
„Siledaú”, sagte die fajía, „bevor der sinor Úldaise unsere Aufmerksamkeit beansprucht, würden wir gern mit dir über etwas reden, was wir in einem abgebrannten Garten nahe der Wüste gefunden haben.”
Die Alte zuckte innerlich zusammen. Also war es doch kein Zufall gewesen, dass die Regenbogenritter in jener Richtung unterwegs gewesen waren, die der Stallmeister ihr genannt hatte. Aber sie ließ sich ihre Beunruhigung nicht anmerken.
„Ist das nötig?”, fragte sie stattdessen gelangweilt. „Ihr solltet euch wirklich besser auf die notwendigen Dinge vorbereiten, und …”
„Das ist unsere Vorbereitung”, wagte der Goldene, sie zu unterbrechen. „Denn wir wollen mit dem sinor auch über eben diesen abgebrannten Garten reden. Unter anderem.”
„Was interessiert ihr euch denn plötzlich so für Gärten?”, fragte Siledaú zurück. „Habt ihr nicht genug mit den euren?”
„Siledaú”, fragte der Blaue, „wie konntest du gestern Nacht wissen, dass Advon mit uns die Brandstelle untersucht hat? Warst du zu dieser Zeit nicht in Aurópéa?”
„Ich hörte davon.”
„Von wem?”
„Von wem?“
„Ja, von wem? Dass du vom Feuer wusstest, ist ja noch hinnehmbar, schließlich leuchtete es weit genug in der Nacht. Aber wie konntest du aus der Entfernung wissen, dass Advon dabei war?”
Bei den stets misstrauischen Mächten! Was sollte das? Warum bissen sie sich an diesem Vorfall so fest? Was konnte sie antworten?
„Ich hätte mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Ich war nicht vor Ort, um ihn davon abzuhalten, wie es wohl besser gewesen wäre. Und ich konnte mir vorstellen, dass er euch so lange in den Ohren gelegen hat, bis ich ihm nachgegeben habt.” Sie rümpfte die Nase. „Unverantwortlich! Ihr scheint es darauf anzulegen, euren Sohn in Gefahr zu bringen!”
Der Blaue runzelte die Stirn. Er schien etwas sagen zu wollen, aber Elosál kam ihm zuvor. Sie schien noch nicht ganz überzeugt zu sein.
„Wie dem auch sei, Siledaú … wir haben uns vor Ort umgesehen. Es ist ein großer Zufall, so scheint es, dass es ausgerechnet den Garten unseres hohen Gastes getroffen hatte. Aber es wirft zugleich große Fragen auf. Durch ebensolchen Zufall wurde dort ein geheimer Zugang zu einer tiefen Höhle, einem alten Brunnen wohl, entdeckt.”
Zufall? Das konnte sie ihr nicht weismachen. Ganz vorsätzlich hatte das Balg herumgeschnüffelt, wie ein Hund, den man auf fremden Grund setzte.
„Tatsächlich? Ein geheimer Zugang?”, gab sie sich ahnungslos.
„Es ist gut möglich, dass der sinor nichts davon weiß. Der Zugang war zugewachsen und von den Flammen freigelegt.”
„Interessant”, sagte Siledaú mit so viel Desinteresse, wie sie aufbringen konnte.
„Wir gehen davon aus, dass es dich interessiert”, sagte Cýelú. „Wir haben deutliche Spuren von verderbter Magie darin gefunden.”
Siledaú blinzelte. Aber es gelang ihr, dem goldenen Blick standzuhalten.
„Magie?”
„Üble Magie. Dunkle Magie. Wir dachten, du könntest uns mit deiner Weisheit erleuchten. Was weißt du über diese Höhle, Siledaú?”
„Was soll das werden? Ein Verhör? Was soll ich denn über eine geheime Höhle auf dem Grund und Boden des sinor wissen?”
„Wer, wenn nicht du, wüsste mehr über die Taten der Schwarzgewandeten in diese Gegend?”, fragte der Grüne.
„Wir benötigen dein Wissen, Siledaú. Deine Kenntnisse.”
„Deine Weisheit“, schmeichelte der Gelbe.
