
Advon wusste es natürlich, aber er hatte es niemandem erzählt, um später seinen eigenen Ruhm nicht allzu sehr zu schmälern. In die Wüste zu reiten war lange nicht so gefährlich, wie die Erwachsenen ihm einzureden versuchten. Farbenspiel war unzweifelhaft das gutmütigste und sanfteste Einhorn, das je auf Pataghíus Weiden gelaufen war. Er hätte ein Wiegenkind sicher durch ein Gewitter getragen, wenn es nötig gewesen wäre. Der Junge war überzeugt davon, dass der Hengst sehr wohl wusste, dass er schwache, zerbrechliche Kinder auf dem Rücken hatte, denen kein Ungemach zustoßen sollte. Es war völlig unnötig, dem Tier seinen Willen aufzuzwingen. Es genügte, es so sanft zu lenken, dass es wusste, in welche Richtung es laufen sollte.
Die Sonne war längst weiter nach Norden über den Himmel gezogen, stand vielleicht schon jenseits des Montazíel. Doch von dort näherte sich stattdessen etwas anderes. Hinter ihnen wurde der Horizont diesig, zogen sich die Wolken, die sich seit dem Mittag wie Schaumflöckchen zusammengeballt und den Himmel getupft hatten, zu einer massiveren Fläche zusammen. Advon konnte die Wolken lesen, das hatte sein Vater ihn gelehrt, noch bevor Siledaú aufgetaucht war. Es war wichtig, die Wolken und das Wetter zu kennen, wenn man flog, hatte der Vater erklärt.
Sie mussten sich beeilen. Wenn die Wolken sich so schnell wandelten, stand ein heftiger Wetterumschwung bevor. Regenstürme über Soldesér waren selten, und wenn sie losbrachen, konnten sie verheerend sein.
Er blickte über seine Schulter zurück in die Richtung, wo er den Cielástel als funkelnde bunte Landmarke erkannte. Es waren keine anderen Einhörner in der Luft. Offenbar hatte der Wächter auf dem Turm ihn noch nicht erspäht. Entweder war niemand dort, weil etwas anderes die arcaval’ay beschäftigt hielt, oder sie flogen tief genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Ab und zu hatten Menschen am Boden zu ihnen aufgeschaut, aber keine größere Beachtung geschenkt. Ein einzelnes Einhorn war kein alltäglicher, aber auch kein ungewöhnlicher Anblick.
Das Schattensängermädchen hielt sich überraschend mühelos auf Farbenspiels Rücken. Sie hatte zwar beide Arme um Advon geschlungen, um auf dem glatten Fell nicht abzurutschen, aber sie fand ausgesprochen geschickt die Balance und schaute sich neugierig um. Dass sie gerade noch nahe daran gewesen war, hinter die Träume zu stürzen, schien sie bereits abgetan zu haben.
„Du machst das sehr gut”, lobte er sie, um ein Gespräch zu beginnen, denn mit ihm geredet hatte sie noch nicht allzu viel.
„Was denn?”
„Du kannst gut reiten. Hast du, da wo du herkommst, ein Pferd?”
Sie kicherte. „Manchmal. Mein Papa kann sich in ein Pferd verwandeln. Dann trägt er mich auf seinem Rücken rund um den See, wie der Wind. Das macht Spaß!” Sie zögerte und fügte hinzu: „Aber wir müssen gut acht geben, dass Mama uns nicht erwischt. Sie hat immerzu Angst, ich könnte runterfallen und mir weh tun. Sie sagt, wir sollen nicht so wild herumtoben.”
„Dein Vater kann eine andere Gestalt annehmen?”
„Ja, natürlich. Schattensänger haben immer mindestens eine Verkleidung.”
„Toll!”
„Kann dein Vater das denn nicht?”
„Nein. Regenbogenritter sind immer ganz wahrhaftig. Wir … wir können andere Dinge. Wir … wir können zum Beispiel machen, dass Dinge geschehen, weil wir es wollen.”
