Siledaú war, kaum dass sie Úldaises Knechte aus dem Cielástel wusste, in den Stall zurückgekehrt, den Stallmeister im Schlepp, und beaufsichtigte gedankenverloren, wie der verwirrte Mensch versuchte, das Chaos in der Gerümpelecke zu beseitigen. Sie hatte dem Mann nochmals eingeschärft, kein Wort darüber zu verlieren, dass das Schattensängerkind hier gewesen und nun wieder fort war. Keiner von den Regenbogenrittern sollte vor der Zeit erfahren, dass das Balg weg war. Mochten sie so lange wie möglich annehmen, dass es bei Advon im Schulzimmer in guter Gesellschaft war. Und in Sicherheit.

Siledaú ärgerte sich im Nachhinein sehr darüber, dass sie die beiden Kinder überhaupt zusammengeführt hatte. Aber was hätte sie in der Eile anderes tun sollen? Immerhin hatte nicht einmal sie damit rechnen können, dass dieser Schwachkopf Cýelú zu blöd dazu war, ein magisches Werkzeug liegen zu lassen und stattdessen ein Kind zu verschleppen.

Zumindest war Advon dort, wo er war, sicher aufgehoben. Das Schloss, ihr Schloss, würde er nie im Leben überwinden können, und aus dem Turm herauszuklettern war absolut unmöglich. Es reichte, wenn sie ihn nach dem Besuch des alten sinor dort heraus ließ. Und danach war es auch völlig egal, was er seinen Eltern und den arcaval’ay erzählen würde. Die Hellen Magier hätten dann bald ganz andere Probleme zu lösen.

Ihre vor düsterer Vorfreude triefenden, sich selbst überschlagenden Gedanken kamen abrupt zum Halt. Wo waren die beiden, Cýelú und Elosál eigentlich, zusammen mit jenem Teil der Regenbogenritter, der gerade nicht dieser geflügelten Schindmähre nachjagte? Was war ihr entgangen?

„Weiß nicht genau”, sagte der Stallmeister, als sie ihn danach fragte. „Hat nichts drüber gesagt, die Meisterin. Keine Ahnung, wohin sie wollten. Es scheint etwas Geheimes gewesen zu sein, was keinen was anging.”

„Hast du wenigstens gesehen, in welche Richtung sie geflogen sind? Nach Aurópéa?”

„Ne. Gen Osten zwar, aber eher zur Wüste.”

Was? Bei den Mächten, was wollte das Pack dort? Siledaú runzelte die Stirn. War es bedenklich oder ein dummer Zufall?

„Sonst nichts?”

„Haben sie mit dir denn nicht geredet?”

„Nein. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit für die Narreteien von …” Sie runzelte die Stirn. Sie war nahe daran, unachtsam zu werden.

„Ich denke, sie hätten mich in Kenntnis gesetzt, wenn ich zugegen gewesen wäre”, sagte sie gestelzt. Oft brachte komplizierte Rede einfache Leute zum Schweigen. Ihn offenbar jedoch nicht.

„Die Meisterin hat ihre Zügel gesucht. Merkwürdige Sache. Muss nachher schauen, wo die Dinger abgeblieben sind. Reitet so selten aus, die Dame.” Er wuchtete einige Kisten übereinander und schob sie wieder in die Ecke. „Hat vielleicht der Junge durcheinander gebracht. Hab ihm kürzlich erlaubt, ‘n paar Geschirre zusammenzuschnallen, damit er’s lernt. Is’ mir nicht aufgefallen.”

„Merkwürdige Sache.”

„Werd’s wohl wiederfinden. Kann ja nicht verschwunden sein, das Lederzeug.”

Siledaú erlaubte sich ein dünnes Lächeln.

„Wenn die arcaval’ay den entsprungenen Gaul zurückbringen, kommt das verdammte Vieh augenblicklich wieder in Ketten”, verfügte sie. „Und wenn du den Jungen auch nur in der Nähe sehen solltest, setz ihn vor die Tür.”

Er nickte. Nach dem Warum zu fragen hatte er sich abgewöhnt. Siledaú dachte einen Augenblick nach und hatte dann einen noch viel besseren Einfall.