„Ach? Erst zwingt ihr mich, all meine Unterlagen und Bücher auszuräumen, und nun wollt ihr meine Meinung?”
Cýelú erhob sich. „Siledaú”, sagte er sanft. „Nimm meine Entschuldigung an. Es war sicher vorschnell, so harsch auf deine Studien zu reagieren. Hätte ich davon gewusst, ich hätte sicher ein Wort für dich eingelegt.”
Siledaú schaute verblüfft zwischen ihm und der fajía hin und her. Elosál schwieg, versuchte nicht, im zu widersprechen oder zumindest etwas Empörung Ausdruck zu verleihen. Was hatten die beiden, hatte der ganze Schwarm vor?
„Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass nach all der Zeit so rasch hintereinander Spuren der Schwarzgewandeten aufscheinen”, sagte der Violette. „Erst bringt Meister Cýelú dieses Kind mit von seiner geheimen Reise, nun die Höhle …”
„Was hat es denn nun auf sich mit dieser Höhle?”, lenkte Siledaú schnell ein. Nicht, dass sich jemand nun gerade zu sehr für das Kind zu interessieren begann. Mochten sie den Verlust erst bemerken, wenn Úldaise seinen Besuch erledigt hatte.
„Es scheint”, sagte der Rote, „dass in dieser geheimen Höhle ein Schattensänger vor langer Zeit hinter die Träume gegangen ist.”
Die alte Frau wartete.
„Na und?”, fragte sie schließlich, als niemand weiter sprach.
„Ist das etwa nichts, was dich interessiert?”
Sie lachte auf. „Ihr solltet doch wissen, wie viele Schwarzmäntel es in den Chaoskriegen auf die eine oder andere Weise dahingerafft hat.”
„Das Interessante daran”, erklärte Elosál, „ist, dass wir wohl die schalen Reste einer mächtigen maghiscal gefunden haben, aber nicht die des Körpers, den sie einst umgeben hat.”
„Weder Knochen noch Besitz”, ergänzte der Orangene.
„Sag, Siledaú”, sagte Cýelú, „klär uns auf. Ist es Schattensängern möglich, ihren eigenen Körper irgendwie … zu verlieren?”
Siledaú schaute mit gut versteckter Entgeisterung vom einen zum anderen. War das ihr Ernst?
„War denn außer den … Resten von Magie sonst gar nichts mehr in der Höhle vorhanden?”
„Doch. Wir haben Menschenknochen gefunden.”
„Da habt ihr doch euren Körper.”
„Wir sind sicher, dass es sich bei den Toten in der Höhle nicht um den Schattensänger handelt, der seine Magie zurückgelassen hat.”
„Wie wollt ihr das so sicher sagen? Zu Dutzenden sind die Schwarzmäntel damals verreckt, wie die Fliegen, als der Verfluchte begann, unter ihnen zu wüten. Er hat sie erschlagen wie Ungeziefer.”
„Möglich”, sagte Elosál. „Aber wir alle waren dabei und haben es mit angesehen. Und keiner von uns wüsste, noch kann er sich vorstellen, dass die camat’ay Greise in den Kampf geschickt haben.”
„Greise?”
„Alte, mürbe Knochen, Siledaú. Die Mächte mögen wissen, wie es diese unglücklichen Unkundigen dorthin verschlagen hat, und wann. Mit der Schattensängermagie haben sie nichts zu tun.”
„Mit einiger Wahrscheinlichkeit”, sagte der Indigofarbene, „sind es vielleicht Opfer eines Verbrechens, derer sich Mordtäter entledigt haben. Es muss keinen Zusammenhang mit dem Schwarzmantel haben. Wir werden den sinor darüber in Kenntnis setzen,”
„Aber von der dort vergossenen Magie sagt ihr ihm nichts?”
„Nein. Was sollte ein Unkundiger mit diesem Wissen anfangen?”
Nun, zumindest hier zeigten sie Vernunft. „Mir wäre nicht bekannt”, sagte die Alte versöhnlich, „dass es einem Schattensänger möglich wäre, sich gänzlich in Luft aufzulösen. Wenn ihr weder Knochen noch Reste von Kleidung gefunden habt, kann das nur heißen, dass die Magie auf anderem Wege verloren und ihr Träger anderer Wege gegangen ist.”