„Und Leute dazu bringen, das zu wollen, was ihr wollt?”
„Ja, genau.”
Sie schwieg einen Moment.
„Kannst du das auch? So wie du den dummen Männern gesagt hast?”
„Nein”, gab er zu. „Ich hab geflunkert.”
Sie kommentierte das nicht. Eine Weile hörten sie nur den Wind in Farbenspiels Schwingen rascheln.
„Wer ist dieser Mann, für die die beiden arbeiten? Warum wollte er, dass sie mich in das Loch hinein werfen?”
„Der Mann heißt Úldaise Tiáramalé. Das ist einer von den mächtigen alten Leuten, die die Verantwortung für Aurópéa tragen. Wenn ich das alles richtig verstanden habe, bestimmt er, wer bestraft wird, wenn jemand etwas verbrochen hat. Heute Abend kommt er in unsere Burg. Er soll er meinen Eltern erklären, was neuerdings in der Stadt und der Wüste vorgeht. Das ist alles ganz wirr und unverständlich.”
„Aber was habe ich denn angestellt, wovon er wissen könnte? Wieso wollte er mich in das Loch werfen?”
„Das werden wir alles herausfinden, Dýamirée. Aber zuerst müssen wir nachschauen, was mit dem báchorkor geschehen ist. Danach kehren wir zum Cielástel zurück.”
„Ich dachte, wir reiten in den Etaímalon!”, begehrte Dýamirée auf.
„Ich habe darüber nachgedacht. Hattest du nicht gesagt, dein Vater und deine Mutter werden kommen, um dich zu befreien?”
„Schon”, gab sie wütend zu. „Aber …”
„Und dann steht dein Vater vor dem Cielástel und will dich befreien, und du bist nicht da? Und meine Eltern wissen noch nicht einmal, wo du abgeblieben bist? Wie sollen die Erwachsenen sich da einigen? Das ist doch dumm! Besser, du versteckst dich, und sobald deine Eltern da sind, läufst du ganz schnell hin.”
Darauf hatte sie nichts zu entgegnen. Sie widersprach ihm nicht.
„Und außerdem müssen wir als allererstes den báchorkor retten. Der ist in Todesgefahr. Das ist viel dringender.”
„Was ist denn nun mit dem báchorkor?”, fragte Dýamirée. „Wer ist das?”
„Keine Ahnung. Aber wenn der sinor ihm etwas angetan hat, dann bestimmt zu Unrecht. Weißt du … ich glaube, dieser alte Mann ist böse. Also, richtig böse.”
„Richtig böse?”
„Den Mächten ungefällig. So sehr, dass er gar keine reine Stelle mehr in seinem Herzen hat.”
Sie zögerte. „Das ist schlimm”, sagte sie dann.
„Und weißt du was? Vielleicht hat de báchorkor irgendetwas Geheimes über den sinor herausgefunden. Die báchorkoray reisen im ganzen Weltenspiel herum und bekommen viel zu hören und sehen. Stell dir mal vor, er hat vielleicht was herausgefunden, was die anderen sinoray und die Leute in Aurópéa nicht erfahren sollen. Und davon hat der alte Mann vielleicht etwas erfahren und den báchorkor von seinen dämlichen Dienern in die Wüste bringen lassen, damit es nicht bekannt wird.” Er biss sich auf die Lippen. Die offene Wüste lag vor ihnen. Er war sich sicher, dass die Richtung stimmte. Nun mussten sie Ausschau halten. Noch war der Sand heiß und der südliche Himmel wolkenlos. Doch durch den Gegenwind war die Hitze erträglich.
„Dýamirée”, fragte er, „hast du … hast du schon einmal einen toten Menschen gesehen?”
„Ja”, antwortete sie zu seiner Überraschung.
„Tatsächlich?”
„Ja, aber nur kurz. Ich hab einen Ritter gesehen, den ein … anderer Ritter erschlagen hat.”