„Sobald die acavala’ay wieder hier sind”, sagte sie, „solltest du dir den Abend frei nehmen. Du hast heute gute Dienste geleistet.”

„Ich? Ich hab’n Einhorn entfliegen lassen!”

„Auf diesen Schreck solltest du dir ein wenig Zerstreuung gönnen.” Sie griff in ihre Tasche und hielt dem Unkundigen die Hand hin. „Geh nach Aurópéa. Genieße die Nacht. Und komm vor morgen früh nicht wieder.”

Er schaute irritiert auf. Als er keine Anstalten dazu machte, griff die Alte nach ihm und drückte ihm nachdrücklich drei Silbermünzen in die Hand. „Es ist in Ordnung.”

„Wofür ist das?”

„Für alles, was du möchtest. Wein. Rauschzeug. Sinnesfreuden.”

Nun starrte er sie an, als habe sie den Verstand verloren. Siledaú seufzte. Die beiden Idioten hätten keinen Herzschlag gezögert, das Geld und das Angebot anzunehmen. Der Mann hier, so schlicht er im Gemüt war, so redlich war sein Wesen.

„Es wird nicht dein Schaden sein”, sagte sie beiläufig, „wenn du an einem anderen Ort bist, wenn Úldaise Tiáramalé im Cielástel ist. Du solltest darüber nachdenken.”

***

Als Elosál und ihre Begleiter sich dem Cielástel näherten, wurden sie schon von weitem auf die die drei arcaval’ay aufmerksam, die in südlicher Richtung nahe der Burg über den Hügeln kreisten. Als diese sie ihrerseits bemerkten, schlossen sie sich in der Luft zu einem Schwarm zusammen. Die Reittiere der Dazugestoßenen waren nur notdürftig aufgezäumt und nicht einmal gesattelt, so als seien sie in großer Eile aufgebrochen.

„Was macht ihr hier?”, rief Cýelú ihnen über den rauschenden Schwingenschlag der nunmehr acht Tiere zu.

„Farbenspiel ist entsprungen!”

„Schon wieder?”

„Ist Advon etwa bei ihm?”, rief Elosál erschrocken aus.

„Nein. Scheint, er ist vor irgendetwas erschrocken und aus dem Stall geflüchtet, bevor er sich aufhalten ließ!”

Elosál atmete erleichtert auf. Dem Einhorn konnte nicht viel passieren. Mit dem Kind sah es anders aus. Doch so war es wohl kein unerlaubter Ausritt ihres Sohnes. Pataghíu sei gepriesen dafür. Anderenfalls wäre sie gewillt gewesen, einen Augenblick länger über die Prophezeiung nachzudenken.

„Und nun?”, fragte der Gelbe „Ist er entkommen?”

„Nein. Er muss irgendwo niedergegangen sein. Vom Himmel ist er verschwunden. Aber wir sehen ihn nicht.”

Nun blickten alle in die Tiefe, fächerten aus und suchten den Boden ab. Aber aus der Höhe war nicht viel zu entdecken, nicht solange das Tier sich möglicherweise unter Bäume begeben hatte, um in kühlendem Schatten zu bleiben.

Sie suchten eine Weile ohne viel Hoffnung. Farbenspiels in allen Nuancen des Regenbogens schimmerndes Fell war, aus der Höhe betrachtet, eine hervorragende Tarnung, schwer auszumachen, wenn das Licht ungünstig stand oder etwas den Blick hinderte.

„Wir haben keine Zeit, lange nach ihm zu suchen”, entschied Cýelú und versammelte die acaval’ay um sich. „Er wird nicht allzu weit davonfliegen, wenn niemand versucht, ihn zu lenken. Er weiß, wo sein Stall und seine Weide ist. Wo er sein Futter vorgesetzt bekommt.”

„Lasst uns die Einhörner auf die Weide bringen”, schlug der Orangene vor. „Da kann er die Herde sehen und sich ich wieder anschließen. Von außen kann er den Bann passieren.”

