
Ein Prachtvogel trompetete empört, und dann war ein Rauschen und Sirren in der Luft, das die beiden Männer innehalten ließ.
„He!”
Úldaises Knecht ließ erschrocken die kleine Hand los. Das Mädchen kreischte auf und haschte panisch nach der Felskante, während der Mann hochfuhr und sich dabei übel den Kopf stieß. Draußen wieherten und schnaubten die Pferde und das Maultier unruhig.
„Hilfe!”, schrie das kleine Mädchen. „Nicht loslassen! Nicht da runter!”
„Haltet sie gut fest und zieht sie wieder heraus! Und wehe, ihr lasst sie fallen!”
„Wer ist denn da?”, rief der andere, vor Schreck verkrampfte Mann, der das zappelnde Kind am Fuß hielt und nicht wagte, sich zu bewegen.
„Das seht ihr, wenn ihr rauskommt! Alle drei! Lasst euch nicht einfallen, sie loszulassen!”
Der erste der beiden rieb sich die Stirn und schielte über seine Schulter und auf den Schatten, der sich unvermittelt von oben über den Hügel gesenkt hatte. Dann hechtete er rasch nach vorn und packte das Mädchen bei der Hand.
„Die Regenbogenkerle!”, japste er erschrocken. „Sie sind da!”
„Ich hab gewusst, das geht schief”, fluchte der andere. Laut rief er: „Nur die Ruhe, edle Herren! Das ist alles nur ein …”
„… ein Missverständnis!”, schloss der andere sich an. „Ja, ein … wir haben gar nichts gemacht!”
„Zieht sie endlich raus!”
Sie krochen rückwärts aus der Höhle heraus. Kaum war es im Freien, wehrte sich das Kind und wollte sich losreißen, aber es gelang ihm nicht, sich ihnen zu entwinden.
„Halt sie”, wisperte der eine seinem Kumpan zu. „Wenn das ein Missverständnis ist, bringt der Alte uns um!”
Sie wandten sich um. Der Schatten glitt über sie hinweg, und dann setzte das Einhorn schwer hinter ihnen auf. Er schnaubte und tänzelte auf den Hinterbeinen, bis es in ihre Richtung schaute. Die beiden wichen eingeschüchtert zurück, bevor sie einen Blick auf den Reiter warfen. Ein Kind, ein Knabe von höchstens zehn Sommern, mit rückenlangem, goldblondem Haar und perlmuttschimmernden Hausgewändern.
„Das is’ ja gar kein Ritter,” sagte der eine verwirrt.
„Verflucht! Das Balg aus Forétern!”, rief der andere, der ihn erkannte. „Der mit dem verdammten Kuchen!!”
„Advon!”, rief das Mädchen erleichtert aus. „Noktáma sei gepriesen!”
„Es ging nicht schneller, Dýamirée. – Lasst sie los”, gebot das Kind, das da stolz auf dem ungesattelten Einhorn trohnte und dabei nahezu zwischen den riesigen Schwingen verschwand.
„Und wenn nicht?”, fragte der erste Knecht und stand auf, zerrte das Mädchen ebenfalls wieder auf die Füße. „Wer bist du denn überhaupt?”
„Ich bin Advon Irísolor. Ich bin der Sohn des Großmeisters und der fajía.”
Der Mann stieß einen derben Fluch aus, aber der andere wagte noch Widerworte. Ihm wohl noch nicht klar, mit wem er es zu tun hatte.
„’n kleiner frecher Wicht biste! Darfst nicht reinreden in das, was unsereiner tut! Das ist Gesetz!”
„Stimmt!” Nun fiel es auch den anderen wieder ein. „Ihr macht euren Kram. Wir unseren.”
„Aber das ist meine Sache! Lasst Dýamirée los! Sonst …”
„Sonst?”
„Sonst zeigt euch mein Einhorn, wie gefährlich er sein kann! Er ist noch nicht zugeritten, aber mit euch beiden wird er wohl fertig! Zeig es ihnen, Farbenspiel!”