„Aber kann sich eine maghiscal, eine Schattensänger-maghiscal, denn von einem Körper loslösen?”, fragte der Violette misstrauisch.
„Ich habe nie von einem solchen Fall gehört oder in meinen Studien davon gelesen. Aber vorstellbar ist es, in der Tat. Bedenkt, dass Noktáma sich Sterbliche zu ihren Dienen erwählt hat. Wenn ein camata’ay aus irgendeinem Grund bis an den Rand der Träume geschwächt ist, gelingt es ihm möglicherweise nicht mehr, seine Magie festzuhalten. Mir wäre nicht bekannt, dass es jemals so weit gekommen ist, zumindest nicht, dass man es irgendwo berichtet hätte. Aber selbst das, was ich an Büchern zusammentragen konnte, ist keine Allwissenheit.”
„Was”, fragte der Rote, „geschähe wohl mit solcher verlorengegangener Magie?”
Siledaú zuckte die Achseln. Langsam wurde ihr die Sache zu dumm. „Möglicherweise holt Noktáma sie sich zurück. Vielleicht hat sie noch Verwendung dafür.” Sie lachte abfällig. „Vielleicht wäscht sie sich aus und kehrt mit dem Wasser zurück an den Rand des Weltenspiels.”
„Vielleicht”, sagte Elosál nachdenklich, „kann uns dies das kleine camat’ay-Mädchen beantworten.”
„Elosál”, mahnte Cýelú, und Siledaú erstarrte.
„Nein, nicht vor allen”, beschwichtigte die fajía. „Lass mich mit ihr reden. Ich denke, ich weiß, wie ich sie danach fragen muss. Was sie von ihrer Mutter darüber weiß, wie Noktámas Gabe fortbesteht. Das ist eines der tiefsten Geheimnisse der Schattensänger.”
Siledaú konnte nicht widerstehen. Aber die Lage entwickelte sich in eine ungute Richtung. „Hast du Advon jemals erzählt, wie es bei euch ist? Wie Pataghíu euch die Magie zugeteilt und portioniert hat?”
„Siledaú!”
„Ist es nicht wahr?”
Cýelú erhob sich. Das war für alle das Zeichen, zu schweigen und zuzuhören.
„Das Mädchen ist im Schulzimmer”, sagte er sanft zu seiner hýardora. „Zusammen mit Advon.”
„Advon?”, mischte sich der Blaue ein. „Advon ist nicht im Schulzimmer.”
Siledaú erstarrte. Alarmiert starrte sie zu dem Blauen hin. „Was?”
„Du hast ihn doch selbst mit dem Korb losgeschickt”, sagte der Blaue mit misstrauisch gesenkten Brauen. „Hast du das etwa vergessen?”
„Was redest du da? Was für ein Korb?”
„Na, den mit dem Zeug, das die beiden Männer vorhin nach Aurópéa mitzunehmen vergessen haben.”
Elosál, Cýelú und die anderen schauten verwirrt von einem zum anderen. Siledaú glaubte zu fühlen, wie das Blut in ihren Adern abkühlte, auskristallisierte und zu Eis gerann. Dieser Bengel! Dieser verfluchte, vorwitzige, respektlose Bengel! Wie konnte er das fertiggebracht haben? Wie hatte er das Schloss überwunden, ohne jegliche Magie? Was wusste er? Und was hatte er vor?
Andererseits – nahm ihr das jetzt nicht die größte Erklärungsnot von den Schultern?
„Ich”, stellte sie klar, „habe Advon ganz bestimmt nirgendwohin geschickt. Und schon gar nicht aus der Burg heraus!” Wie wohl es tat, dass ihr das ohne die Notwendigkeit einer Lüge. „Der Junge muss sich aus dem Staub gemacht haben! Vielleicht ist er neugierig, was die braven Dienstleute zu transportieren haben.”
„Was denn?”, fragte Elosál bestürzt. „Was tragen sie für dich fort?”