„Das ist eine gute Idee”, stimmte der Gelbe zu. „Es würde mich wundern, wenn er nicht in ein paar Gongschlägen wieder zurück wäre.”

„Und dann wird es langsam Zeit, uns auf unseren Besucher vorzubereiten”, sagte Elosál. „Wie seltsam, wie sich all das heute zusammenfügt.”

„Was habt ihr im Garten gefunden?”, erkundigte sich der Indigofarbene.

Sie schlugen nun den Weg zum Cielástel ein und berichteten dabei den Daheimgebliebenen, was sie an beunruhigenden Dingen in der Höhle vorgefunden hatten.

„Advon wird wohl sehr aufgeregt sein, wenn wir ihm davon berichten”, sagte Elosál.

„Sollten wir ihn beunruhigen?”, fragte der Rote.

„Er hat ein Anrecht darauf. Schließlich hat er die Höhle entdeckt.”

„Ob das kleine Schattensängermädchen etwas darüber weiß?”, überlegte der Grüne. „Immerhin ist es die Spur des Verfluchten, die hier deutlich zutage tritt.”

„Nein.” Cýelú schüttelte energisch den Kopf. „Das Kind hat keine Ahnung von dem, was seinesgleichen hier angerichtet hat. Und ich will nicht, dass jemand von euch es ohne Not damit konfrontiert, bevor wir klarer sehen.”

Die Rittern nickten. Elosál gab Cýelú einen Wink, und er ließ sich zwei Einhornlängen zurückfallen. Sonnenstrahl trabte nun an seine Seite.

„Du hast das Kind gern”, stellte sie fest.

„Ja. Es … wäre mir wohler, wenn die Kleine bei uns bleiben könnte. Ich denke ….”

„… es täte Advon gut, Gesellschaft zu haben?”

Er nickte. „Er ist so einsam.”

„Sie kann nicht bei uns bleiben, Cýelú. Sie gehört zurück in den Schatten. Was, wenn die Schwarzgewandeten Advon aus dem Tageslicht entführten?”

„Und wenn wir die beiden selbst fragten?”

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Cýelú. Du kannst ein nachtgeweihtes Wesen nicht unter die Sonne zerren. Im Cielástel würde sie verdorren. Sie würde vielleicht nicht klagen und es still ertragen. Aber es würde ihr nicht gut tun.”

Er zögerte. „Wenn es anders herum gewesen wäre”, fragte er, „wenn sie Advon zu sich geholt hätten …”

„Ich wäre, ohne zu zögern, in die Schatten hinabgestiegen, um ihn zu befreien. Und wenn ich dabei verblassen würde.” Sie lächelte ernst. „Ihre Eltern werden dasselbe tun. Wir müssen wachsam sein.”

Er nickte. „Ich bin bereit.”

Sie spornte Sonnenstrahl an, und auch er schloss wieder zu den anderen auf.

Unter ihnen, auf der Straße, bewegten sich Menschen von Westen nach Osten und auch in Richtung Aurópéa. Die Regenbogenritter achteten nicht darauf, nicht auf die Reiter und Wägen, nicht auf die Wanderer oder auf die zwei Männer mit dem Lastmaultier, die sich südöstlich hielten. Und nicht auf das Kind, das einen Schleichweg durch die Büsche nahm und aufblickte, als es des flüchtigen Regenbogens gewahr wurde, den die Spuren der Einhörner an den Himmel malten und den man nur sah, wenn die Rösser aller sieben arcaval’ay zugleich in der Luft waren.

***

Die Hitze, die mir entgegen wallte, verschlug mir den Atem. Es erinnerte mich ein bisschen an mein altes Leben, an das Gefühl, wenn man an einem Sommertag die Tür öffnete, um in ein geparktes Auto einzusteigen. Der plötzliche Temperaturunterschied erwischte mich so umfassend und unerwartet, dass ich befürchte, einen Kreislaufkollaps zu bekommen. Ich griff nach Yalomiro, um nicht umzufallen, aber er wankte selber und musste sich auf den Stab stützen. Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel aus dem Schloss und dann die Tür hinter uns zuzog.