Das Einhorn trippelte mit einer für ein so großes und massiges Tier irritierenden Anmut vor ihnen herum, bis es nahe an dem verkohlten Ölbaum stand. Dann wandte es sich abrupt um und keilte so fest dagegen aus, dass das Holz endgültig in einem Splitterregen zerbarst und der Stamm fiel. Dann senkte es sein Horn, richtete es auf die beiden Männer aus und begann, zu stampfen und zu scharren, als wolle es gleich vorschnellen wie ein Geschoss. Seine Klauen rissen die Erde so tief auf, dass schwarze Erde unter dem drögen Wüstenboden zum Vorschein kam.
„Und, nebenbei”, sagte der Junge, während er versuchte, bei all diesem Imponiergehabe seines Reittiers nicht den Halt zu verlieren, „ich bin der Sohn mächtiger Magier. Ich habe Zauberkräfte, da würdet ihr staunen, wenn ihr ahnen würdet, was ich damit alles kann. Und ich will, dass ihr das Mädchen loslasst.”
„So. Du willst?”
„Ja, ich will. Und wenn ihr versucht, euch meinem Willen zu widersetzen, dann …”
„Dann?”
„Dann kann das ziemlich schmerzhaft für euch werden. Ganz schlimm, sag ich euch. Niemand sollte versuchen, dem Willen eines Regenbogenritters nicht zu gehorchen.”
Der, der die Hände frei hatte, verschränkte die Arme. „Ich glaub dir kein Wort. Du führst uns doch an, du Bengel!”
„Willst du es ausprobieren? Ich …” Der Junge zögerte. „Hast du schon mal Bauchweh gehabt? So richtig feste? So fängt es an und wird noch mindestens fünfmal so schlimm. Bauchweh, aber im ganzen Körper! Das passiert dir, wenn du nicht willst, was ich will!”
Der, der Dýamirée gepackt hatte, stieß sie hastig von sich. Das Kind stolperte auf das Einhorn zu und direkt vor seine Klauen. Augenblicklich erstarrte das Einhorn. Sein Fuß schwebte über dem Kind. Dann setzte es ihn sanft ab, sodass das Mädchen zwischen seinen Vorderbeinen lag. Freundlich schnuppernd senkte sich die Schnauze über das Kind.
„Da haste sie! Aber verschon uns mit Bauchschmerzen!”
Der Junge grinste. „Das liegt allein an euch. Aber was macht ihr hier eigentlich mit dem Mädchen?”
„Das hat alles seine Ordnung!”, behauptete der eine. „Anordnung von sinor Úldaise!”
„Das glaub ich euch nicht! Wieso soll der sinor Kinder verschwinden lassen? Und wie kann er überhaupt von ihr wissen? Sie ist doch erst seit heute früh hier!”
Die Männer schauten einander an.
„Mir kam doch gleich was komisch vor mit der Sache”, murrte der eine wieder.
„Steh auf, Dýamirée”, sagte Advon. „Und geh aus dem Weg. Dann hat Farbenspiel freie Bahn, falls die beiden frech werden.”
Sie umarmte den Kopf des Einhorns und drückte ihre Stirn dankbar gegen die samtige Nase. Dann krabbelte sie außer Reichweite und stand auf. Die beiden Knechte schauten machtlos zu.
„Das wird großen Ärger geben! Wenn der sinor erfährt, dass du das Mädchen gehen gelassen hast, dann müssen sich deine Eltern verantworten!”
„Ja, genau! So ist das Gesetz! Ihr habt in Aurópéa nichts zu melden!”
„Woher wollt ihr wissen, dass euer sinor Úldaise sich nicht zuvor in die Angelegenheiten meiner Eltern eingemischt hat? Wo es doch mein Vater war, der das Mädchen zuerst entführt hat?”
„Das stimmt!”, stimmte die Kleine vorlaut aus dem Hintergrund zu. „Ich bin nämlich eine Gefangene von Meister Cýelú! Da kann mich euer Herr nicht so einfach nochmal verschleppen! Was bildet der sich denn ein?”
