte. Aber Yalomiro benutzte nicht die Tür. Ich hatte erwartet, dass er einen Schattenwurf nutzen und darin verschwinden würde, aber das war ihm wohl zu unsicher. Stattdessen glitt er in seine Rabengestalt und flog hinauf bis zu einem offenen Fenster auf halber Höhe des Gebäudes. Das war riskant, aber wohl das Ungefährlichste, was er tun konnte. Magie, die er an sich selbst wirkte, war wahrscheinlich das diskreteste und Unauffälligste, was in einem fremden Heiligtum unentdeckt bleiben würde. Doch bereits das mochte ein großes Wagnis gewesen sein.
Und jetzt stand ich hier und war nervös. Natürlich hatte er recht. Ich war nicht bereit für elegante Geheimmissionen. Andererseits war auch sein Flug etwas unbeholfen, denn das Kuscheltier im Schnabel zu transportieren war nicht einfach. Was mochte er damit vorhaben? War es tatsächlich ein Talisman?
Ich schaute mir den Stab aus der Nähe an und war erstaunt darüber, dass er sich in meiner Hand nicht viel anders anfühlte als ein Besenstiel. Wenn dieses schreckliche Ding jemals unheilvolle Magie in sich getragen hatte, dann hatte die sich längst verflüchtigt.
In tat also vorsichtig einen Schritt in den Stall hinein. Die Regenbogenritter waren sämtlich mit der fajía in der Burg, und wenn es stimmte, dass außer ihnen niemand in diesem riesigen Gebäude weilte, würde ich mich hier wohl eine Weile unbehelligt aufhalten können.
Der Stall hatte einen Vorraum direkt hinter dem Eingang, von dem aus eine Tür in eine große Sattelkammer führte. Es roch angenehm sauber nach Lederseife und Metall. Daneben ging es in einen breiten Gang, wo sich auf beiden Seiten golden vergitterte Abteile aneinanderreihten. Ich konnte das Metall spüren wie Gluthitze, aber solange ich nichts anfasste, ließ es sich ertragen. Da ich nicht mitten im Eingangsbereich stehen bleiben wollte, ging ich neugierig ein paar Schritte in den Gang mit den Gittern hinein.
Das, was wohl die Stallabteile für die Einhörner darstellen sollte, glich Raubtierkäfigen mit armdicken Gitterstäben. Es roch nach Stroh und den Ausdünstungen von Tieren, allerdings nicht so sehr nach Pferd, wie ich erwartet hatte.
In einem der Käfige bewegte sich ein Tier. Ich schlich vorsichtig hin und erkannte das ursprüngliche Reittier des Goldenen, den Schimmel mit dem warmen Lüsterglanz auf seinem Fell. Wie groß und einschüchternd er war, und wie sonderbar schön! Das Tier wandte mir den Kopf mit dem Horn auf der Stirn zu. Seine Mähne umspielte schwerelos seinen Kopf und Hals wie eine üppige Federboa und seine großen mandelförmigen Augen leuchteten strahlend gelb wie Citrin. Die übergroßen Flügel trug das Tier leicht gelüpft zusammengelegt am Körper. Es war ganz anders, viel geheimnisvoller und gefährlicher, als ich mir früher in meinem alten Leben solche Märchenkreaturen vorgestellt hatte. Das Tier schnaubte und wandte sich um.
„He! Was machst du da?”, sprach mich so unerwartet jemand an, dass ich zusammenzuckte. Ich war so gefesselt von dem Anblick dieses … ja, dieses absurden Fabelwesens gewesen, dass ich gar nicht darauf geachtet hatte, dass am anderen Ende der Stallgasse jemand aus einer Tür hervorgekommen war. Kein arcaval’ay. Ein ganz normaler Mensch.
„Ich …”, stammelte ich wirr, „… Verzeihung. Es … ja, es ist so heiß draußen, und es war niemand da, und … da dachte ich, ich schaue, ob hier jemand ist.”
