Yalomiro lehnte den Stab an die Wand, nahm etwas von dem Sand in die Hand und rieb ihn zwischen den Fingern. Seine Miene wechselte von irritierter Verwunderung hin zu intensivem Nachdenken und dann zu einer Besorgnis, die mich verängstigte.

„Was ist das?”, fragte ich bang.

„Ein Zeichen”, murmelte er. „Nein, eine Katastrophe. Bei den Mächten, ich habe doch geahnt, dass etwas missglückt sein muss.”

„Was ist das denn?”, wiederholte ich.

„Sand”, sagte er geistesabwesend.

„Und wie kommt der in deinen Schuh?”

„Die Frage ist, woher er kommt. Halt das mal.”

Er drückte mir Dýamirées Kuscheltier in die Hand, leerte auch seinen anderen Schuh aus und schlüpfte wieder hinein. Dann fegte er den Sand vom Boden zusammen in seine Handfläche und betrachtete ihn einen Moment lang bestürzt. Es war sehr feinkörniger und heller, fast weißer Sand. Vielleicht so viel, wie in einen kleinen Speisesalzstreuer für ein Frühstücksei gepasst hätte. Dennoch erschien mir die Menge zu groß, als dass Yalomiro die ganze Zeit damit herumgelaufen sein konnte, ohne dass es ihn gestört hätte.

Er sang und warf den Sand dann einfach in die Luft. Ein Silberschimmer legte sich um die Körner, so zart, dass ich ihn wahrscheinlich nur wahrnehmen konnte, weil es auf dem Korridor so dunkel war. Einen Moment lang sah es aus, als sei die kleine Sandwolke in der Luft erstarrt, aber tatsächlich sanken die Körnchen nur sehr, sehr langsam zu Boden, wie Partikel in einer Schneekugel. Bis auf einen erstaunlich großen Anteil, der augenblicklich auf die Steinfliesen hinab prasselte und im Widerschein der silbigen Magie in einer Farbe schimmerte, die ich lange Zeit nicht mehr gesehen hatte.

„Das ist Sand aus Soldesér”, sagte Yalomiro stirnrunzelnd.

„Wie kannst du das erkennen?”

Er deutete auf den Boden, auf die Körnchen, an denen sein Zauber einfach abgeprallt war. „An dem hohen Goldgehalt. Es wäscht dort in der Wüste aus wie im Norden das Salz ins Meerwasser.”

„Wie kommt Sand aus der Wüste in deine Schuhe? Ausgerechnet jetzt, da wir auf dem Weg nach Aurópéa sind?” Ich kniete nieder und war versucht, die Goldkörnchen anzufassen. Ich spürte, dass sie heiß waren, aber es war eine so geringe Menge, dass es sich lediglich anfühlte wie eine warme Kaffeetasse in meiner Hand. „Kann es sein, dass der Regenbogenritter sich damit in Erinnerung bringen will? Sowas wie ein Drohbrief?”

„Nein. Das ist etwas viel Ernsteres. Mein Meister Askýn hat einmal etwas Ähnliches erlebt. Haben wir einen Handfeger und ein Kehrblech im Haus, Salghiára?”

„Was?”

„Wir müssen diesen Sand restlos mitnehmen und wieder nach Soldesér bringen. Wenn etwas davon hier im Etaímalon zurückbleibt, könnte es … eindringen.”

„Was ist hier los, Yalomiro?”

„Ich hatte dir erzählt, dass es Stellen an den Grenzen des Chaos gibt, die durchlässig sind. Orte, von denen aus es möglich sein soll, unter sehr seltenen und unglücklichen Umständen aus dem Weltenspiel ins Chaos zu geraten.”

„Und?”

„Offenbar gerät gerade etwas aus dem Chaos ins Weltenspiel hinein. Es verzerrt die Wirklichkeit. Wir müssen schnell das Leck finden und schließen.”

Ich schaute verwirrt auf den Sand hinab. „Aber wir müssen doch Dýamirée retten!”