„Schattensängerzeug eben! Die letzten Reste.”
„Bei den Mächten! Was ist das für ein seltsamer Tag! Erst das Kind, dann das Einhorn, dann läuft Advon weg …”
„Es hängt alles miteinander zusammen”, behauptete Siledaú geistesgegenwärtig. „Schattensängerbrut! Sicher hat das verdammte Gör das Einhorn gescheucht! Sicher hat es den Willen des Jungen ergriffen!”
„Sei nicht albern, Siledaú!” Nun war auch Cýelú auf den Füßen. „Schattensänger können niemandem ihren Willen aufzwingen.”
„Ich weiß”, sagte Siledaú genüsslich. „Das ist eure Kunst. Aber weiß man schon, was das Pack in all der Zeit an neuen Fertigkeiten entwickelt hat?”
„Wir müssen ihn suchen!”, rief Cýelú aus.
„Er kann noch nicht allzu weit gekommen sein”, sagte der Blaue. „Er ist zu Fuß und noch keinen Gongschlag lang weg.”
„Aber das Mädchen”, rief der Orangene aus. „Wenn es frei einher läuft …”
„Vergesst das schwarzgewandete Balg”, fuhr Siledaú der aufgescheuchten Bande entgegen. „Das ist gewiss über alle Berge. Mit etwas Glück läuft es in die Wüste und verendet dort unter Pataghíus Glanz, das Schattenbalg. Bestimmt hat es Advon in die Irre geführt, damit er sie aus den Augen lässt.”
„Das Mädchen kann nicht weg sein! Ich hätte sie gesehen!”, behauptete der Blaue.
„Nein. Nicht, wenn sie weiß, wie man durch Schatten taucht.”
„Aber …”
„Ich gehe ihn suchen. Wenn der Lausejunge sich in den Kopf gesetzt hat, meine Helfer zu verfolgen, weiß ich doch, wohin sie laufen. Ich hole ihn zurück. Das ist wohl das Mindeste, was ich für euch tun kann.”
„Wie willst du ihn einholen, Siledaú?”
„Ich weiß, wo ich ihn finden werde. Es kann ihm nichts geschehen.”
„Das hat keinen Zweck. Einer von uns wird dich im Sattel mitnehmen. Wir …”
„Dazu müsstet ihr erst die Einhörner von der Weide zurückholen”, schnitt sie ihm das Wort ab. „Und willst du den sinor stehen lassen? Jeden Moment kann er hier erscheinen. Überlass es mir, Cýelú.”
„Aber …”
„Nein, ihr hört mir zu! Nehmt Vernunft an. Ihr müsst den sinor empfangen. Das war eure Idee, und nun solltet ihr es durchführen, wie ihr es gedacht habt. Und Advon ist kein Wiegenkind mehr. Solange die Sonne noch nicht untergegangen ist, ist er in Aurópéa sicher. Wenn meine Knechte bemerken, dass er sie unerlaubt verfolgt, werden sie ihn ohnehin zurückbringen. Ich laufe ihm nach oder entgegen.”
„Deine Knechte?”
Verflucht! Sie wurde unaufmerksam! „Die braven Männer, die den letzten Rest an Schattensängerkram aus Pataghíus reinen Hallen entfernt haben.”
Elosál schaute fragend zu Cýelú hinüber. Der wich ihr unbehaglich aus.
„Tu, was du vorgeschlagen hast”, sagte er.
Siledaú verkniff sich ein Lächeln, als sie den Schatten auf Elosáls goldenem Blick bemerkte. Dann wandte sie sich rasch ab, bevor jemand sie zurückhalten konnte.
„Ich bin gespannt, was der sinor euch berichtet”, sagte sie im Hinausgehen. „Vielleicht weiß er mehr über eure Höhle, als ich euch sagen kann.”
Sie verneigte sich, wandte sich ab und verließ Pataghíus Halle so rasch wie möglich, ohne Misstrauen zu schüren. Niemand verfolgte sie, aber als sie die Treppe hinab eilte, hörte sie hinter sich, wie Elosál und Cýelú aufgebrachte Worte wechselten, während die arcaval’ay betreten schwiegen.