Der Ankömmling kam näher. Es war ein derber Mann, den ich auf mehr als fünfzig Jahre schätzte. Er trug praktische, mit viel Leder besetzte Kleidung und eine ebensolche Weste, einen leicht nachlässig gestutzten Vollbart und eine Kappe, die wohl darüber hinwegtäuschen sollte, dass er kaum noch Haare hatte. Er stapfte eilig und etwas O-beinig heran.
Im wirklich allerletzten Moment fiel mir ein, weshalb zu meiner Kleidung dieser silberbestickte dunkle Schleier gehörte, den ich üblicherweise als Schultertuch trug. Ich lehnte den Stab an das Gitter neben mir und legte ihn mir rasch über den Kopf.
Der Mann runzelte die Stirn als er das sah und kam näher. Ich versuchte, ihn zu erspüren, und entspannte mich ein wenig. Wer immer das war, er war nicht gefährlich. Nur recht irritiert und etwas verärgert über mein Auftauchen und unbefugtes Eindringen.
„Wer bist du?”, erkundigte er sich mürrisch. „Was willste im Stall?”
Irgendetwas nicht allzu weit Hergeholtes musste mir einfallen. Eine plumpe Lüge würde mir nicht über die Lippen kommen.
„Ich … suche jemanden. Wir … ich will hier etwas … abliefern.”
„Das da?”, fragte er und deutete auf den Zauberstab, der nun einmal das auffälligste Objekt war, das ich mit mir herumschleppte.
„Gewissermaßen”, sagte ich vage.
„Siledaú ist bei den Meistern. Kann wohl ‘ne Weile dauern, bis sie wieder hier ist.”
Zum Glück tarnte der Schleier mein Gesicht. Ich konnte mir denken, wie konsterniert ich wohl dreinschaute. „So?”, fragte ich unbestimmt. „Siledaú?”
„War wirklich keiner am Tor?”
„Ich habe niemanden gesehen.”
Er schnaufte unwillig. Vorgestellt hatte er sich immer noch nicht, aber ich ging nun davon aus, dass es sich um eine Art Stallknecht handeln musste, zumindest jemand, der hier das Sagen und die Verantwortng hatte. Das Einhorn jedenfalls schien vertraut mit ihm zu sein. Es streckte ihm die Schnauze durch das Gitter entgegen. Er tätschelte sie beiläufig und musterte mich mit misstrauischem Blick. Es war offensichtlich, dass es ihm auf der Zunge lag, mich zu fragen, weshalb ich mir den Schleier übergezogen hatte, aber er war wohl zu taktvoll, danach zu fragen.
„Ich vertrage die Sonne nicht gut”, erklärte ich vorsorglich. „Meine Haut ist schon ganz wund. Sieht scheußlich aus. Ich bin nicht von hier.”
„Aus Forétern, was?”
„Nein. Noch viel weiter nördlich. Aus der Nähe von Hethrom.”
Das schien ihm nichts zu sagen, aber als Erklärung auszureichen. Er entspannte sich. Vielleicht war es ihm ganz recht, jemanden zum Reden zu haben.
„Verrückte Zeiten, die letzten Tage”, knurrte er. „All dieses Hin und Her, als wüssten sie nicht so recht, was sie denn nun wollten. Erst weg mit dem Krempel, jetzt wieder neu dazu …” Er tippte den Stab respektlos an. „Ich denk’, das kannste gleich wieder einpacken. Wird die Meisterin nicht im Haus haben wollen. War sehr erbost wegen dem anderen Krempel.”
Ich nahm den Stab hastig wieder in die Hand. Ich wollte nicht riskieren, dass er ihn anfasste und damit möglicherweise noch irgendetwas auslöste. „Das wird … Siledaú mir wohl selbst sagen. Im Cielástel ist sie, sagst du?”
„Hab gesehen, wie sie rüber gegangen sind.” Er zögerte. „Soll ich sie holen?”
„Nein, das ist nicht nötig”, beeilte ich mich. „Ich will auf keinen Fall stören. Es eilt nicht zu sehr. Darf ich hier drinnen im Schatten warten?”
Er zuckte gleichgültig die Achseln. „Meinetwegen. Geht hier drin ohnehin heute zu wie auf dem Marktplatz. Erst das Kind, dann die Burschen vom sinor … bin froh, wenn ich nachher in die Stadt gehe. Ist doch alles nicht mehr normal hier. Ich werd’ zu alt für so was.”