„Das tun wir auch, und zwar als allererstes”, beschwichtigte Yalomiro mich. „Aber wir dürfen nicht zulassen, dass das Chaos in den Etaímalon tropft. Hol du das Kehrblech. Ich suche eine Dose.”

Ich gab ihm das Stofftier zurück und eilte fort, ohne auf ihn zu warten. Dass sich der Sand nicht einfach zusammenzaubern ließ, war mir klar. Selbst Yalomiro konnte nichts beschwören, das Gold beinhaltete.

Als ich zurückkam, hatte Yalomiro eine kleine Dose aus reinem Silber aufgetrieben, worin er den Sand abschirmen konnte. Wir verbrachten viel zu viel kostbare Zeit damit, den gesamten Korridor auszufegen, damit uns kein Körnchen entging.

„Wie”, fragte ich ihn erneut, „ist Wüstensand in deinen Schuh geraten? Hat es etwas damit zu tun, dass du Moréaval diesen Wunschopal mitgegeben hast?”

„Ja”, sagte er einsilbig und rüttelte Sand, Dreck und Gold vorsichtig in die Dose hinein. Ich schaute ihn auffordernd an.

„Du hast ein schlechtes Gewissen deswegen”, unterstellte ich ihm dann. Und er widersprach nicht. Das machte die Sache noch gruseliger.

„Yalomiro”, fragte ich, „was hast du angestellt?”

Über seine Augen zuckte ein ertapptes Leuchten hinweg. Und mir wurde klar, dass ich gerade zu ihm gesprochen hatte wie ich es tat, wenn Dýamirée sich verdächtig benahm und ich nicht herausfand, ob etwas dahinter steckte, von dem ich wissen sollte.

„Ich glaube”, gestand er kleinlaut, „ich habe in Wijdlant einen Durchlass ins Chaos hinterlassen.”

„Du hast – was?”

„Aus Unachtsamkeit. Ich …” Er seufzte. „Ich hätte die Tür selbst wieder schließen sollen, anstatt einfach wegzurennen wie ein aufgescheuchtes Tier.”

„Was denn für eine Tür?”

„Gor Lucegaths Turm. Pianmurít. Verstehst du? Ein Korridor ins Chaos.”

***

„Und nun?”, fragte Láas.

„Dass ausgerechnet jetzt der teirand dazwischen patzt”, zürnte Jándris. Aber Tíjnje schlug sich auf die Seite ihrer teirandanja.

„Was soll sie denn machen!”, sagte das kleine Mädchen. „Wann ihr Papa sagt, sie soll mitkommen, dann muss sie eben mitgehen. Ich mache auch fast immer das, was mein Papa sagt.”

„Fast?”

Tíjnje zuckte die Achseln.

„Jedenfalls können wir kaum mit ihnen in die Halle gehen und ihr erzählen, dass Tíjnje den Schmuck geklaut hat.”

Ausgeborgt. Wenn wir nichts kaputtmachen und schnell zurückbringen, bemerkt Mama nicht, dass er weg ist. Ich hab die Schatulle stehen lassen.”

„Das war eine sehr kluge Idee, Tíjnje”, lobte Osse, der insgeheim verstört darüber war, dass das Kind sich so ungeniert an der Habe der Mutter bedient hatte. „Aber du hättest sie um Erlaubnis fragen sollen.”

„Dann hätte ich es nicht bekommen. Mama lässt mich nie mit ihrem Geschmeide spielen. Damit ich es nicht verbummle.”

„Es ist doch jetzt ohnehin nicht zu ändern”, sagte Láas düster. „Und in den Turm kommen wir auch nicht mehr hinein.”

Er deutete mit dem Kinn hinüber, hin zu yarl Emberbey, der im immer heftiger strömenden Regen im Eingang des Turmes stand und den Hof scharf im Auge behielt. Gerade machte er Platz für yarl Grootplen, der irgendwelche sperrigen Werkzeuge herbeibrachte. Wenn man genau hinhörte, schallten auch Geräusche am Regen vorbei durch den nun fast verwaisten Innenhof. Wären wie üblich mehr Menschen hier mit ihrem Tagwerk beschäftigt gewesen, wäre das Hämmern vielleicht untergegangen.