Gern hätte sie dieser Musik in ihren Ohren weiter zugehört. Aber nun hatte sie wichtigere Dinge zu tun.
***
„Das ist doch nicht möglich”, zischte yarl Altabete und zerrte an der Tür. „Sie muss sich verklemmt haben!”
Daap Grootplen kam ihm zu Hilfe, ohne den Bemühungen seines Freundes zu größerem Erfolg verhelfen zu können. Schließlich entschied sich sogar der teirand selbst, Hand anzulegen, aber die Tür blieb unverrückbar, als sei sie ein fester Bestandteil der Wand.
„Es geht so nicht,” sagte er schließlich zornig. „Wir müssen es mit einer Axt versuchen.”
„Dumm nur”, sagte Altabete, „dass wir die Werkzeuge oben gelassen haben.”
„Im Kerker steht noch eine Menge herum”, äußerte sein Sohn.
„Woher weißt du das?”
Jándris schaute seinen Vater stumm und vielsagend an, als sei er erstaunt darüber, dass ein Knabe solcherlei Geheimnisse nicht innerhalb der ersten zwei Tage des Aufenthalts an einer fremden Burg erkundet hätte. Und er, Jándris Altabete, er war schließlich schon fünf Sommer lang hier.
„Das ist altes Zeug und taugt nichts”, sagte Grootplen seufzend.
„Ja”, murmelte Láas. „Das haben wir auch bemerkt.”
„Vielleicht kann Althopian uns etwas Besseres zuwerfen, von oben”, merkte Emberbey an.
Kíaná von Wijdlant blickte nach oben. Althopian mit seinem kalkbestäubten Gewand war aus der Tiefe deutlich zu erkennen. Er näherte sich vorsichtig, Schritt um Schritt, der teirandanja in ihrem weißen, ebenfalls deutlich erkennbaren Kleidchen, die sich ängstlich an die Treppe klammerte. War der Durchmesser des Turms schon immer so weit gewesen? Es kam der teiranda vor, als sei alles ringsum plötzlich in seinen Maßen gewachsen.
„Still”, sagte sie ruhig. „Sprecht ganz leise. Solange Manjév nicht oben auf festem Grund steht, muss niemand wissen, dass sich die Tür vor uns geschlossen hat.”
„Mir will nicht in dem Kopf”, wisperte Grootplen, „wie das bisschen Regen so schnell das Holz hat verquellen lassen.”
„Redet Euch nichts ein, Herr Daap”, entgegnete sie. „Das war weder ein Wind noch ein Beben, und die Tür ist nicht wegen ein wenig Regen verschlossen. Es sollte mich nicht wundern, wenn uns niemand draußen hörte, würden wir alle zugleich gegen die Tür schlagen und um Hilfe rufen.”
„Du meinst, der Zauber ist von der Tür oben auf die hier unten übergesprungen?”, fragte Asgaý von Spagor gedämpft. Sie nickte.
„Ihr Herren”, sagte sie dann, „diese Tür ist magisch versiegelt. Mögen die Mächte uns gnädig sein.”
„Na bestens”, murrte Láas, dem es nicht anstand, in der Runde der Erwachsenen das Wort zu erheben. Aber niemand rief ihn zur Ordnung.
„Müssen wir jetzt für immer hier drinnen in dem dunklen Turm bleiben?”, fragte Tíjnje bang.
„Aber nein”, sagte Daap Grootplen und nahm seine Enkelin auf den Arm. „Wir sind hier ganz schnell wieder draußen.”
„Und Manjév muss jetzt nicht immer da oben bei Osse und Herrn Wayreth sein?”
„Nein, Tíjnje”, tröstete auch Jándris. „Wir sind bald wieder draußen. Die Tür klemmt nur ein bisschen.”
„Ja,” stimmte Láas zu. „Dann kannst du wieder mit Manjév spielen. Und wir melden uns beim Schwertmeister zurück.” Den allzu auskunftswilligen mestar erwähnte er nicht.
„Das ist gut”, sagte das kleine Mädchen. „Wir haben ja nicht einmal mehr den Pfannkuchenteller: Wir könnten verhungern.”