Dann ließen wir beide uns auf den Boden sinken und blieben einen Moment sitzen. Ich fühle mich erschöpft wie nach einer immensen körperlichen Anstrengung, dabei waren wir nur einen einzigen Schritt gegangen. Mir lief Schweiß über Stirn und Rücken, eiskalt und irritierend in der Hitze.

Yalomiro ging es nicht anders, aber er schien besser damit umgehen zu können. Er hatte mich gewarnt, dass der Weg in den Cielástel beschwerlich sein konnte. Aber mit solchen Empfindungen hatte ich nicht gerechnet. Es war nicht wirklich schmerzhaft, aber extrem unangenehm.

Einen Moment war das so überwältigend, dass ich überhaupt nicht bewusst registrierte, wo wir waren. Erst nach einigen Atemzügen war ich so klar im Kopf, dass ich mich umschauen könnte.

„Das ist kein Stall”, sagte ich.

„Nein”, antwortete Yalomiro, strich sich schweißnasses Haar aus der Stirn und versuchte, aufzustehen. Er musste den Stuhl zur Hilfe nehmen, der neben ihm stand. „Aber es ist sicherlich der Cielástel. Der arcaval’ay ist hier. Oder zumindest sein Einhorn ist es.”

Ich rappelte mich ebenfalls auf. Die kleine Stube, in der wir standen, war aufgeheizt wie ein Backofen, und das, obwohl es ein offenes Fenster gab. Der Raum war offenbar ein Turmzimmer mit gewölbten Wänden und einer kuppelförmigen Decke. Es gab kaum Möbel, nur einen Tisch, zwei Stühle und ein paar Regale, in denen vereinzelt ein paar Bücher herumstanden und lagen. Das sah seltsam aus, so als seien die Bände stehen geblieben, während andere ringsum entfernt worden waren. Tisch und Stühle bestanden aus hellem, wie ausgebleicht wirkendem Holz und waren mit feinem Drechselwerk verziert. Auch die Regale wirkten merkwürdig elegant und leicht.

Besonders interessant war allerdings die Bausubstanz. Den Fußboden bildeten helle, alabasterartige Fliesen mit einem natürlichen Muster aus goldenen Adern. Die Wände bestanden nicht aus Mauersteinen. Stattdessen wirkten sie wie aus Glas gegossen, halb transparent und in allen denkbaren Farben schillernd, inklusive unübersehbaren Goldschlieren und Glitter darin. Hätte ich mich nicht so zusammenreißen müssen, ich hätte das sehr hübsch gefunden. Es sah so leicht und fröhlich aus.

Ich betrachtete all das einen Augenblick staunend und kam zu dem Urteil, dass dieses Gebäude nicht von Menschen erbaut worden sein konnte. Das hier war Magie. Vielleicht eine ähnliche Magie, die daheim eine riesige Kuppelhalle in die Mauern eines kleinen Häuschens platziert hatte.

Yalomiro schleppte sich zum Fenster, hielt sich dabei dicht bei der Wand und spähte vorsichtig heraus. Ich tat es ihm nach und sah, indem ich nach unten schaute, einen Teil eines Innenhofes und ein Stück Mauer darum herum, mit einem zinnenbewehrten Umlauf. Gegenüber erahnte ich den Schatten eines hoch aufragenden Gebäudes. Der Blickwinkel des Fensters war allerdings nicht besonders günstig. Der Raum schien vom Zentrum der eigentlichen Burg abgewandt zu sein, weg vom mittigen Turm.

Ich versuchte, mir das Wandgemälde aus Valvivant ins Gedächtnis zu rufen, doch alles, woran ich mich entsann, war diese grässliche Fratze, mit der der Künstler den Verfluchten dargestellt hatte. Vielleicht hatte der Maler damals dieses Gebäude nie mit eigenen Augen gesehen und deshalb eher unauffällig in den Hintergrund gerückt.

Ich strich mir Schweiß von der Stirn und warf einen Blick auf den beeindruckend blauen Himmel. Einige weiße Schönwetterwolken schmückten ihn wie fluffige Wattebäusche. Dann sah ich mich näher im Raum um.