„Immerhin scheinen sie entweder von allein darauf gekommen zu sein, dass das Wiegenkind im Turmverlies sitzt, oder Manjév hat getratscht.” Jándris war sichtlich empört über diese Möglichkeit.

„Hat sie nicht”, gestand Osse. „Sein Vater wusste zuerst davon.”

„Wie? Von wem?”

„Von mir. Er hat mich gebeten, Herrn Waýreth in aller Verschwiegenheit Bescheid zu sagen.”

„Du hast am Willen deiner teirandanja vorbei gepetzt?”, grollte Láas und tat einen drohenden Schritt auf ihn zu.

„Vor der teiranda habe ich geschwiegen.”

„Das ist doch jetzt fast alles egal. Die werden da oben die Tür auch nicht aus dem Weg bekommen, wenn sie darauf einhämmern mit ihren Äxten. Soweit waren wir schon heute Nacht!”

„Wir müssen ihnen das mit dem Gold sagen”, meinte Tíjnje.

„Und zugeben, dass wir bis zum Hals in dieser verfluchten Sache drinnen hängen?”

„Nein.” Osse nahm dem Mädchen den Teller aus der Hand, wo der kostbare Damenschmuck unter den kalten Pfannkuchen versteckt war. „Ihr hängt nirgends mit drinnen. Ich werde gehen und es ihnen sagen.”

Die beiden anderen Jungen schauten ihn misstrauisch an. Aber er gab ihnen keine Zeit, ihn zu unterbrechen.

„Mein Vater wird mich passieren lassen. Herr Waýreth weiß, dass ich eingeweiht bin.”

„Wie erklärst du, wo du das Geschmeide her hast?”

„Muss er nicht”, sagte Tíjnje und nahm energisch den Teller zurück. „Ich komme mit und sage Opa, dass er es Mama nicht weitersagen soll.”

„Das möchte ich nicht, Tíjnje. Du sollst dich nicht in Schwierigkeiten bringen”, sagte Láas.

„Ja, genau. Du hast von uns allen die geringste Schuld an dem, was geschah”, schloss Jándris sich an.

„Mama und Papa sagen, man muss immer ehrlich sein. Und die opayra meint das auch.”

„Ich komme mit”, entschloss Jándris sich. „Ich werde sagen, dass ich von der Tür wusste und dem Wiegenkind eines auswischen wollte. Wegen der Geschichte mit dem Besen.”

Láas schaute verwirrt von einem zum anderen.

„Du musst nichts damit zu tun haben, Láas”, fügte Jándris hinzu. „Ich kann ganz für mich allein Unfug treiben.”

Der Junge schnaufte unwillig. „So siehst du aus. Soll es denn aussehen, als hätte ich Angst vor dem Wiegenkind? Nur eine Sache.” Er warf den jüngeren Kindern einen ermahnenden Blick zu. „Die teirandanja bleibt außen vor. Wir werden jeder einzelne eine Menge Ärger bekommen. Jeder trägt es für sich. Niemand erwähnt diesen Brief. Weder, dass er ihn gelesen noch irgendwann in Händen hatte.”

„Wer hat diesen Brief zurzeit?”, fragte Osse.

„Ich. Ich werde mich hüten, ihn nochmal irgendwo rumliegen zu lassen.” Jándris klopfte auf seine Gürteltasche.

„Sollten wir ihn dann nicht gleich ganz verschwinden lassen?”, fragte Osse.

Die anderen wechselten Blicke miteinander. Dann nickten sie.

Die Köchin in der Burgküche wunderte sich kurz darauf sehr, als die vier Kinder, klatschnass und mit Unschuldsmienen den Raum betraten. Dass Tíjnje immer noch die kalten Pfannkuchen mit sich herumschleppte, erschien ihr seltsam, aber Jándris Altabete schwärmte ihr so charmant von dem köstlichen Kohlgemüse am Vortag vor und lobte ihre Kochkunst in hohen Tönen. Das machte die getreue Frau ganz verlegen und lenkte sie lange genug an von ihrer Kochstelle ab, dass Láas das Küchenfeuer unbemerkt mit einem kleinen Stück Papier füttern konnte.