„Kind?” Ich horchte auf. Er wirkte ertappt.
„Darf ich nicht drüber reden”, behauptete er. „Ist geheim.”
Das war mir egal. „Ein kleines schwarzhaariges Mädchen?”
„Frag Siledaú. Ich halt mich da raus. Hab nix gesehen.” Der Stallknecht wandte sich ab und wollte sich entfernen, stutzte dann aber. „Woher weißt du das?”, fragte er misstrauisch.
„Wo ist sie?”, rief ich aus, ohne daran zu denken, wie dumm das war.
„Geht mich nichts an”, raunzte er und wollte an mir vorbei. Ich dachte nicht nach und senkte den Stab vor ihm, wie ein Torwächter seine Hellebarde. Nicht, dass das auf der Breite der Stallgasse etwas genutzt hätte, denn er hätte einfach an mir vorbeigehen können. Aber es schien ihn ausreichend zu beeindrucken.
„Wo ist das Kind?”, wiederholte ich hartnäckig.
„Weiß nicht. Die dämlichen Knechte von sinor Úldaise haben sie woanders hingebracht. Geht nur Siledaú was an. Soll mich raushalten!”
Ich zögerte. Wer war dieser sinor Úldaise denn nun schon wieder? Offensichtlich jemand Wichtiges, von dem er ganz selbstverständlich annehmen musste, dass ich im Bilde war. Mit Nachfragen würde ich mich verdächtig machen. Meine Gedanken rasten. Ich war allein mit diesem Unkundigen, und er wusste offenbar Näheres über Dýamirées Verbleib. Er sollte offenkundig darüber schweigen, hatte sich aber schon heillos verplappert. Wer immer die Alte war, es war wohl nichts Ungewöhnliches, dass sie kuriose Gegenstände ihr Eigen nannte und aufkaufte. Sonst hätte der Stab doch wesentlich mehr Verwirrung hervorgerufen.
Mit einem Alleingang würde ich möglicherweise Yalomiros Aktionen sabotieren. Aber die Gelegenheit war zu verrlockend.
„Wenn wir von demselben Kind reden”, begann ich bedacht, „dann wüsste ich doch gern, was Siledaú damit zu tun hat.”
„Was hast’n du damit zu tun?”
Sollte ich ihm sagen, wie viel es mich anging? Dass ich die Mutter war?
„Davon hängt ab”, sagte ich, indem ich mich im letzten Moment zur Vorsicht entschied, „was Siledaú für diesen Stab bezahlen muss.”
„Versteh ich nicht”, sagte er unwirsch. „Geht mich nichts an. Bin froh, dass das Kind weg ist. Hat nur Ärger gemacht. Erst das Einhorn aufscheuchen, dann all das Durcheinander …”
„Wo ist sie?”
„Ich weiß es nicht! Die Knechte vom sinor haben sie weggeschafft. Den Mächten sei Dank! So sind wir hier den Ärger los. Sollen Siledaú und der Meister das unter sich ausmachen.”
So kam ich nicht weiter und wurde auch nicht schlau daraus. Es klang jedenfalls, als hätte Dýamirée es fertiggebracht, binnen kurzer Zeit für reichlich Durcheinander zu sorgen. Wahrscheinlich war mit dem aufgescheuchten Einhorn das Reittier des Sohnes von Cýelú Irísolor gemeint. Das hieß dann aber auch wohl, dass die Kinder nicht miteinander unterwegs waren und führte zu der Frage: Wo war der Junge? Und wie war er der alten Frau aus dem Turmzimmer entwischt, was sie offenbar nicht gewusst hatte?
Warum belog die Alte Cýelú Irísolor? Und warum war Dýamirée in der Gewalt von Handlangern eines mysteriösen Fremden, der mit dieser unheimlichen alten Frau zusammenarbeitete? War es vollkommen müßig, sie hier im Cielástel zu suchen? Vergeudeten Yalomiro und ich hier kostbare Zeit, während Dýamirée sonst wo in Gefahr schwebte?