„Was ist das hier?”

„Das Zimmer? Es sieht aus wie eine Bibliothek oder ein Studierzimmer.”

„Ein bisschen wenig Bücher für eine Bibliothek, oder?”

„Auf jeden Fall ist es die nächstliegende Tür gewesen, die der Weltenschlüssel erreichen konnte.” Yalomiro reichte mir das Werkzeug. Es war herrlich kühl, wie ein Eiswürfel. „Hier, häng ihn dir wieder um und gib gut acht darauf.”

Ich schlüpfte in das silberne Halskettchen und ließ den Schlüssel in meinen Ausschnitt gleiten. Das tat gut, war erfrischend.

„Wenn du Dýamirée bei dir hast”, ermahnte Yalomiro mich, „nehmt den Schlüssel, egal, was mit mir geschieht, und lauft. Ich werde mir zu helfen wissen. Ich werde von hier aus direkt nach Wijdlant weitereisen, um das Portal zu schließen. Ich verwandele mich in einen Vogel und fliege, so schnell ich kann. Mögen die Mächte geben, dass mein Zauber in der Burg noch lange genug hält.”

Er hatte mir in knappen Worten erklärt, was seiner Meinung nach vorgefallen war. Er hatte in Meister Gors altem Turmzimmer nach dem Rechten sehen wollen und die Magie des Raumes dazu genutzt, mit Asgaý von Spagor und Kíaná von Wijdlant zu reden und zugleich deren bewusste Erinnerung an den verstörenden Inhalt des Gespräches in deren Unterbewusstsein zu versiegeln. Was genau er ihnen erzählt hatte, wusste ich noch nicht – dazu war noch keine Zeit gewesen und er meinte, das wolle er mir in Ruhe erörtern, sobald wir Dýamirée wieder bei uns wussten. Just in diesem Moment hatte ihn mein Hilferuf erreicht, und er es in der Eile den Unkundigen überlassen, die Tür hinter sich zu schließen. Dieser Moment, so glaubte er nun, hatte ausgereicht, eine Verbindung zwischen dem Chaos, der Domäne des Widerwesens, und dem Weltenspiel zu schaffen. Mit Pianmurít, seiner eigenen Domäne, hatte Gor Lucegath damals einen Zwischenraum, einen Übergang zwischen der Welt des Widerwesens und der der Menschen errichtet und als Werkzeug dafür den Burgturm genutzt. Nun ergab es auch Sinn, dass wir damals in der Turmkammer zu uns gekommen waren, als Pianmurít zusammenstürzte. Der Turm mitsamt der verzerrten, surrealen Architektur von Wijdlant, war mit dem Chaos verknüpft gewesen, und es war Gor Lucegaths Magie gewesen, die dieses Konstrukt gestützt hatte. Aber der Sand im Schuh?

Nun, hatte Yalomiro gesagt, er habe sich lange genug im Turm aufgehalten, dass der erste Hauch des aufgestörten Chaos an ihm haften geblieben sei. Gespürt, gestand er, habe er es bereits im Montazíel, damals aber keinen Zusammenhang herstellen können.

Ich wusste, dass es müßig war, nun nähere Detailfragen zu stellen. Die unerträgliche Hitze tat ihr übriges dazu.

„Und was machen wir nun? Gehen wir endlich diesen Cýelú Irísolor und die fajía suchen?”

„Natürlich. Aber es wäre dumm, kopflos loszulaufen, Salghiára. Wir würden beide nicht einmal die Treppe bewältigen. Gib deiner maghiscal einen Moment Zeit, sich an diese Umgebung zu gewöhnen. Dýamirée ist nicht damit geholfen, wenn wir es überstürzen.”

„Wie lange wird das dauern?”

„Nicht lange. Es belastet uns so, weil wir hinein gesprungen sind wie in einen Kessel heißes Wasser, statt uns vorsichtig zu nähern. Hoffen wir, dass zwischenzeitlich niemand hier drinnen etwas zu tun hat.”

„Ob Dýamirée in Ordnung ist?”