***

Advon rannte durch den Cielástel, so schnell seine Füße ihn trugen. Er dufte nun keinen Fehler machen und nichts vergessen.

Zunächst die Vorratskammer. Die arcaval’ay und Elosál mussten niemals etwas essen, aber er selbst benötigte Nahrung, um sich zu erhalten. Und auch der Vater gab nach alter Gewohnheit seinen körperlichen Bedürfnissen nach, hin und wieder zumindest. Aus diesem Grund gab es im Cielástel, im kühlen Keller, einen Raum, in dem Vorräte lagerten. Wahrscheinlich bediente sich auch Siledaú ab und zu hier, auch wenn Advon bei näherem Nachdenken zugeben musste, dass er die Alte noch niemals etwas hatte essen sehen. Tatsächlich. Kein einziges Mal.

Advon packte einen leeren Beutel, der in einem der Regale zusammen mit anderen Behältnissen lag, und raffte zusammen, was er an Früchtebrot, Keksen aus dunklem Mehl und gedörrtem Gemüse zu packen bekam. Trockenes Essen, das in der Sonne nicht verderben würde.

Und Wasser! Das bekam er ebenfalls unten in der Burg, in der Zisterne, in der Regenwasser von der Oberfläche und Grundwasser zusammen floss, das sich den Weg in die Wüste bahnte. Ein großer Trinkschlauch lag ebenfalls parat. Natürlich nicht zufällig. Vor langer Zeit schon hatte Advon diese Dinge unauffällig hier beieinander platziert. Genaugenommen, an jenem Tag, an dem ihm klar geworden war, dass er irgendwann vor Siledaú weglaufen und in die Wüste flüchten würde. Heute war der Tag gekommen, an dem sich das auszahlen würde.

Hatte sie seine Flucht bereits bemerkt? Hatte sie schon den Turm betreten, um ihn abzufragen, und gesehen, dass er das Schloss geknackt hatte, wie ein unkundiger Einbrecher?

Advon füllte seinen Trinkschlauch und dachte fieberhaft nach. Was ihm jetzt noch zu tun blieb, war, irgendwie die Burg zu verlassen, bevor Siledaú es verhindern konnte. Die Gelegenheit war günstig, günstiger, als sie noch werden könnte. Nur ein einziger arcaval’ay war zurückgeblieben. Er bewachte das einzige Tor, das vom Innenhof des Cielástel nach außen führte. Die Regenbogenritter hatten nie mehr als dieses eine Tor gebraucht. Mit ihren Rössern konnten sie die Burgmauer nach allen Seiten überwinden.

Wenn es ihm nur gelang, den Wächter für einen Moment von seinem Posten zu locken …

Aber … musste er das wirklich? Wäre das nicht viel zu verdächtig?

Der Junge dachte nach. Dann entschloss er sich zu einem Wagnis.

Kurz darauf schlenderte er auf den blauen Regenbogenritter zu; jenen, der die Hatz auf Farbenspiel nicht mitmachen konnte, weil er sein Einhorn an den Vater verliehen hatte, damit Perlenglanz ruhen konnte.

„Sind hier gerade zwei Männer mit einem Maultier gewesen?”, fragte er.

Der Blaue nickte. „Es scheint, dass sie für Siledaú etwas erledigt haben. Sie hatten ein Schreiben dabei, dass sie ein paar von ihren Habseligkeiten nach Aurópéa bringen sollten.”

„Ach so.” Advon tat gelangweilt. „Und wo sind die anderen alle hin?”

„Deine Eltern sind mit einigen unterwegs, um die Brandstelle in sinor Úldaises Garten zu besichtigen”, gab der Blaue bereitwillig Auskunft. „Sie werden bald wieder hier sein. Und die anderen …” Er zögerte, entschied dann aber wohl, dass die Sache nicht allzu tragisch sei. „Advon, dein Farbenspiel ist ausgerissen.”