Er seufzte unbehaglich. Damit war sie ihm um eine Erfahrung voraus. Advon grauste sich insgeheim davon, möglicherweise den mysteriösen báchorkor nicht mehr lebendig anzutreffen. Wenn die beiden Knechte Recht behielten und Menschen tatsächlich Pataghíus Glanz so schutzlos ausgeliefert waren, kamen sie wahrscheinlich zu spät.
Und doch … die Hoffnung wollte Advon nicht aufgeben. Vielleicht bestand doch noch eine kleine, eine winzige Chance, dass der báchorkor noch nicht hinter den Träumen war. Wenn er, Advon, sich von bloßen Worten entmutigen ließ und nicht zumindest nachschaute, dann wäre der Mann tatsächlich verloren. Wie wohl jemand aussah, den Pataghíus Glanz versengt hatte? Advon dachte an die verkohlten Bäume im Garten und fühlte sich elend. Schnell schob er die Vorstellung beiseite.
„Wenn er noch lebt”, erläuterte er das, was er sich vorgestellt hat, „nehmen wir ihn auch mit in den Cielástel. Farbenspiel ist stark genug, auch noch einen Erwachsenen zu tragen. Er hat ja kein Sattelzeug mitzuschleppen. Meine Mama kann sicher heilen, falls er verletzt oder entkräftet ist. Wir bringen den báchokor im Cielástel in Sicherheit, erzählen, was Siledaú und Úldaise gemacht haben und warten, bis deine Eltern auftauchen und dich abholen. Gut?”
„Ja. So ist es wohl das Beste. Aber da ist immer noch etwas, was ich nicht verstehe.”
„Und?”
„Warum hat die böse alte Frau deinen Vater dazu gezwungen, mich zu entführen? Was will sie?”
Advon lachte. „Siledaú hat meinen Vater ganz bestimmt nicht zu etwas gezwungen. Man kann doch einen Regenbogenritter nicht gegen dessen Willen zu etwas zwingen!”
„Nicht?”, fragte Dýamirée erstaunt.
„Nein. Vielleicht ein sehr, sehr mächtiger Magier. Aber ganz bestimmt nicht Siledaú. Die wäre zwar bestimmt für ihr Leben gern eine Magierin geworden. Aber …”
Er verstummte und runzelte die Stirn. Das Mädchen hinter ihm sagte nichts weiter. Aber er spürte, wie es sich vertrauensvoll anschmiegte. Und dann war da wieder dieser erfrischende Duft, der ihn beruhigte und mutig machte.
***
Der Regen fiel nicht mehr in Strömen, sondern in Sturzbächen. Durch die graue Wasserwand war kaum etwas zu erkennen. Selbst die niedrigeren Gebäude und Mauern rund um den Turm verschwanden aus dem Blick. Der Hof war menschenleer. Wer noch draußen gewesen war, hatte sich vor den Fluten und den Windböen, die begonnen hatten, diese durchzupeitschen, in die Gebäude geflüchtet.
Osse bemerkte das nicht. Er hätte von alledem sowieso nichts gesehen. Seine unverzichtbare und ebenso gehasste Brille hatte er in seiner Tasche. Er brauchte sie jetzt nicht. Alles, was er tun musste, war eine Erwachsenenarmlänge neben sich zu hauen und zu schlagen, was das Zeug hielt.
Die Trittleiter hinauf und durch die schmale Öffnung zu klettern, die Waýreth Althopian vorbereitet hatte, war ihm überraschend leicht gefallen, vermutlich, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, darüber nachzudenken. Die Stimme trieb ihn voran, so sanft, so liebevoll, so geliebt, wie er sie in Erinnerung hatte und manchmal von ihr träumte.
Streng dich an, Osse, flüsterte seine Mutter, so leise und schüchtern, wie sie immer geklungen hatte, wenn sie gesprochen hatte und Zuhörer dabei waren. Dein Freund hat nicht mehr viel Zeit darinnen!