„Nun”, improvisierte ich, nachdem sein Blick immer misstrauischer und ungeduldiger wurde, „ich bin mir sicher, dass sich das alles aufklären wird, sobald … Siledaú Zeit für mich hat. Ich werde hier auf sie warten, wenn das für dich in Ordnung wäre.”
„Wenn dir‘s recht wäre”, entgegnete er, „hab ich dich hier gar nicht gesehen. Bis nach Aurópéa ist ein ganzes Stück zu laufen, und ich will noch bei Tageslicht ankommen. Hab ohnehin selten mal einen freien Tag. Lauf nur nicht in die Burg hinein. Da haben Fremde nichts zu suchen.”
„Natürlich”, sagte ich und meinte das durchaus ernst, denn ich hatte verstanden, dass ich Dýamirée hier nicht gar mehr zu suchen brauchte. Außerdem war es unnötig, dass Yalomiro stattdessen nach mir suchen musste, sobald er von seinem Erkundungsflug zurückkam.
„Ich hoffe, du kriegst’n guten Preis für das hässliche Ding”, sagte er auffordernd. Ich begriff und schwenkte den Stab wieder in die Senkrechte, damit er weitergehen konnte. Er nickte mir zu und ging aus dem Stall hinaus, quer über den Platz und steuerte auf das gegenüberliegende Tor mit der gesenkten Zugbrücke zu. Ich schaute ihm vom Stalleingang aus hinterher, indem ich vorsichtig um die Ecke lugte. Von hier aus würde ich rechtzeitig sehen, wenn jemand aus dem mittigen Turm herauskam.
So wie just die alte Frau, die soeben die Treppe vom Hocheingang hinabstieg, mit zittrigem, unsicheren Schritt. Der Stallknecht erblickte sie auch, blieb stehen und sprach sie an. Die beiden wechselten einige Worte miteinander, der Mann deutete in Richtung Stall, und der Blick der Alten zuckte ruckartig zu mir hinüber. Hatte sie mich gesehen?
Konnte ich mich verstecken?
Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie schob den Stallknecht beiseite und begann, auf das Tor zuzuschlurfen.
Verflucht.
***
Sie landeten verhältnismäßig weich, aber der Untergrund bewegte sich, so als wäre darunter Wellengang. Weit, absurd weit über ihnen, vollkommen unerreichbar wie Noktámas Juwel am Himmel, war ein winziges Loch, durch das trübes, graues Licht auf sie hinabfiel, viel zu viel, zu hell angesichts der Entfernung. Und dann sanken sie beide ein, denn der Sand gab unter ihnen nach.
Manjév von Wijdlant und Spagor kreischte, schrill wie ein panischer Greifvogel. Osse hörte sie neben sich und haschte nach ihr. Überall war Sand, warmer, trockener Sand, aber nicht wie am Strand als fester Boden. Es war, als sei der Abstand zwischen den Körnchen zu groß und sie wogten durcheinander wie die Staubpartikel auf dem Dachboden im Sonnenlicht.
Die teirandanja griff zu, klammerte sich an seinen Hals und drohte, ihn in die Tiefe zu reißen.
„Nicht”, rief er verstört. „Haltet still!”
„Osse! Osse, was ist das?”
„Haltet still! Es zieht uns sonst in die Tiefe!”
„Osse!” Eine andere Stimme, hinter ihm, ganz nahe. Und so klar, als stünde er neben ihm, nicht mehr gedämpft durch eine Tür. Aber ohne seine Brille verschwamm alles um ihn herum zu einem trüben Gemisch aus Sandwogen und Regenlicht.
„Merrit?”
Etwas schlug heftig direkt neben seinem Kopf dumpf auf den Sand. „Halt dich fest!”
Osse haschte nach dem, was sich neben ihm in den Sand gegraben hatte, und riss sich die Hand darin auf. Es war die stachelbewehrte Kugel eines Streitflegels.
„Halt fest! Pack die teirandanja! Ich ziehe euch her!”