„Was?”, tat Advon so überrascht, wie er nur konnte. „Wie konnte das passieren?”

„Vermutlich war die Tür seines Käfigs nicht sorgfältig verschlossen.” Der Ritter lächelte beruhigend. „Die anderen fangen ihn ein. Wenn er nicht ohnehin freiwillig zurückkommt.”

„Na, hoffentlich landet er nicht im Weingarten von diesem unfreundlichen Unkundigen und frisst die Rebstöcke leer.”

Der Blaue grinste. Dann besann er sich und fragte: „Was machst du mit dem Korb?”

„Korb? Ach, der Korb. Siledaú will, dass die Männer das hier auch noch mitnehmen. Ob ich die beiden noch einhole?”

Der arcaval’ay runzelte die Stirn. „Sie will, dass du diesen komischen Vögeln etwas nachträgst?”

„Meinst du, ich kann sie einholen?”, beharrte Advon. Noch einmal lügen dufte er nicht. Wenn er den Blauen glatt anlog, würde der es bemerken. Er musste ihm ausweichen, so gut es ging.

„Sicher. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben. Aber ich denke, deine Eltern hätten einiges einzuwenden, wenn du allein den Cielástel verließest.”

„Aber ich komme doch sofort wieder zurück. Oder willst du ihnen den Korb nachtragen?”

Der Blaue zögerte. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn er diesen kleinen Auftrag erledigt hätte. Aber das hätte bedeutet, dass kein einziger arcaval’ay im Cielástel zurückgeblieben wäre; etwas, das nur in absoluten Notfällen geschehen durfte.

„Ich bin sofort wieder da”, sagte Advon. „Ich laufe einfach den Hügel hinunter und hole sie ganz schnell auf der Straße ein.”

„Es reicht, wenn dein Einhorn sich selbständig macht.”

„Mir passiert nichts, und ich mache auch ganz schnell! Ich will doch zurück sein, wenn Papa, Mama und die anderen zurückkommen. Ich will wissen, was sie im Garten gefunden haben.” Er zog eine Schnute und fügte hinzu: „Ich wäre so gern selbst dabei gewesen. Immerhin hatte ich die Höhle gefunden.”

„Ich weiß nicht …”

„Und Siledaús Zeug soll doch aus dem Cielástel heraus, oder? Damit Mama wieder Ruhe hat.”

Der Blaue wog noch einen Moment das Für und Wider ab. Dann machte er den Weg frei. „Tu, was sie dir aufgetragen hat. Aber dann kommst du augenblicklich wieder zurück, hast du verstanden?”

„Ich habe verstanden”, bestätigte der Junge. Dass er sich daran halten würde, das versprach er nicht.

„Sie sind unterwegs nach Aurópéa”, erklärte der Ritter. „Immer geradeaus.”

„Ich danke dir!” Advon schulterte den Korb und lief an dem Blauen vorbei über die Brücke. In Gedanken bat er die Mächte um Vergebung und hoffte, dass die Eltern den gutmütigen Magier nicht zu sehr schelten würden. Solange er den wachsamen Blick des Ritters noch auf sich liegen spürte, hielt er sich an den Pfad, der den Hügel vom Cielástel hinabführte und dann an dessen Fuß einen Schlenker nach Norden machte.

Kaum dass der Weg nicht mehr vom Tor aus einzusehen war, packte Advon Trinkschlauch und Beutel aus dem Korb heraus, versteckte ihn in den Dornbeerbüschen und schlug eilig den Weg zu den alten Gärten der Feen ein.