„Sicher. Sie ist völlig unempfindlich gegen das Gold, das uns beiden gerade so zusetzt. Wenn sie hier irgendwo ist, kann sie sich ganz unbehelligt an Pataghíus Pracht erfreuen. All das bunte Glitzern und Glänzen sollte ein kleines Mädchen entzücken, nicht wahr?”

„Sicher. Als ich ein Kind war, mochte ich Glitzer sehr.”

Er lächelte und warf dann einen Blick auf das einsame Buch, das auf der Tischplatte lag. Dann runzelte er die Stirn und schlug es auf.

Ich schaute mir noch einen Moment die sonderbare Wand des Raumes und die Burgmauer an. Unten im Hof unter der gleißenden Sonne war niemand zu sehen, und es war auch sonderbar still.

„Wo sind denn all die Leute?”, fragte ich.

„Welche Leute?”

„Müsste es im Cielástel nicht nur so wimmeln von Leuten?”

„Nein. Setz dich, Salghiára. Dein Körper benötigt noch einen Augenblick. Es wird besser werden.”

Ich nahm mir einen der Stühle. Die Hitze blieb jedoch drückend und machte das Atmen schwer.

„Nein? Wieso nein?”

„Im Cielástel gibt es nur die Regenbogenritter. Und die fajía. Und den Goldenen. Das sind neun Personen.”

„Neun? Sie sind zu neunt?”

„Was hast du erwartet?”

„Aber … sind die anderen alle in den Chaoskriegen umgekommen?”

„Es sind viele von ihnen vernichtet worden, das ist richtig. Umgekommen sind vier der fajíaé. Vor den Chaoskriegen waren sie zu zwölft.

„Aber …”

„Salghiára, die arcavala’ay sind anders als die camat’ay. Es sind keine Menschen. In diesem Gebäude werden wir auf acht von ihnen und die fajía treffen. Das macht sie nicht weniger ernst zu nehmen.”

„Aber … neun? In einem so riesigen Gebäude?”

„Wir sind zu dritt im Etaímalon.”

„Wir waren einmal … mehr”, sagte ich und kam mir dabei sehr merkwürdig vor. Ich hatte außer Yalomiro und Arámaú keine anderen Schattensänger kennen gelernt, keine Ahnung davon, wie viele camata’ay einstmals in Noktámas Halle der Nacht versammelt gewesen waren. Mit Sicherheit waren es mehr als neun gewesen. Die Halle bot Platz für Hunderte von Schattensängern.

Er lächelte kurz. Mir war nicht ganz klar, warum. Dann schob er mir das Buch zu.

„Was ist das?”

„Das ist eine Abhandlung über die Geschichte der Chaoskriege. Geschrieben wohl von einem unkundigen forscor.” Er griff sich an den Kragen und fächelte sich mit dem lockeren Stoff seines Hemdes etwas Luft zu. „Offen auf dem Tisch liegend.”

„Und?”

„Warum sollten sie darüber lesen wollen? Sie waren dabei! Jeder einzelne von ihnen. Was der forscor schreibt, ist nur ein Bruchteil von dem, was sie wissen.”

„Vielleicht wollten sie wissen, wie die Unkundigen es erlebt haben?”

„Unwahrscheinlich. Dieses Buch an diesem Ort ist völlig sinnlos. Und umso interessanter.”

Yalomiro wandte sich den anderen Regalen zu, schlurfte mühsam hinüber und ließ seinen Blick über die Buchrücken wandern. Ab und zu zog er eines heraus, um den Titel lesen zu können oder schaute auch hinein. Das schien seine Aufmerksamkeit so sehr zu fesseln, dass die Erschöpfung nach und nach von ihm abfiel. Er war nach wie vor schweißgebadet, wurde aber immer munterer.