„Da hört ihr’s!”, sagte Advon, dem all das vollkommen plausibel und absurd zugleich vorkam. „Aber ich will trotzdem wissen, was der sinor vorhat! Und woher Siledaú ihn kennt.”
„Können wir dir nicht sagen, Kleiner! Haben die alte Schrulle vorhin zum ersten Mal gesehen.”
„Hm. Dann kennen die beiden sich vielleicht aus Aurópéa.” Advon klopfte Farbenspiel lobend den Hals. „Komisch. Das passt doch alles gar nicht zusammen.”
„Musste wohl selbst mit der Alten klären.”
„Mach ich.”
„Und was sollen wir nun machen?”, klagte der andere. „Wenn du das Mädchen mitnimmst, dann bringt unser Herr uns um! Mindestens!”
„Ihr sagt ihm einfach, er kann ja versuchen, sie später im Cielástel wieder auszulösen. Oder ihr seht zu, dass ihr ganz schnell aus Aurópéa wegkommt.”
„Du Neunmalklug! Wir hätten hierfür genug Lohn bekommen, um irgendwo neu anzufangen! Und dann kommst du, und …”
„Das ist ungerecht!”, setzte der andere trotzig hinzu.
„Ihr hättet Geld dafür bekommen, kleine Kinder in tiefe Löcher zu werfen? Das ist ganz schön gemein!”
„Wir müssen sehen, wie wir auskommen! Du ruinierst unser Leben, Rotzbengel.”
Farbenspiel grollte drohend, woraufhin die beiden sich zusammenduckten und die Blicke niederschlugen.
„Habt ihr für den Mann, den ihr in die Wüste gebracht habt, denn kein Geld bekommen?”
Nun waren die beiden fassungslos.
„Was weisste denn über den báchorkor?”
„Ein báchorkor also. Was hat der denn gemacht, dass der sinor ihn in die Wüste geschickt hat?”
„Na, das hier!” Der etwas Einfältigere deutete mit großer Geste um sich. „Hat den Garten vom sinor abgefackelt!”
„Wart ihr das denn nicht selbst? Wer von euch hat denn seine Hose hier verloren? Und das Lagerfeuer entspringen lassen?”
„Ach ja.” Der Einfältige errötete. „Stimmt ja.”
Das Mädchen kicherte, wahrscheinlich über die Vorstellung, dass der tumbe Kerl entblößt herumgelaufen war. Offenbar hatte es zwischenzeitlich kein bisschen Angst mehr.
„Also, womit hat ein báchorkor den sinor geärgert?”
„Na ja”, gab der andere zu. „So genau hab ich das auch nicht verstanden. Wir haben den Kerl nur geschnappt und in den Brunnen geworfen, und dann fing der ganze Ärger an.”
„Ihr werft wohl gern Leute irgendwo rein.” Advon war entrüstet. „Wo habt ihr ihn hingebracht? Wo finde ich ihn jetzt?”
Die beiden schauten einander verdutzt an. Dann begann der eine, zu prusten. Der andere versuchte, halbwegs ernst zu bleiben, was ihm mit Mühe glückte.
„Kennst du die Ausfallstraße nach Norden, etwa auf dreiviertel Strecke zwischen eurem Bau und der Stadt?”
„Klar. Kenne ich.”
„Von da aus nach Süden, einfach der Nase nach. Da kommen dann irgendwann sehr hohe Dünen und dahinter eine Senke. Wie ein Talkessel, ein kleiner. Da haben wir ihn gelassen.”
„Danke.” Advon nickte ihnen zu und wandte sich an das Mädchen. „Da hinten, guck, der Stein. Kommst du da allein rauf, Dýamirée? Ich helf dir dann auf Farbenspiels Rücken.”
Sie hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört und nickte zustimmend. Flink wie ein Windninchen huschte sie zu dem Findling und kletterte geschickt herauf.