Osse schwang mühsam das Werkzeug. Dass er damit tönerne, uralte Schindeln in Trümmer legte, hörte er eher, denn er es sah. Er hatte keine Ahnung, wie man ein solches Werkzeug richtig führte, und er war eingeschüchtert davon, wie windig und kalt und nass es hier auf dem Dach war. Einen solchen unnatürlichen, kalten Wind hatte er nicht einmal an stürmischen Wintertagen auf den Zinnen der heimatlichen Burg gespürt, wenn der Sturm den Schnee ins Land blies.
Der Junge versuchte, nicht daran zu denken. Der Teil seines Verstandes, der ihm nüchtern mitteilte, dass es schon Wahnsinn seitens des Ritters gewesen wäre, auf das Dach zu steigen, und Wahnsinn, es ihm nun nachzutun, verstummte vor der zärtlichen Ermunterung in dieser milden Frauenstimme, die in seiner Erinnerung hallte.
Gib dir Mühe, Osse. Mach weiter. Gib nicht auf! Du kannst es vollbringen! So hatte sie zu ihm geredet, als er als unverständiges Wiegenkind vor unlösbaren Aufgeben gestanden hatte, vor einer Treppe, die in seiner Wahrnehmung schief und krumm war, vor einem Bilderbuch, dessen Illustrationen er erst erkannte, als seine Nase fast die Seiten berührte, als er erlernen sollte, in den Sattel seinen kleinen Pferdchens zu klettern. Yarl Emberbey hatte sich all das stets eine Weile schweigend angesehen und war dann mit wortloser Enttäuschung bald fortgegangen. Die Mutter hatte ihn nicht aufgegeben.
Natürlich war Osse Emberbey nicht so leichtsinnig, dass er versucht hätte, gänzlich durch das Loch hindurch und auf das Dach herauf zu klettern. Bäuchlings lag er auf der Schräge aus glitschigen, moosbedeckten Schindeln. Seine Füße hatten Halt an einem Holzbalken gefunden, auf dem die Dachpfannen ruhten. Der Stiel des Streithammers war glitschig vom Regen.
Was tust du hier?, fragte der vernünftige Osse, der vor der Stimme in seinen Gedanken sehnsüchtig erschauerte. Was, wenn dir der Hammer runterfällt Was, wenn du runterfällst?
Das ist egal, sagte der verzückte Osse, das verwirrte Wiegenkind, das zur Mutter wollte. Um mich ist es nicht schade. Mein Vater holt sich den Jungen aus Rodekliv an meiner Stelle.
Und was ist deiner Verantwortung? Was ist mit deinen Schwestern?
Osse hielt verwirrt inne.
Los, Osse! Sei ein guter Junge! Herr Waýreth wird hocherfreut sein, wenn du ihm die Arbeit erleichterst. Lass ihn sich um die teirandanja kümmern!
Der Turm vibrierte, nicht mehr so heftig wie beim ersten Mal, aber es kam Osse doch so vor, als wäre es ein Seufzer wie von einem lebendigen Wesen, der durch die Mauern ging. Ein erwartungsvoller Seufzer.
Der Hammer stieß auf Widerstand. Osse hielt verwirrt inne und ruckte daran. Knirschend löste sich die Spitze aus den uralten Tonschindeln.
Ich werde ewig brauchen, bis ich das Dach durchschlagen habe, dachte Osse resigniert. Das sind keine irdenen Töpfe. Mir fehlt die Kraft.
Eine starke Bö traf ihn aus einer unerwarteten Richtung, schleuderte feuchte Staubklumpen in seine schutzlosen Augen, rüttelte an den durch Althopians Vorarbeit gelockerten Schindeln ringsum, so plötzlich und heftig, dass Osse sich fragte, ob jemand ihn vom Dach schütteln wollte wie eine reife Frucht von einem Baum.