***

Farbenspiel wartete. Das war keine einfache Aufgabe für ein feuriges junges Einhorn, aber sein kleiner Mensch wollte es so. Immer, wenn der Junge mit ihm die Enge des goldenen Käfigs verlassen hatte und die Barrieren, die die Ritter mit Magie über die Weiden in den Gärten der Feen gespannt hatten, hatte der kleine Mensch ihn an diesen Ort gelenkt. Hier waren ein paar hohe Bäume mit dichten Kronen und harten, ledrigen Blättern; ein Wäldchen auf halber Strecke zwischen den alten Feengärten und der Burg, gar nicht weit entfernt davon. Es führte kein direkter Weg daran vorbei, sodass es unwahrscheinlich war, dass ihn Menschenwesen hier entdecken würden. Und solange er unter den Baumwipfeln verborgen blieb, würden ihn die anderen nicht sehen, wenn sie in der Luft über ihm kreisten, so wie sie es gerade taten.

Farbenspiel hatte sich niedergelegt und die Flügel eng an den Körper gefaltet. Sein vielfarbiges, opalisierendes Fell verschwamm mit dem Lichterspiel in den Blättern, solange er sich nicht bewegte. Wäre sein Fell so einfarbig strahlend gewesen wie das der Rösser der Ritter, das Versteck hätte nichts getaugt.

Der kleine Mensch hatte ihn mehr als einmal an diesen Ort geführt, beinahe jedes Mal, wenn sie sich unerlaubt an dem großen Menschen vorbei aus der Burg oder von der Weide geschlichen hatten. Farbenspiel verband mit diesem Ort besondere Köstlichkeiten, die das Kind ihm zugesteckt hatte und die es im Stall nie gegeben hatte. Das Einhorn war überzeugt davon, dass er hier die Leckereien bekommen würde, wenn er nur lange genug darauf wartete. Sein kleiner Mensch würde kommen und ihn damit fürs Warten belohnen.

Farbenspiel schnaubte. Die anderen waren über ihm. Die Artgenossen, die Vertrauten. Sie hatten einander eine Weile über den Himmel gejagt, der junge Hengst übermütig, die anderen pflichtbewusst unter dem Willen ihrer Reiter. Anfangs, ja, da war Farbenspiel erschrocken gewesen, dieser Lärm, diese Dinge, die ihm entgegengestürzt waren. Ehe er es sich versehen hatte, war er im Freien und am Himmel gewesen, in der herrlichen Weite ohne Zügel und Zaum, dort, wo ein Einhorn frei rennen und den Wind unter den Flügeln spüren konnte. Das hatte dem Tier gefallen, und eine Weile hatte es übermütig mit den beiden anderen Haschen gespielt, über und unter und durch die Schönwetterwolken hindurch, die von Norden herankamen und den vergänglichen Duft von Wasser mit sich brachten.

Dann war Farbenspiel das Kind wieder eingefallen, das fremde Kind, das die alte Menschenfrau wie ihn in einen Käfig gesperrt hatte und das ihm den süßen Kuchen zugeworfen hatte. Es war von ähnlicher Art wie sein kleiner Mensch. Den, mit dem zusammen er diesen Ort so oft für Köstliches aufgesucht hatte. Oft waren die anderen Einhörner über ihnen gekreist, ohne sie hier zu finden. Manchmal hatte man wohl nicht bemerkt, dass er und das Kind sich die Freiheit genommen hatten.

Farbenspiel gähnte, bleckte seine messerscharfenm Fänge und streckte den Kopf im dürren Gebüsch aus. Es lohnte sich, zu warten. Und wenn der Junge nicht kam, würde er später einfach in den vertrauten Stall zurücktraben. Zu den anderen, zu Futter, Wasser und den lästigen Ketten, die man ihm wahrscheinlich wieder anlegen würde. Nun, alleine dafür lohnte es sich, die Freiheit etwas länger auszukosten.

Sie kreisten über ihm, sie riefen seinen Namen. Aber sie bewegten sich mit jedem Zirkel ein bisschen weiter westwärts, dahin, wo die Wolken waren und sich bald wohl zusammenballen würden. Noch war es nicht so weit. Aber Farbenspiel konnte es spüren. Spätestens am Abend würde der Sturm da sein. Kein Einhorn wagte es, im Sturm zu fliegen.