„Und was haste vor mit dem báchorkor?”, fragte der eine, breit und hässlich grinsend.
„Ich will mit ihm reden. Ich will wissen, was es mit dem sinor auf sich hat. Ihr wollt oder könnt mir das ja nicht sagen.”
„Nicht, dasste enttäuscht bist, Kleiner”, mischte sich der andere ein.
„Wieso?”
„Na, dieser báchorkor erzählt dir bestimmt keine Gutenachtgeschichte mehr.”
Der Junge runzelte die Stirn. „Was?”
„Na, der ist mausetot, du Hohlkopf! Deshalb haben wir ihn doch da abgeliefert! Damit er für immer sein plapperndes Maul zumacht!”
Der Junge ließ die Schultern sinken. „Aber … aber es ist doch erst ein paar Gongschläge her, oder?”
„Was glaubst du denn, wie lang so einer in der prallen Hitze durchhält? Da kocht einem das Gehirn weg, noch bevor der Durst kommt! Den Kerl gibts nicht mehr!”
„Da hättste früher kommen müssen”, höhnte der andere.
Der Junge starrte sie betroffen an. Offenbar hatte er keine Vorstellung davon gehabt, wie empfindlich ein unkundiger Menschenkörper war.
„So schnell?”, wisperte er.
„Kannst ja nachgucken. Würd’ ich an eurer Stelle aber lassen. Is’ gefährlich in der Wüste, für kleine Kinder.”
Der Junge trieb sein monströses Reittier an. Das schillernde Wesen schritt anmutig neben den Stein, und das kleine Mädchen kletterte umständlich hinter ihm auf den ungesattelten Rücken.
Die beiden regten sich. „He! Und was ist mit uns?”
„Nun”, sagte der Knabe geistesabwesend, „ich lass euch laufen, Sucht euch aus, vor wem ihr mehr Angst habt. Vor eurem sinor oder meinem Vater.”
„Oder vor meinem Vater”, setzte das Mädchen hinzu. „Der ist bestimmt schon auf dem Weg hierher.”
Sie ritten an ihnen vorbei. Der Junge wirkte sichtlich aufgestört. Das Mädchen hatte Mitleid im Blick, als sie auf die beiden Männer hinabschaute.
„Bringt euch in Sicherheit”, empfahl es sanft. „Und macht eure Herzen sauber.”
„Halt dich gut an mir fest, Dýamirée”, sagte der Junge fürsorglich. „Manchmal buckelt er.”
„Ich bin allein auf Perlenglanz geritten”, gab sie rätselhaft zurück. „Ich kann das.”
Das Einhorn trabte an und begann, zu flattern. Der Schwingenschlag wirbelte Asche und Sand auf, blendete die beiden Männer und ließ deren wartende Pferde scheuen. Als sie wieder schauen konnten, waren die Kinder auf dem gefiederten Monster bereits in der Luft und hielten auf Süden zu. Der Prachtvogel flatterte zornig trompetend um sie herum wie ein Greif, bevor er in Richtung Aurópéa abdrehte.
„Und jetzt?”, fragte der Dümmere ratlos.
Der andere holte tief Luft. Dann wandte er sich ab und ging energischen Schrittes zu den Pferden hinüber. „Es ist nicht zu spät. Wir beichten es dem Alten.”
***
„Ich habe nicht erwartet, dass ein Kind im Cielástel sein könnte”, sagte Yalomiro.
„Vielleicht ein junger Regenbogenritter?”, fragte ich. „Ein Schüler?”
„Nein. Nein. Arcaval’ay haben niemals Schüler. Sie geben ihre Kunst nicht von Generation zu Generation weiter, so wie wir es tun.”
„Nicht?”
„Sie sind keine normalen Menschen wie wir, Salghiára. Sie müssen ihre Gemeinschaft nicht erneuern.”
„Möglicherweise haben sie anderswo noch mehr Kinder gestohlen.”
„Das wäre fast noch seltsamer”, murmelte er mit nachdenklichem Blick auf Dýamirées Stofftier.