Mach weiter, forderte seine Mutter in seinem Geist. Gib nicht auf! Wäre es nicht deiner würdig, als Retter des jungen Althopian gepriesen zu werden? Ist es nicht das mindeste, dass du seinen Vater davor bewahrst, sich selbst in Gefahr zu begeben?
Was soll ich mit Ruhm?, fragte Osse sich, erstaunt, dass sie, die niemals nach Bewunderung gestrebt hatte, auf einen solchen Gedanken kam. War es tatsächlich ihr Gedanke? Oder spielte ihm da sein eigenes Verlangen, der eigene verleugnete Stolz einen Streich?
Er riss ärgerlich an dem Hammer, befreite ihn auch wieder und schlug mit umso größerer Wucht erneut zu. Diesmal versank das Werkzeug tiefer im Dach, überwand den Widerstand. Osse hielt erschöpft inne und duckte sich unter dem Wind bäuchlings auf das nasse, schmutzige Dach.
Mama, dachte er.
Mach weiter, drängte sie. Schneller! Beeil dich! Mach, bevor der Ritter zurück ist!
Ich kann nicht. Ich bin nicht so stark. Meine Arme tun weh! Ich muss einen Moment rasten!
Keine Zeit! Weiter, Osse, weiter! Wenn du jetzt nachlässt, wird es sich den Jungen holen, und dann ist es zu spät, zu spät für euch alle!
Er stöhnte. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich körperlich so sehr anstrengen müssen.
Klettere doch einfach weiter heraus, riet sie ihm. Klettere ganz raus aufs Dach und stell dich hin! Dann hast du genug Kraft und kannst weiter ausholen!
Was verlangte sie da von ihm? Wenn er das tat, dann würde es nicht einmal eine Windböe brauchen, um ihn zu Fall zu bringen.
Ist es dir das Risiko nicht wert, für deinen Freund ein Opfer zu bringen? Seinem Vater, seinem armen Vater diese Last abzunehmen? Soll dein Freund sich sein Leben lang Vorwürfe machen, seinen Vater in den Tod getrieben zu haben?
Ihre Stimme war nun enttäuscht, etwas vorwurfsvoll. Osse, der vernünftige Osse, runzelte die Stirn.
Vertrau mir, forderte sie.
Wo kommst du her, Mama? Wie kannst du zu mir sprechen? Ich weiß, dass du hinter den Träumen bist. So weit kann deine Stimme nicht reichen.
Ich bin in deinem Herzen, behauptete sie. So kann ich zu dir reden, über die Vergänglichkeit hinweg!
Das erschien dem kleinen, dem verlorenen, dem einsamen Osse plausibel. Er gab sich einen Ruck, stemmte den Fuß gegen den Balken und schob sich durch den Film aus Moos und Schmutz und Tonziegelstaub voran, hangelte sich am Griff des Hammers hoch.
Steh auf, mahnte sie. Wenn du es richtig machst, dann bist du nur noch einen Schlag entfernt!
Wie um ihn zu ermutigen, ließ der Wind für einen Augenblick etwas nach. Der Regen spülte um seine Füße und hinab in die Tiefe. Osse zog den anderen Fuß nach und hockte sich hin. Bei den Mächten, wie steil war das Dach! Wenn er den Streithammer losließe, dann wäre es um ihn geschehen.
Steh auf, drängte sie ihn, verwirrte ihn und machte, dass ein Schaudern seine Haut überzog.
Wenn ich abstürze, fragte der erwachsene, der kluge, der bedachte Osse die geliebte Stimme in seinem Geist, wer wird sie beschützen? Ich hab es dir doch versprochen, auf sie achtzugeben! Wer soll es an meiner Stelle tun?
Die Stimme seiner Mutter verstummte. Er wurde still in seinem Verstand. Da stand er, gebückt, nur gehalten von einem Streithammer, der sich ins Dach gebissen hatte. Sein Blick war verschwommen, die ganze Welt war verschwommen und verschwand hinter Wasser und Wind.