Ich überflog ein paar Zeilen aus dem Chaoskriegbuch, konnte mich aber kaum darauf konzentrieren. Ich blätterte ein paar Seiten um, fand zu meiner Überraschung handkolorierte Illustrationen, wohl die Wappen adliger Familien, die in den Kriegswirren eine Rolle gespielt hatten. Eines dieser Wappen fiel mir sofort ins Auge, denn ich hatte es oft und in den letzten Tagen noch öfter vor Augen gehabt. Ein stolzer Rehbock auf gelb-grünem Grund und daneben eine Liste von Namen und Zahlen. Ich fühlte Beklemmung, als ich begriff, dass dies Ahnen von Jóndere Moréaval waren. Ein nüchternes Verzeichnis von yarlay, die im Verlauf der langwährenden Chaoskriege ums Leben gekommen waren. Ich suchte nach weiteren mir bekannten Wappen und wurde fündig. Die Ähren auf gelben Grund. Die Widder, der ein Bäumchen attackierte. Fünf tote yarlay von Grootplen. Acht tote Herren von Altabete.

Ich blätterte weiter. Die Kletterblume an dem Baum. Vier gefallene Herren von Tjiergroen. Der rote Hase auf weißem Grund. Ich stutzte und zählte. Zwölf yarlay von Lebréoka, die in den vielen Wintern der Chaoskriege hinter die Träume gegangen waren?

Die nächste Seite. Das silberne Pferd auf blauem Feld. Die weißen Fische auf honiggelbem Grund. Namen, noch mehr Namen. Wer waren sie gewesen, die Herren Thágleý Althopian und Thorgar Emberbey? Ich erinnerte mich an die letzte Rede, die Gor Lucegath geführt hatte, bevor er sich von den sieben Rittern in Pianmurít hatte erschlagen lassen. Wahrhaftig. Aus jeder Familie waren tapfere Kämpfer hinter die Träume gegangen.

„Das ganze Weltenspiel ist in die Chaoskriege hineingezogen worden, nicht wahr?”, fragte ich leise. Und blickte auf die akribischen Listen neben den Wappen, auf all die vielen Bilder und Familiennamen, die ich nicht zuordnen konnte.

Yalomiro blickte von dem Buch auf, das er gerade studierte. Er sah, dass ich die bunten Wappen anschaute.

„Ja. Die Unkundigen haben alles gegeben, um die Chaosgeister vom Weltenspielbrett zu vertreiben.”

Ich riss mich von den Listen los. Was ich da sah, waren nur die Namen der Noblen, der Krieger, deren Existenz aufgrund politischer Notwendigkeit verbrieft und dokumentiert und die in dieser bedrückenden Aufstellung zusammengefasst waren. Wie viele namenlose Unkundige mochten hinter jedem dieser Namen versammelt sein? Und wie viele Frauen und Kinder? Alte Leute? Mein Blick fiel auf den kaputten Stab, den Yalomiro an seine Schulter gelehnt hatte, um das Buch festhalten zu können. Die Kälte, die in mir aufstieg, verdrängte die Hitze, die gegen meine maghiscal drückte.

„Begreifst du, welche Bedeutung dieses furchtbare Ding für die Regenbogenritter hat?”, fragte er sanft. „Welche Bedeutung es für die ganze Welt hatte?”

„Es war sicher im Etaímalon”, behauptete ich. „Warum wollen sie, dass es hervorgeholt wird?”

„Das werden wir bald wissen. Die fajía soll es haben. Sie soll mir sagen, was sie damit tun will.”

„Ist es nicht seltsam, Dýamirée einzutauschen gegen … das Ding?”

„Ein unschuldiges Kind mit eine makellosen Seele gegen das Werkzeug desjenigen, der das Weltenspiel zerschlagen wollte? Ja, das ist in der Tat sehr sonderbar und beunruhigend. Es steckt sicher eine sehr interessante Geschichte dahinter.” Er nahm den Stab und kam zu mir herüber.

„Ich habe mich geirrt”, sagte Yalomiro. „Es muss mindestens eine zehnte Person in dieser Burg geben.” Er legte das Buch aufgeschlagen auf das Geschichtsbuch. „Ein Kind.”

„Ein Kind? Wie kommst du …” Ich unterbrach mich, als ich auf die kunterbunt bebilderten Seiten mit der großen Schrift niederblickte.

Es war eine Fibel. Jemand hatte damit Lesen und Schreiben gelernt.