Wir hatten das sonderbare Turmzimmer noch nicht verlassen. Aber ich spürte, wie ich mich an das allgegenwärtige Gold gewöhnte. Aus dem atemraubenden Schmerz war zwischenzeitlich ein fühlbares, aber erträgliches Unwohlsein geworden, etwa so, als trüge ich am ganzen Körper Kleidung, die eine Spur zu eng war und sich nicht lockern ließ. Je mehr ich mich an dieses irritierende Gefühl gewöhnte, desto deutlicher spürte ich auch die übrigen ungewohnten Einflüsse der Umgebung. Ich war die angenehme Kühle des Boscargén gewöhnt, aber hier herrschte eine merkwürdige, trockene Hitze, die möglicherweise unter der gleißenden Sonne draußen wesentlich unangenehmer war als hier im Gebäude. Als ich sehr vorsichtig die Wand aus diesem seltsam schillernden Stein berührt hatte, hatte sie sich kühl angefühlt. War es überhaupt Stein? Ich schaute wieder hinaus, auf die Mauern und Gebäude gegenüber und mir kam die schräge Idee, dass das der Cielástel in Wirklichkeit ein riesiges Kunstwerk aus Muranoglas war.
Und dann verschattete sich der Hof unten für einen Moment, und ich hörte etwas, ein seltsames Brausen und Rauschen, das vom Himmel kam.
Kurz darauf wurde ich Zeugin eines atemberaubenden Anblicks. Acht Einhörner setzten zum Landeanflug auf den Burghof an, jedes so imposant und einschüchternd wie das, das Dýamirée Entführer am See geritten hatte. Aber keines von ihnen hatte eine annähernd normale Fellfarbe. Die geflügelten Wesen waren leuchtend bunt, jedes in einer anderen Farbe. Ich sah ein himmelblaues, ein knallgelbes und ein feuerrotes, ein oranges, ein grasgrünes, ein violettes und eines von einem dunklen Blauton. Und dazwischen ein etwas kleineres, mit golden schimmerndem Fell.
„Da sind sie ja”, sagte Yalomiro und zog mich behutsam ein Stück weit vom Fenster zurück. Er hielt mich fest und spähte an mir vorbei. „Ziemlich ungeordnet, wie mir scheint. Da stimmt etwas nicht.”
Tatsächlich. Auf den zweiten Blick und in Relation zu ihren jeweiligen Reitern schien die Gruppe etwas chaotisch. Ein Teil der Einhörner trug kein vollständiges Sattelzeug, und der Mann in dem goldenen Rüstzeug, den ich schaudernd als Cýelú Irísolor, den Entführer unserer Tochter erkannte, hatte nicht auf seinem eigenen gesessen. Ein Regenbogenritter in Blau kam herangeeilt, um das entsprechend gefärbte Tier entgegenzunehmen.
Ich war verwirrt über diesen ersten Anblick der arcaval’ay, den ich auf diese Weise erhaschte. Das Prunkgemälde in Valvivant hatte ihr Aussehen nur unzureichend abbilden können. Dort hatten sie ausgesehen wie Menschen in bunten Gewändern und vergoldetem Rüstzeug. Aber das entsprach nicht den Tatsachen. Als Erstes fiel mir ins Auge, dass Cýelú Irísolor im Vergleich mit dem blauen Ritter, der neben ihm stand, deutlich kleiner wirkte. Das lag daran, dass der arcaval’ay von sehr hochgewachsener Gestalt war. Alle sieben, die ich nun sehen konnte, waren groß und graziös – und sie sahen exakt gleich aus, abgesehen von der Farbe ihrer Gewänder, die jeweils mit der ihrer Reittiere übereinstimmte. Alle stiegen ab und entledigten sich ihrer Helme. Die Gesichter konnte ich aus der Entfernung zwar nicht im Detail erkennen, aber ich empfand sie als beunruhigend. Die Regenbogenritter glichen einander wie ein Ei den sechs anderen. Jeder trug goldenes Rüstzeug. Sie war … nicht ganz menschlich. Cýelú Irísolor war neben ihnen in all seinem Selbstbewusstsein so … gewöhnlich.