„Osse Emberbey!”, hörte er den entsetzten Ruf von Waýreth Althopian, irgendwo hinter und unter sich in dem Loch.
„Lasst mich, Herr Waýreth!”, rief er zurück. „Es ist nicht wert, dass Ihr Euch zu Tode stürzt!”
„Bei den Mächten, Junge! Lass ab und komm sofort wieder her!” Er hörte eine Bewegung hinter sich, Der Ritter tauchte aus dem Loch auf, aber es war noch zu eng, als dass er sich hätte hindurchzwängen können.
„Bleibt zurück, Herr Waýreth”, sagte Osse, dem im selben Moment erschreckend klar wurde, wo er war, was er tat und sich kaum erklären könnte, wie er auf das Dach in den Regensturm gekommen war, gehalten nur von dem Streithammer, während Wind um ihn peitschte und an ihm rüttelte. „Ich bereite Merrit den Weg. Nehmt Ihr Euren Sohn entgegen!” Aber Althopian war schon wieder verschwunden. Den leisen Geräuschen, die durch den prasselnden regen und brausenden Wind zu hören waren zu urteilen, suchte er hektisch nach einem Werkzeug, um das Loch zu vergrößern.
Osse hörte das, stand und zitterte.
Was redest du da?, meldete sich da die Stimme seiner Mutter, die er für einen Moment vergessen hatte.
Du selbst hast es mir aufgetragen. Du musst es wissen!
Deine Schutzbefohlenen sind sicher.
Meine Schutzbefohlenen? Wovon redest du? Sag den Namen, forderte Osse kalt. Ganz im Widerspruch dazu loderte eine Emotion in ihm auf, die ihm so fremd war, dass sie ihn entsetzte. Zorn, blanker, heißer Zorn. Und die Stimme schwieg, als wisse sie nicht weiter.
Sie wusste nicht, wer Raýneta war! Sie mochte das mit dem Käfer und der Schnecke irgendwie dem armen Merrit entrissen haben, aber sie kannte nicht den Namen ihrer eigenen Tochter, mit der sie ihr Leben getauscht hatte. Die leben durfte, damit sie in ihr bei ihm war.
Die liebevolle Frauenstimme war nicht echt. Es war etwas anderes, etwas Gemeines, etwas Grausames in seinen Verstand eingedrungen, um ihn zu täuschen! Und er hatte sich von ihrer so heiß geliebten Stimme locken lassen wie ein Wiegenkind mit einem Stück Konfekt.
Und nun stand er, Osse Emberbey, der, um den es nicht schade war, hier, im Wind, im Regen, auf rutschigen, glatten Schindeln, und alles, was ihn davor bewahrte, in den Abgrund zu stürzen, war dieser spitzige Hammer, der im Dach steckte, in Scherben und viel zu locker.
„Osse Emberbey!”
Die Stimme der teirandanja kämpfte sich durch das Sturmbrausen. Das Mädchen hatte die Gelegenheit genutzt und war ihrerseits auf die Leiter geklettert, gegen den Protest und das Schelten des Ritters, das schwer zu verstehen war, denn ihr schlanker Kinderleib verschloss das Loch. Osse wandte sich um und sah einen unförmigen, blond-weißen Fleck hinter der Regenwand. Mehr erkannte er nicht ohne Brille. Er ließ zaghaft mit der einen Hand den Griff des Hammers los, tastete er nach den Augengläsern und versuchte, sie aufzusetzen. Aber es gelang nicht. Schief saß sie auf seiner Nase, aber durch den Regen, der sich augenblicklich darauf absetzte, erkannte er sie nun. Sie war eine Armlänge von ihm entfernt und versuchte, nach ihm zu greifen. Aber er war knapp außer ihrer Reichweite.
„Osse Emberbey! Ich, Manjév von Wijdlant und Spagor, deine künftige teiranda, ich befehle dir, sofort herzukommen!”