Doch das Mädchen, seine teirandanja war völlig außer sich. Durch ihr Gezappel grub sie sich nur noch tiefer in den seltsam fließenden, hellen Sand.
Es war unstatthaft, aber sie mochte es ihm verzeihen. Er packte sie energisch am Oberarm und erreichte damit, dass sie, von der groben Berührung aufgeschreckt, abrupt verstummte und tatsächlich ruhig hielt.
Ein Ruck ging durch die Kette, die die Kugel hielt, und Osse fühlte sich gezogen wie ein Bötchen, das ein Fischer an Land schleppte. Das verwaschene Bild vor seinen Augen schärfte sich ein wenig und zeigte einen massiven Streifen Holz, ein Balken zwischen Sand und Grau. Merrit Althopian kauerte darauf und zog aus Leibeskräften mit beiden Händen an der Kette.
Als er nahe genug heran war, ließ er los und packte zu. Ohne ein weiteres Wort zog der eine Junge den anderen in Sicherheit, dann hatte sie beide Mühe, die Schockstarre teirandanja dem Sand zu entreißen. Doch schließlich hockten sie alle drei auf der schwarzsilbernen Tischplatte, wie Schiffbrüchige auf einem Floß. Kein Wasser ringsum, doch überall der wirbelnde Sand.
„Majestät”, wisperte Merrit bestürzt. Sie schaute zu ihm auf, aber ob sie ihn erkannte, das blieb unklar.
„Wo sind wir?”, fragte Osse verstört. „Was ist das hier?”
„Wo kommst du her?”
„Ich glaube, ich bin durch das Dach gefallen.”
„Warum warst du auf dem Dach?”
Osse ächzte. Ihm war eiskalt, obwohl der Sand diese unnatürliche Wärme abstrahlte. Die teirandanja starrte weiterhin in die Leere.
„Ich wollte nicht, dass dein Vater auch noch stirbt”, sagte Osse.
„Es hätte ihn vom Dach gestoßen.” Merrit schien nicht erstaunt zu sein. „Stattdessen hat es nun dich geholt. Vielleicht bist du wichtiger.”
„Es hat einfach die Stimme meine Mutter benutzt”, brachte Osse wütend hervor. „Es hat es gewagt, ihre Stimme zu nehmen!”
Merrit Althopian zögerte nur kurz. Dann umarmte er den anderen Jungen, und Osses Würde brach ein wie ein durchweichter Damm aus Pappe. Herzzerreißend begann er, zu weinen. Einen Moment lang klammerten die Jungen sich aneinander und ergaben sich ihrer Angst, ihrem Schmerz und ihrer Wut.
Dann kam Bewegung in das Mädchen. Einen Moment schaute sie verwundert zu dem trübgrellen Regenwetterlicht in der Ferne hoch. Dann setzte Manjév sich auf. Die Holzplatte unter ihr dümpelte auf dem Sand. In ihrer verkrampften Hand hielt sie immer noch die Brille. Zaghaft tastete sie den schluchzenden Osse an und gab sie ihm zurück. Dann wandte sie sich dem anderen Jungen zu, dem, den sie zuletzt gesehen hatte, als er von ihrem Fensterbrett gestürzt war. Sie schauderte vor dem seltsamen Gefühl, so nahe bei ihm.
„Merrit Althopian”, fragte sie tonlos. „War das alles hier in dem Zimmer?”
„Nein, Majestät”, sagte er. „Und das hier ist nicht das Zimmer. Nicht mehr. Das ist ein anderer Ort.”
„Und was ist das hier?”, fragte Osse und setzte sich die Brille vor die rotgeweinten Augen. „Worauf sitzen wir hier?”
„Das ist ein Tisch, der dort stand. Es scheint, dass der Tisch sicher ist. Der ist … echt.”
„Ich hab Angst”, sagte Manjév von Wijdlant von Spagor. „Können die Erwachsenen uns hier finden und retten?”
„Nein. Diesen Ort können sie nicht erreichen. Ich glaube, wir sind in den Träumen. “
„Wenn so in den Träumen ist”, wisperte Manjév, „dann will ich nie wieder schlafen.”