„Sind sie Brüder?”, flüsterte ich verwirrt. „Siebenlinge?”
„Das weiß Pataghíu allein”, raunte Yalomiro zurück. Die Ritter schienen ihn kaum zu interessieren. „Schau. Da ist sie. Die fajía. Elosál Irísolor, die hohe Dame. Zu ihr müssen wir vordringen.”
Dýamirées Entführer half der Person von dem goldenen Einhorn aus dem Sattel, stützte sie galant und bot ihr seinen Arm an. Es handelte sich um eine Frau, eine Dame mit einem wallenden Gewand, das aus mehreren Lagen hauchzarter Schleier zu bestehen schien, in denen alle existierenden Pastellfarben zugleich vorkamen und zusätzlich mit Gold und Glasperlen verziert sein mussten. Ihr langes, schillerndes Haar hatte sie mit einer Haube gebändigt, die ebenfalls Schmucksteine als Dekoration hatte, denn immer, wenn sie sich bewegte, leuchteten Lichtblitze auf. Sie war wunderschön. Und ebenfalls alles andere als menschlich.
Neben Cýelú Irísolor wirkte sie zart, aber keineswegs zerbrechlich. Der blaue Ritter schien der Gruppe Bericht zu erstatten, jedenfalls begleitete er seine Rede mit gemessenen Gesten und die anderen hörten im still zu.
Dann nahmen die Regenbogenritter ihre Einhörner beim Zügel und führten sie aus unserem Blickfeld. Ich staunte, wie harmlos die riesigen Tiere wirkten, als sie ihren Herren hinterher trotteten. Das goldene Einhorn folgte den anderen, ohne dass jemand es führen musste. Die fajía und Cýelú Irísolor blieben zunächst alleine zurück. Sie schienen ein paar Worte miteinander zu wechseln. Ich versuchte, auf die Körpersprache des Goldenen zu achten. Kam es mir nur so vor, oder war ihm unwohl in seiner Haut?
Dann berührte sie ihn sanft am Arm, und beide legten ihre Stirnen aneinander. Einige Atemzüge lang. Hätte nicht mein Gedanke daran, dass dieser Mann mir Dýamirée entrissen hatte, so sehr gestört, ich hätte dieses Bild sehr romantisch gefunden. Es war so zärtlich, so liebevoll. So vertraut.
Ich wandte mich zu Yalomiro um. Er zog mich vom Fenster weg, legte den Finger an die Lippen und deutete zur Tür hinüber. Da war etwas. Schritte? Jemand, der die Treppe heraufkam?
Yalomiro schlich hinüber und schob die Tür vorsichtig mit der Fingerspitze eine Winzigkeit auf.
Tatsächlich. Da war jemand, jemand, der sich keine allzu große Mühe machte, leise zu sein. Die Schritte, die da draußen auf den Stufen platschten, waren schwerfällig, aber nicht so, als ob jemand Unsportliches den Turm erklomm. Ich hatte einmal, in meiner ursprünglichen Welt, in einem Haus gewohnt, in dem die Mehrzahl der Mieter im Rentenalter war. Diese Art von schlurfendem Schrittgeräusch kannte ich.
„Verstecken?”, raunte ich.
„Wozu?”
Ja, wozu. Wie albern. Es war doch gerade unser Ziel, mit den Hellen Magiern zu reden. Wer immer da gerade den Turm herauf schnaufte, würde uns sicherlich miteinander bekannt machen können. Yalomiro nickte und öffnete die Tür, um dem betagten Burgbewohner entgegenzutreten, da …
„Siledaú?”
Ich zuckte zusammen. Das war Cýelú Irísolor. Diese Stimme würde ich nicht vergessen. Niemals.
Die Schritte auf der Treppe stoppten.