„Nein, Tíjnje”, tröstete die teirandanja, ohne den Ritter aus den Augen zu lassen, der sich der auf der zerbrochenen Treppe gefangenen Tochter näherte. „Selbst wenn die Tür nicht aufginge, von hier aus kommen wir zu den Vorratskammern.”
„Das bedeutet”, fügte Asgaý von Spagor nachdenklich hinzu, „wir müssen nur warten, bis jemand aus der Küche etwas aus den Vorräten braucht und die Tür von außen öffnet.”
„Ich schlage vor”, sagte Andriér Altabete trocken, „wir lassen alsbald wie möglich einen Verbindungsgang zwischen dem Vorratskeller und dem Gebäude anlegen.”
„Nein”, sagte die teiranda. „Oder wollt ihr, dass der Zauber sich vom Turm auf die ganze Burg fortsetzt?”
„Ich denke”, grollte Daap Grootplen, „es tut Not, den Schattensänger, der diesen Zauber geschaffen hat, augenblicklich herzubringen und zu zwingen, diesen Fluch von der Burg zu nehmen.”
„Das wird er mit Freuden tun”, sagte die teiranda. „Aber das bringt uns jetzt nicht weiter. Lasst uns warten, bis Althopian und Manjév in Sicherheit sind. Dann arbeiten wir uns an dieser Tür ab.”
„Und wie, Majestät?”, fragte Emberbey.
„Auch wir haben Gold bei uns”, antwortete seine Herrin und nahm sich die Krone vom Kopf.
***
Manjév klammerte sich an den Handlauf und spürte, wie die Treppe mit jedem Schritt, die der Ritter auf sie zu tat, bedrohlich knarzte und wackelte. Waýreth Althopian gab sich alle Mühe, so sacht aufzutreten, wie ihm möglich war. Aber so sehr er sich auch bemühte, jeder seiner Schritte erzeugte ein bedrohliches Vibrieren und beängstigende Geräusche, die das Holz von sich gab. Die Treppe wackelte, als hinge sie nur an wenigen Ankern.
„Bleibt ganz ruhig”, sagte Althopian. In seiner Stimme lag keine Emotion, weder Angst noch Ärger, kein Zorn darüber, dass die Befreiung seines Sohnes nun durch die Anwesenheit seiner jungen Herrin unterbrochen wurde.
Weit, zu weit, definitiv viel zu weit unter ihr waren die Erwachsenen, die anderen Kinder, ihre Freunde. Sie redeten zueinander, aber sie waren nicht zu verstehen, ein Gemurmel, das untrennbar ineinander lief wie die Soße in dem Kohlgemüse vom gestrigen Abend. Was für ein seltsamer Vergleich, kam es dem Mädchen in den Sinn. Warum gingen sie nicht fort? Natürlich, sie wollten abwarten, ob es Althopian gelingen würde, sie in Sicherheit zu bringen. Aber Sicherheit? Bot der enge, lächerliche Treppenabsatz vor dem verfluchten Turmgemach, ein Ort, der nicht dafür bestimmt war, dass sich jemand länger als für einen Schritt dort aufhielt, tatsächlich Sicherheit?
Osse war dort oben. Er hatte sich seit dem Erbeben des Turms nicht blicken lassen. Vielleicht hatte er noch mehr Angst als sie.
Waýreth Althopian stand nun nur noch ein paar Stufen über ihr. Wie schmutzig und erschöpft er aussah, während das trübgraue Tageslicht aus einer Fensterscharte nahebei auf sein Gesicht fiel. Wie hatten Sorge und Erschöpfung den Ritter verändert. Und doch, er war besonnen. Entschlossen. Jemand, der keine Furcht zeigen durfte. Ein Held, der ein weiteres Kind rettete.
„Kommt”, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. „Kommt zu mir, Majestät. Nur diese drei Stufen her zu mir. Dann kann ich Euch tragen.”
Sie klammerte sich fest und schaute ihm hilflos entgegen. Die Treppe erbebte sacht, obwohl sie beide still standen.