„Majestät! Das Dach … ich habe …”
„Du hast das Brot gegessen, Osse Emberbey,” rief sie, in ihrer Stimme eine seltsame Mischung zwischen Flehen, Vorwurf, Autorität und Scham. „Du hast mir deine Treue und deinen Gehorsam geschworen! Komm wieder runter und krieche zu mir hin!”
„Ich kann nicht!”, gestand er zitternd, während die Stimme der Mutter in seinem Kopf plötzlich zu kichern begann, ein Laut, der unglaublich falsch und grausig klang. Seine Mutter hatte niemals so hämisch und schadenfroh geklungen. „Ich stürze ab!”
„Ich verbiete dir, abzustürzen!”, rief die teirandanja, entgegen aller Logik. „Du sollst mein mynstir werden, Osse Emberbey! Ich werde dich bauchen, in ein paar Sommern!”
„Und Merrit? Wenn ich schon einmal hier bin …”
„Merrit …” Sie zögerte. Als ob es sie Überwindung kostete rief sie, während Althopian dumpf und vermessen mit ihr schimpfte: „Merrit Althopian soll der erste unter meinen yarlay werden, in allen Ehren und Pflichten. Ich brauche Euch! Ich brauche Euch beide!”
Osse lauschte auf das widerliche, gefälschte Lachen, die böse Stimme, die ihn übertölpelt, die irgendwie Zugang zu seinem Herzen gefunden hatte. Eine Windbö stieß nach ihm. Der Junge glitt aus, griff im letzten Moment zu und lag nun wieder auf dem Bauch auf dem Dach. Im selben Moment erzitterte der Turm erneut, und etwas knirschte und knackte im Dach, als stünde es unter Spannung. Osse kannte ein ähnliches Geräusch. Vom Eis. Im Winter. Seine Brille entglitt ihm und rutschte fort, aber Manjév haschte danach und erwischte das kostbare Ding, bevor es verloren war.
„Ich habe es”, rief sie ihm zu, kletterte noch ein Stück höher und war nun auch bis zur Taille im Freien.
„Majestät”, rief Osse entsetzt. „Geht zurück!”
„Nur, wenn du mitkommst! Komm, wir gehen zu yarl Althopian zurück. Ich verbiete ihm auch, mit uns zu schimpfen.”
„Ich traue mich nicht”, gestand er, während der Wind erneut Anlauf nahm. „Es ist so glatt … wenn ich den Hammer loslasse …”
Sie reckte sich zu ihm. Dann spürte er ihre kleine zarte Mädchenhand an seinem Knöchel.
„Ich halte dich fest”, versprach sie. „Und Herr Waýreth hält mich. Komm. Wenn du abrutscht, bleibst du an mir hängen. Dann ziehen wir dich rein!”
Er zögerte.
„Merrit würde nicht wollen, dass du das tust”, sagte sie eindringlich. „Du bist doch sein Freund. Wenn einem von euch etwas zustößt, dann … dann habe ich es verdorben!”
Osse schloss die Augen und empfahl sich den Mächten. Dann ließ er den Streithammer los.
Im selben Moment gab das Dach unter ihm nach, wie eine Eisscholle aus dem Wasser. Ein ohrenbetäubendes Knarren und Knirschen schallte durch das Brausen und Prasseln des Regensturms. Dann stürzten Schindeln, Holzsplitter und Osse Emberbey selbst in die Tiefe, wie durch die Öffnung eines Trichters, und Manjév von Wijdlant und Spagor, die zu nah an der Bruchkante gelegen hatte, wurde mit hinein gezogen in eine schwarze, formlose Finsternis, bevor Waýreth Althopian es verhindern konnte. In den Händen des Ritters blieben nur ein Kinderschuh und ein Fetzen weißer Leinenstoff übrig, den er von ihrem hübschen kostbaren Kleidchen gerade noch hatte erhaschen können.
Hinterlasse einen Kommentar