„Siledaú? Bist du da oben?”
„Was willst du?”, antworte eine grantige Altfrauenstimme.
„Mit dir reden. Komm bitte herunter.”
„Ich hab keine Zeit, jetzt mit dir …”
„Elosál wünscht, dich zu sehen.”
Die alte Frau seufzte ungehalten. „Gerade jetzt?”
Nun eilten metallische Schritte näher. Ich zog mich instinktiv hinter Yalomiros Rücken zurück. Er hielt den Atem an und lauschte interessiert.
„Was hast du so Dringendes vor?”
„Nun, ich glaube, Advon sollte endlich erfahren, dass sein Einhorn …”
„Nicht jetzt, Siledaú! Die anderen bringen die übrigen Tiere auf die Weide, und wahrscheinlich schließt es sich der Herde wieder an. Es ist nicht nötig, dass mein Sohn sich derweil Sorgen macht!”
„Aber …”
„Siledaú, die Großmeisterin will dringend mit dir reden. Es gibt da ein paar … Unklarheiten.”
Die alte Frau schwieg. Es wäre interessant gewesen, nun ihre Mimik zu sehen.
„Unklarheiten? Worüber?”
„Nun, im Wesentlichen über das Feuer gestern Nacht.”
„Über das Feuer?”
„Komm mit und klär das mit ihr. Und du wirst doch sicher dabei sein wollen, wenn unser nobler Gast aus der Stadt bei uns eintrifft?”
„Pah. Hab Besseres zu tun. Aber um des Friedens willen …”
Sie patschte ein paar Stufen abwärts. Aber Cýelú Irísolor war noch nicht am Ende.
„Ist das kleine Mädchen noch bei ihm, Siledaú?”
„Sicher. Was glaubst du, was dem Balg zugestoßen sein sollte? Oder hast du Angst, Advon könnte sie aus dem Fenster geworfen haben?”
„Siledaú! Das reicht!”
„Es reicht? Willst du wissen, was alles passieren könnte, wenn das Mädchen …”
„Sobald Úldaise Tiáramalé wieder gegangen ist, Siledaú, werden wir uns der Kleinen annehmen. Bis dahin lässt du sie in Ruhe, beide! Meinen Sohn und das kleine Mädchen. Es dauert mich ohnehin, dass wir uns in all der Hektik noch nicht angemessen darum kümmern konnten.”
Ich schauderte. Was mochte er mit kümmern meinen?
Aber noch sonderbarer war die Antwort der Alten.
„Wie sprichst du mit mir, Cýelú Irísolor? Was hast du für einen Ton am Leib? Dir ist wirklich nicht klar, welches Unheil du hierher geschleppt hast, nicht wahr? Du bist ein Schwachkopf!”
Er antwortete nicht. Doch ihre gebrechlichen Schritte schlappten weiter abwärts.
Dann folgte er ihr. Das Klappern seines Rüstzeugs wurde leiser. Schließlich war ich sicher, dass beide den Raum verlassen hatten. Ich eilte zurück zum Fenster und spähte hinaus. Tatsächlich konnte ich von hier die Tür sehen, aus der die zwei herauskamen. Eine gebeugte, magere alte Frau in grauen Gewändern schlurfte erstaunlich energisch quer über den Hof und aus meiner Sicht. Ich musste unwillkürlich an eine zerrupfte Krähe denken. Ihre triste Gewandung passte nicht in diese farbenfrohe Umgebung. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wer das überhaupt war, stutzte ich, was für einen Fremdkörper sie abgab.
Cýelú Irísolor ging ihr nach, die Schultern gesenkt. Er wirkte wie ein gescholtener Hund, eine Haltung, die so unpassend war wie die triste Aufmachung der alten Frau.
Yalomiro war bei der Tür stehen geblieben. Ich schaute ratlos über meine Schulter zu ihm hin.
„Siehst du hier irgendwelche Kinder?”, fragte er.
„Nein.”
„Ich auch nicht. Komm. Lass sie uns suchen.”
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