„Nehmt meine Hand”, forderte er sie auf. „Kommt herunter von diesen wackligen Stufen. Ich halte Euch fest.”
„Ich habe Angst, Herr Waýreth”, gestand sie leise. „Wenn ich mich bewege, bricht die Treppe vielleicht ab!”
„Es wäre Hochmut, hättet Ihr keine Angst”, hörte sie ihn, so ruhig, so gelassen. Klopfte ihm nicht auch das Herz zum Zerbersten in seiner Brust? Er stand auf einer losen Holztreppe, unter sich ein Abgrund, der nicht natürlich war.
Hätte sie nicht diesen dummen, diesen selbstsüchtigen und hochmütigen Brief geschrieben, keiner von ihnen wäre in diese Lage geraten. Bei den Mächten! Was hatte sie nur dazu getrieben?
„Die Treppe trägt uns beide”, sagte er in leisem Plauderton. „Ich werde Euch auf meinen Arm nehmen und empor tragen. Ihr müsst nur die Augen schließen. Aber kommt mir nur diese wenigen Schritte entgegen.”
Sie gab sich einen Ruck. Die Treppe bebte, ganz sacht.
„Oben seid Ihr in Sicherheit”, lockte er. „Osse Emberbey ist auch da. Wir warten dort oben einfach, bis die anderen Herren und Eure Eltern einen Weg finden, die Treppe zu überbrücken.”
Ein zaghafter Schritt auf ihn zu. Seine Hand vor sich, so stark, so kampferprobt.
„Was geschieht hier, Herr Waýreth?”, fragte sie leise. „Was war das für ein Windstoß? Wieso ist der Turm plötzlich so tief?”
„Darüber, Majestät”, sagte er munter, „machen wir uns später Gedanken. Kommt zu mir. Habt keine Angst.”
„Aber ich habe Angst!”
„Stellt Euch einfach vor”, scherzte er, „Ihr wäret eine teirandanja in Gefahr, wie in einem Märchen eines báchorkor. Und hier ist er schon, der tapfere Recke, zu Diensten, Euch zu beschützen.”
Noch ein Schritt.
„Was gewährt Ihr mir für meine Dienste, Majestät”, fragte er. „Welchen Lohn würdet Ihr mir geben?”
Sie stutzte. Was redete er da?
„Denkt nach, Majestät. Bei den Mächten, denkt nun an etwas anderes als an die Tiefe. Konzentriert Euch auf etwas Heiteres.”
„Was wünscht Ihr, edler Herr?”, ging sie auf seine Rede ein.
„Ich brauche ein neues Pferd”, behauptete er. „Gebt mir eines, mit … mit einem Fell, grün wie Moos!”
Ganz gegen ihre Laune musste sie lächeln. Der Ritter mit dem grünen Pferd, das war ein Lied, das die opayraé ganz kleinen Wiegenkindern im Scherz sangen. Er wollte sie mit etwas Lächerlichem ablenken. Und dabei war ihm sicher selbst erbärmlich zumute.
„Womit wollt Ihr es füttern, das Pferd?”, fragte sie. Noch ein Schritt.
„Mit Nüssen und Tang”, antwortete er und reckte sich ihr entgegen. Seine Hand …
„Und wohin wollt Ihr darauf reiten, Herr Waýreth?”
„Pataghíu will ich davonreiten, und Noktáma voraus. Über das Eis und durch das Feuer. Gebt mir die Hand, Majestät. Bitte!”
Manjév zögerte. Sie war nur noch eine Armlänge von ihm entfernt. Aber um ihn zu erreichen, hätte sie den Handlauf loslassen müssen, an den sie sich klammerte und der unter ihren Händen zu beben schien wie ein lebendiges Tier.
„Ihr sollt es haben, das Pferdchen aus Moos”, sagte sie leise. „Woher kennt Ihr das Lied?”
Ein Ächzen ging durch die Mauern. Und von oben erschallte ein grässlicher Ton. Etwas zerbrach wie tausend irdende Töpfe.
„Meine hýardora hat es meinem Sohn gesungen”, sagte Waýreth Althopian.
Sie griff zu. Und über ihnen ächzten Stein, Holz und Raum.
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