Und dann dröhnte es überlaut, versetzte den Sand in wilde Schwingungen, dass das Tischplattenfloß zu hüpfen begann. Ein Riese trommelte mit gewaltigen Fäusten gegen ein haushohes Tor.
„Merrit!”, schallte Waýreth Althopians Stimme von allen Seiten zugleich über das in alle Richtungen endlose Sandmeer. „Merrit! Kannst du mich hören!”
„Ist er das wirklich?”, fragte Merrit bang. „Steht er immer noch vor der Tür und kann nicht rein?”
„Möglich”, sagte die teirandanja. „Gerade eben war er noch bei mir.”
„Was hattet Ihr eigentlich auf dem Dach zu suchen?”
„Na ja, ich wollte Osse zurückholen. Er schien mir nicht recht bei Sinnen.”
„Merrit! Bei den Mächten, bei Pataghíu, Noktáma und dem Licht selbst, wenn du mich hören kannst, antworte mir!”
„Er ist es”, sagte Osse. „Er würde dich niemals aufgeben.”
Merrit zögerte. „Vater! Vater!”, rief er dann. „Der teirandanja und Osse ist nichts geschehen. Wir … sind … sicher!”
„Ich hole euch da heraus, Merrit! Ich schlage das Loch groß genug für mich. Ich …”
Das Floß machte eine ruckartige Drehung, so als geriete es für einen kurzen Augenblick in einen Strudel. Manjév keuchte erschrocken und griff instinktiv nach Merrit neben sich. Als sie gewahr wurde, was sie getan hatte, zog sie die Hand rasch wieder zurück. Die Luft um sie herum schien zu erzittern und ein metallenes Ächzen ertönte.
„Vater?”, rief der Junge bang, als das grausige Geräusch verklang.
„Ich hole Euch heraus!”, kam es zurück. In der überlaut schallenden und gespenstisch echoenden Stimme des Ritters schwang Entsetzen und Verwirrung mit.
„Herr Waýreth!”, rief Osse aus. „Wenn Ihr mich hören könnt: Lasst ab vom Dach! Das Dach ist eine Falle! Versucht die Tür! Versucht es mit Gold! Versucht, was ihr könnt, aber bleibt fort vom Dach! Das Dach ist eine Falle!”
Doch der Ritter antwortete nicht mehr. Der Tisch kreiselte träge voran. Das Licht von oben war immer noch viel zu hell. Die Kinder konnten einander darunter betrachten. Alle drei waren bleich vor Angst. Merrit versuchte, tapfer zu sein. Osse bemühte sich, Würde zu bewahren. Die teirandanja vergrub das Gesicht in ihren Händen.
„Es tut mir leid”, sagte sie erschöpft. „Merrit Althopian, es tut mir so leid. Das ist alles ganz allein meine Schuld.”
„Was immer es ist, Majestät”, antwortete er, „das hier ist sicher nichts, was Ihr bewirkt habt.”
„Seht”, unterbrach Osse die beiden. „Was ist das? Was ist das da, was da gleitet?”
Sie folgten seinem Fingerzeig. Ein kleines Ding trieb nahe an ihnen vorbei, ein echtes, ein wirkliches Objekt in diesem alptraumhaften Nichts, so schnell, als wollte es ihnen entkommen. Aber Merrit neigte sich waghalsig vor und erhaschte es gerade noch rechtzeitig.
„Wo kommt das her?”, fragte die teirandanja überrascht, als er es zwischen ihnen auf den Tisch stellte.
„Keine Ahnung, Majestät. Es war ganz gewiss zuvor nicht im Zimmer. Das hätte ich bemerkt.”
Wieder metallenes Ächzen, wieder ruckte das Floß auf einem Strudel, der kam und verging. Aber diesmal war es nicht ganz so furchterregend wie zuvor. Zu sehr faszinierte die Kinder das, was da zu ihnen gekommen war.
Ein handlanges Stück silbergraue Borke, ein Stöckchen und ein großes Blatt. Ein sachter Silberschimmer schien darauf zu glimmen und sich auf den Tisch zu übertragen. Ein Spielzeug, geschaffen von Kinderhänden wie den ihren.
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